Language of document : ECLI:EU:C:2023:364

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

27. April 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 9 und 15 – Aufrechterhaltung der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes nach dem Umzug – Begriff ‚Umzug‘ – Antrag auf Änderung einer Entscheidung über das Umgangsrecht – Berechnung der Frist für die Stellung eines solchen Antrags – Verweisung des Falls an ein Gericht des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, das den Fall besser beurteilen kann“

In der Rechtssache C‑372/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg, Luxemburg) mit Entscheidung vom 8. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Juni 2022, in dem Verfahren

CM

gegen

DN

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Noë und W. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 und Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen CM und DN über das Umgangsrecht mit ihren minderjährigen Kindern.

 Verordnung Nr. 2201/2003

3        Die Erwägungsgründe 12, 13 und 33 der Verordnung Nr. 2201/2003 lauten:

„(12)      Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein[,] außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

(13)      Nach dieser Verordnung kann das zuständige Gericht den Fall im Interesse des Kindes ausnahmsweise und unter bestimmten Umständen an das Gericht eines anderen Mitgliedstaats verweisen, wenn dieses den Fall besser beurteilen kann. Allerdings sollte das später angerufene Gericht nicht befugt sein, die Sache an ein drittes Gericht weiterzuverweisen.

(33)      Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Art. 24 der [Charta der Grundrechte] der Europäischen Union zu gewährleisten.“

4        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

7.      ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

9.      ‚Sorgerecht‘ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes;

10.      ‚Umgangsrecht‘ insbesondere das Recht, das Kind für eine begrenzte Zeit an einen anderen Ort als seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort zu bringen;

…“

5        Die Verordnung Nr. 2201/2003 enthält ein Kapitel II („Zuständigkeit“), das in Abschnitt 2 („Elterliche Verantwortung“) die Art. 8 bis 15 dieser Verordnung umfasst.

6        Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor:

„(1)      Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)      Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“

7        Art. 9 („Aufrechterhaltung der Zuständigkeit des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes“) der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„(1)      Beim rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen, durch den es dort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, verbleibt abweichend von Artikel 8 die Zuständigkeit für eine Änderung einer vor dem Umzug des Kindes in diesem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung über das Umgangsrecht während einer Dauer von drei Monaten nach dem Umzug bei den Gerichten des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, wenn sich der laut der Entscheidung über das Umgangsrecht umgangsberechtigte Elternteil weiterhin gewöhnlich in dem Mitgliedstaat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes aufhält.

(2)      Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der umgangsberechtigte Elternteil im Sinne des Absatzes 1 die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes dadurch anerkannt hat, dass er sich an Verfahren vor diesen Gerichten beteiligt, ohne ihre Zuständigkeit anzufechten.“

8        Art. 15 („Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1)      In Ausnahmefällen und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann,

a)      die Prüfung des Falls oder des betreffenden Teils des Falls aussetzen und die Parteien einladen, beim Gericht dieses anderen Mitgliedstaats einen Antrag gemäß Absatz 4 zu stellen, oder

b)      ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen, sich gemäß Absatz 5 für zuständig zu erklären.

(2)      Absatz 1 findet Anwendung

a)      auf Antrag einer der Parteien oder

b)      von Amts wegen oder

c)      auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung gemäß Absatz 3 hat.

Die Verweisung von Amts wegen oder auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats erfolgt jedoch nur, wenn mindestens eine der Parteien ihr zustimmt.

(3)      Es wird davon ausgegangen, dass das Kind eine besondere Bindung im Sinne des Absatzes 1 zu dem Mitgliedstaat hat, wenn

a)      nach Anrufung des Gerichts im Sinne des Absatzes 1 das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erworben hat oder

b)      das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hatte oder

c)      das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt oder

d)      ein Träger der elterlichen Verantwortung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hat oder

e)      die Streitsache Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung oder der Erhaltung des Vermögens des Kindes oder der Verfügung über dieses Vermögen betrifft und sich dieses Vermögen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet.

(4)      Das Gericht des Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, setzt eine Frist, innerhalb deren die Gerichte des anderen Mitgliedstaats gemäß Absatz 1 angerufen werden müssen.

Werden die Gerichte innerhalb dieser Frist nicht angerufen, so ist das befasste Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(5)      Diese Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats können sich, wenn dies aufgrund der besonderen Umstände des Falls dem Wohl des Kindes entspricht, innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Anrufung gemäß Absatz 1 Buchstabe a) oder b) für zuständig erklären. In diesem Fall erklärt sich das zuerst angerufene Gericht für unzuständig. Anderenfalls ist das zuerst angerufene Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(6)      Die Gerichte arbeiten für die Zwecke dieses Artikels entweder direkt oder über die nach Artikel 53 bestimmten Zentralen Behörden zusammen.“

9        Art. 19 („Rechtshängigkeit und abhängige Verfahren“) Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor:

„Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10      CM ist der Vater und DN die Mutter von zwei 2009 bzw. 2010 geborenen minderjährigen Kindern. Die Familie wohnte vor ihrem Umzug nach Luxemburg im Jahr 2015 im Großraum Paris (Frankreich).

11      Mit Urteil vom 12. Juni 2020 legte der für Familiensachen zuständige Richter des Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg, Luxemburg) den gesetzlichen Wohnsitz und den gewöhnlichen Aufenthalt dieser Kinder bei ihrer Mutter in Frankreich mit auf den 31. August 2020 aufgeschobener Wirkung fest, um insbesondere dem Interesse der Kinder Rechnung zu tragen, ihr Schuljahr in Luxemburg abzuschließen. Ihrem weiterhin in Luxemburg wohnhaften Vater gewährte dieses Gericht mit dem Urteil ebenfalls mit Wirkung vom 31. August 2020 ihnen gegenüber ein an bestimmte Modalitäten geknüpftes Umgangs- und Unterbringungsrecht.

12      Die Mutter und die betroffenen minderjährigen Kinder vollzogen den tatsächlichen Umzug nach Frankreich am 30. August 2020.

13      Am 14. Oktober 2020 stellte der Vater beim Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg) einen Antrag auf Änderung der Modalitäten seines Umgangs- und Unterbringungsrechts.

14      Da die Mutter bereits sechs Tage vor dem vom Vater beim Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg) gestellten Antrag beim für Familiensachen zuständigen Richter des Tribunal judiciaire de Nanterre (Gericht erster Instanz Nanterre, Frankreich) einen Antrag mit ähnlichem Gegenstand eingereicht hatte, setzte das Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg) mit Urteil vom 1. Dezember 2020 das Verfahren gemäß Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 bis zur Entscheidung des französischen Gerichts über seine internationale Zuständigkeit aus.

15      Mit Urteil vom 17. September 2021 erklärte sich das Tribunal judiciaire de Nanterre (Gericht erster Instanz Nanterre) für die Entscheidung über den Antrag der Mutter für unzuständig und begründete dies im Wesentlichen damit, dass der Vater seinen Antrag gemäß Art. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 innerhalb der Frist von drei Monaten nach dem rechtmäßigen Umzug der betroffenen minderjährigen Kinder beim Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg) gestellt habe und keineswegs die Zuständigkeit der französischen Gerichte anerkannt habe.

16      Mit Urteil vom 3. März 2022 wies die Cour d’appel de Versailles (Berufungsgericht Versailles, Frankreich) die von der Mutter gegen dieses Urteil eingelegte Berufung zurück.

17      In seinem Vorabentscheidungsersuchen wirft das Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg) als Erstes die Frage nach seiner Zuständigkeit im Sinne von Art. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 auf. Hierzu weist dieses Gericht darauf hin, dass der Antrag des Vaters auf Änderung der Modalitäten seines Umgangs- und Unterbringungsrechts weniger als drei Monate nach dem tatsächlichen Umzug der betroffenen minderjährigen Kinder gestellt worden sei; die Einreichung des Antrags sei allerdings mehr als vier Monate nach der Verkündung des Urteils vom 12. Juni 2020, mit dem dieser Umzug beschlossen worden sei, erfolgt, und dieses Urteil sei, da mittlerweile endgültig, rechtskräftig geworden. Sofern auf diesen Zeitpunkt abzustellen sei, habe sich das vorlegende Gericht daher für die Entscheidung über diesen Antrag für unzuständig zu erklären.

18      Als Zweites fragt sich das vorlegende Gericht nach dem Verhältnis zwischen Art. 9 und Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003. Obgleich in Anbetracht der Umstände des Ausgangsrechtsstreits zwei der Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 15 offenbar vorlägen, sei im Licht sowohl der Erklärungen des Vaters zur Vorrangigkeit der Bestimmungen von Art. 9 vor denen von Art. 15 als auch des Urteils vom 4. Oktober 2018, IQ (C‑478/17, EU:C:2018:812), zweifelhaft, ob es sich in diesem Rechtsstreit zugunsten der französischen Gerichte für unzuständig erklären könne.

19      Unter diesen Umständen hat das Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003

a)      auf eine auf Änderung eines Umgangsrechts im Sinne von Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung gerichtete Klage des Elternteils anwendbar, der aufgrund einer zum Wohl der Kinder mit aufgeschobener Wirkung versehenen, aber rechtskräftigen Gerichtsentscheidung umgangsberechtigt ist, die im Mitgliedstaat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts der Kinder mehr als vier Monate vor der Anrufung nach Art. 9 Abs. 1 dieser Verordnung ergangen ist,

b)      und dies im Verhältnis zur grundsätzlichen Zuständigkeit gemäß Art. 8 der Verordnung ausschließlich,

obwohl der zwölfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 besagt, dass „[d]ie in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet [wurden]. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat …“?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird: Steht die so bestehende Zuständigkeit nach Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003, die „abweichend von Art. 8“ der Verordnung gilt, der Anwendung von Art. 15 der Verordnung entgegen, die „[i]n Ausnahmefällen“ und „sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht“ vorgesehen ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

20      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass für den Beginn der Dauer von drei Monaten, während der die Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes abweichend von Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung für die Entscheidung über einen Antrag auf Änderung einer endgültigen Entscheidung über das Umgangsrecht zuständig bleiben, auf den Tag nach dem tatsächlichen Umzug des Kindes oder vielmehr auf den Tag nach der gerichtlichen Entscheidung, mit der der Zeitpunkt der Änderung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes festgelegt wurde, abzustellen ist.

21      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass, wie aus dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 hervorgeht, diese mit dem Ziel erlassen wurde, dem Wohl des Kindes zu entsprechen, weshalb sie dem Kriterium der räumlichen Nähe den Vorzug gibt. Der Gesetzgeber der Europäischen Union war nämlich der Auffassung, dass das in geografischer Nähe zum gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes gelegene Gericht die im Interesse des Kindes anzuordnenden Maßnahmen am besten beurteilen kann. Nach diesem Erwägungsgrund sollte die Zuständigkeit vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein, außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben (Urteil vom 15. Februar 2017, W und V, C‑499/15, EU:C:2017:118, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 setzt dieses Ziel um, indem er für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, eine allgemeine Zuständigkeitsregel zugunsten der Gerichte des Mitgliedstaats aufstellt, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Denn wegen ihrer räumlichen Nähe sind diese Gerichte im Allgemeinen am besten in der Lage, die zum Wohl des Kindes zu erlassenden Maßnahmen zu beurteilen (Urteil vom 14. Juli 2022, CC [Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in einen Drittstaat], C‑572/21, EU:C:2022:562, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Jedoch findet gemäß Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung die in Art. 8 Abs. 1 genannte Zuständigkeitsregel vorbehaltlich u. a. von Art. 9 der Verordnung Anwendung.

24      Nach Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 verbleibt beim rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen, durch den es dort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, abweichend von Art. 8 dieser Verordnung die Zuständigkeit für eine Änderung einer vor dem Umzug des Kindes in diesem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung über das Umgangsrecht während einer Dauer von drei Monaten nach dem Umzug bei den Gerichten des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, wenn sich der laut dieser Entscheidung umgangsberechtigte Elternteil im Einklang mit dieser Entscheidung weiterhin gewöhnlich in dem Mitgliedstaat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes aufhält.

25      Art. 9 Abs. 2 stellt klar, dass die Aufrechterhaltung der in Art. 9 Abs. 1 vorgesehenen Zuständigkeit nicht gilt, wenn der umgangsberechtigte Elternteil die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes dadurch anerkannt hat, dass er sich an Verfahren vor diesen Gerichten beteiligt, ohne ihre Zuständigkeit anzufechten.

26      Somit macht Art. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 seinem Wortlaut nach die Aufrechterhaltung der Zuständigkeit betreffend das Umgangsrecht bei den Gerichten des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes davon abhängig, dass fünf kumulative Voraussetzungen erfüllt sind.

27      Die erste Voraussetzung verlangt, dass das betroffene Kind „rechtmäßig“ umgezogen ist und in dem Mitgliedstaat, in den es umgezogen ist, einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat. Nach der zweiten Voraussetzung müssen die Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts dieses Kindes vor dessen Umzug eine Entscheidung über das Umgangsrecht mit diesem Kind getroffen haben. Die dritte Voraussetzung erfordert, dass der umgangsberechtigte Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin im Mitgliedstaat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts dieses Kindes hat. Gemäß der vierten Voraussetzung müssen die Gerichte jenes Mitgliedstaats während einer Dauer von drei Monaten „nach dem Umzug“ des betroffenen Kindes mit einem Antrag auf Abänderung der ersten Entscheidung über das Umgangsrecht, die sie vor dem Umzug getroffen haben, befasst worden sein. Nach der fünften und letzten Voraussetzung darf der umgangsberechtigte Elternteil die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes nicht anerkannt haben.

28      Aus der Begründung des Vorabentscheidungsersuchens geht hervor, dass das vorlegende Gericht lediglich Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Wendung „nach dem Umzug“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 hegt. Es fragt sich, ob der in dieser Bestimmung vorgesehene Zeitraum von drei Monaten am Tag nach dem tatsächlichen Umzug der betroffenen Kinder beginnt, d. h. im vorliegenden Fall am 30. August 2020, oder am Tag nach dem Erlass der gerichtlichen Entscheidung, mit der der Zeitpunkt der Änderung des gewöhnlichen Aufenthalts dieser Kinder festgelegt und deren Wirkung aufgeschoben wurde, d. h. im vorliegenden Fall am 12. Juni 2020.

29      Aus dem klaren Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber die Zuständigkeit der Gerichte des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes auf der Grundlage dieses Artikels auf eine Dauer von drei Monaten nach dem körperlichen Verbringen des betreffenden Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen, um dort den neuen gewöhnlichen Aufenthalt dieses Kindes zu begründen, beschränken wollte. Weder eine Bestimmung von Art. 9 Abs. 1 noch allgemein der Verordnung Nr. 2201/2003 lässt die Annahme zu, dass dieser Zeitraum von drei Monaten mit einem Ereignis beginnen könnte, das vor dem tatsächlichen Umzug des betreffenden Kindes liegt, wie etwa der gerichtlichen Entscheidung, mit der – gegebenenfalls mit aufgeschobener Wirkung – der Zeitpunkt der Änderung des gewöhnlichen Aufenthalts dieses Kindes festgelegt wurde.

30      Der vom vorlegenden Gericht angeführte Umstand, dass die gerichtliche Entscheidung, mit der das Umgangsrecht ursprünglich festgelegt worden sei, zum Zeitpunkt des Antrags auf Änderung dieser Entscheidung mittlerweile endgültig geworden sei, ist daher für die Anwendung der Zuständigkeitsregel von Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 unerheblich.

31      Unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt die gerichtliche Entscheidung, mit der das Umgangsrecht und dessen Modalitäten ursprünglich festgelegt wurde, ergangen ist, ist ein solcher Änderungsantrag nämlich durch die Änderung der Umstände aufgrund des Umzugs des betreffenden Kindes und der Verlegung seines gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Mitgliedstaat gerechtfertigt.

32      Ein nationales Gericht kann demnach dem umgangsberechtigten Elternteil nicht die gegebenenfalls eingetretene „Rechtskraft“ einer Entscheidung entgegenhalten, mit der das Umgangsrecht und dessen Modalitäten ursprünglich festgelegt wurden, um den Antrag dieses Elternteils auf Änderung des Umgangsrechts für unzulässig zu erklären; andernfalls würde der von in Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 genannten Dauer von drei Monaten, während der die Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes abweichend von Art. 8 dieser Verordnung weiterhin für die Entscheidung über einen solchen Antrag zuständig sind, die praktische Wirksamkeit genommen.

33      Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass für den Beginn der Dauer, während der die Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes abweichend von Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung für die Entscheidung über einen Antrag auf Änderung einer endgültigen Entscheidung über das Umgangsrecht zuständig bleiben, auf den Tag nach dem tatsächlichen Umzug des Kindes in den Mitgliedstaat seines neuen gewöhnlichen Aufenthalts abzustellen ist.

 Zur zweiten Frage

34      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass das Gericht des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, das nach Art. 9 dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, von der in Art. 15 dieser Verordnung vorgesehenen Verweisungsbefugnis zugunsten des Gerichts des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts dieses Kindes Gebrauch machen kann.

35      Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 räumt dem Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, ausnahmsweise die Möglichkeit ein, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls an das Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, zu verweisen, wenn dieses Gericht den Fall besser beurteilen kann und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht.

36      Art. 15 Abs. 2 bis 6 legt die Voraussetzungen und Modalitäten fest, unter denen eine solche Verweisung erfolgen kann.

37      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht des Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, nach Art. 15 Abs. 4 der Verordnung Nr. 2201/2003 „weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig [ist]“, wenn die Parteien die Gerichte des anderen Mitgliedstaats nicht innerhalb der ihnen hierfür von diesem Gericht gesetzten Frist anrufen. Dieses Gericht übt seine Zuständigkeit nach den Art. 8 bis 14 auch dann weiter aus, wenn sich die Gerichte des anderen Mitgliedstaats, wie in Art. 15 Abs. 5 dieser Verordnung vorgesehen, nicht innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Anrufung für zuständig erklärt haben.

38      Der Unionsgesetzgeber hat somit selbst in Betracht gezogen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, dessen Zuständigkeit auf Art. 9 der Verordnung beruht, von der in Art. 15 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Verweisungsbefugnis Gebrauch machen kann.

39      Zudem ist festzustellen, dass keine Bestimmung der Verordnung Nr. 2201/2003 die Annahme zulässt, dass die Ausübung dieser Verweisungsbefugnis zugunsten eines Gerichts des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes grundsätzlich ausgeschlossen wäre.

40      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003, wie sich im Wesentlichen aus Rn. 33 des Urteils vom 4. Oktober 2018, IQ (C‑478/17, EU:C:2018:812), ergibt, dem Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache in einem Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung zuständig ist, gestattet, seine Zuständigkeit hinsichtlich des gesamten oder eines bestimmten Teils des Falls, mit dem es befasst ist, auf ein Gericht zu übertragen, das normalerweise für die Entscheidung unzuständig ist, aber in der vorliegenden Situation als das Gericht anzusehen ist, das den Fall „besser“ beurteilen kann.

41      Vorliegend steht, worauf die Europäische Kommission zu Recht hingewiesen hat, im Gegensatz zu der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen ist und in der die angerufenen Gerichte der zwei betroffenen Mitgliedstaaten beide nach Art. 8 Abs. 1 bzw. Art. 12 der Verordnung Nr. 2201/2003 für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig waren, was den Gerichtshof dazu veranlasst hat, zwischen diesen Gerichten die Möglichkeit eines Gebrauchs der in Art. 15 dieser Verordnung geregelten Verweisungsbefugnis auszuschließen, fest, dass sich das Tribunal judiciaire de Nanterre (Gericht erster Instanz Nanterre) im vorliegenden Fall insbesondere deshalb für unzuständig erklärt hat, über die Klage der Mutter der betroffenen minderjährigen Kinder zu entscheiden, da der Vater der Kinder innerhalb des in Art. 9 Abs. 1 der Verordnung vorgesehenen Zeitraums von drei Monaten nach dem rechtmäßigen Umzug dieser Kinder einen Antrag auf Änderung seines Umgangs- und Unterbringungsrechts beim vorlegenden Gericht gestellt hatte.

42      Außerdem geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass die Möglichkeit des vorlegenden Gerichts, von der Verweisungsbefugnis nach Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 Gebrauch zu machen, der Anwendung anderer Bestimmungen dieser Verordnung entgegenstehen könnte. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die französischen Gerichte für die Entscheidung über einen Antrag auf Änderung des Umgangsrechts und seiner Modalitäten nach den Art. 10 bis 14 dieser Verordnung zuständig wären.

43      Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich das nationale Gericht, das von der Verweisungsbefugnis Gebrauch machen möchte, zunächst vergewissern muss, dass das Kind eine „besondere Bindung“ zu einem anderen Mitgliedstaat unterhält, sodann, dass das Gericht dieses Mitgliedstaats den Fall „besser“ beurteilen kann, und schließlich, dass die Verweisung „dem Wohl des Kindes entspricht“, wobei die Auslegung dieser drei Voraussetzungen durch den Gerichtshof in den Rn. 49 bis 61 des Urteils vom 27. Oktober 2016, D. (C‑428/15, EU:C:2016:819), sowie in den Rn. 31 bis 34 und 37 bis 42 des Beschlusses vom 10. Juli 2019, EP (Elterliche Verantwortung und Gericht, das den Fall besser beurteilen kann) (C‑530/18, EU:C:2019:583), zu beachten ist.

44      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass das Gericht des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, das nach Art. 9 dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, von der in Art. 15 dieser Verordnung vorgesehenen Verweisungsbefugnis zugunsten des Gerichts des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts dieses Kindes Gebrauch machen kann, sofern die in diesem Art. 15 geregelten Voraussetzungen erfüllt sind.

 Kosten

45      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000

ist dahin auszulegen, dass

für den Beginn der Dauer von drei Monaten, während der die Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes abweichend von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 für die Entscheidung über einen Antrag auf Änderung einer endgültigen Entscheidung über das Umgangsrecht zuständig bleiben, auf den Tag nach dem tatsächlichen Umzug des Kindes in den Mitgliedstaat seines neuen gewöhnlichen Aufenthalts abzustellen ist.

2.      Die Verordnung Nr. 2201/2003

ist dahin auszulegen, dass

das Gericht des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, das nach Art. 9 dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, von der in Art. 15 dieser Verordnung vorgesehenen Verweisungsbefugnis zugunsten des Gerichts des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts dieses Kindes Gebrauch machen kann, sofern die in diesem Art. 15 geregelten Voraussetzungen erfüllt sind.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.