Language of document : ECLI:EU:C:2023:696

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

LAILA MEDINA

vom 21. September 2023(1)

Rechtssache C299/22

M. D.

gegen

„Tez Tour“ UAB,

Beteiligte:

„Fridmis“ UAB

(Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas [Oberstes Gericht Litauens])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Rücktritt vom Pauschalreisevertrag – Unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände – Als Hochrisikogebiet für Covid‑19 eingestufter Bestimmungsort – Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorhersehbare Umstände – Berücksichtigung objektiver oder subjektiver Umstände – Anwendungsbereich des Begriffs ,Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe‘“






I.      Einleitung

1.        Die Covid‑19-Pandemie und die von Regierungen weltweit ergriffenen Notstandsmaßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus führten zu beispiellosen Störungen in allen Bereichen menschlicher Betätigung. Zu den am stärksten betroffenen Wirtschaftszweigen gehörte der Reise- und Tourismussektor. Die störenden Auswirkungen der Pandemie waren auch auf dem Gebiet des Rechts und der Vertragserfüllung offensichtlich(2).

2.        Die in der Richtlinie (EU) 2015/2302(3) geregelten Pauschalreisen sind einer der Bereiche des Unionsrechts, die die Auswirkungen „unvermeidbarer und außergewöhnlicher“ Umstände auf den Pauschalreisevertrag und das Recht auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag förmlich regeln. Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof erstmals Gelegenheit, die Parameter und Voraussetzungen zu untersuchen, nach denen das Recht auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag im Kontext der Covid‑19-Pandemie ausgeübt werden kann.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

3.        Der 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2302 lautet:

„(31)      Reisende sollten jederzeit vor Beginn der Pauschalreise gegen Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr – unter Berücksichtigung der erwarteten ersparten Aufwendungen sowie der Einnahmen aus einer anderweitigen Verwendung der Reiseleistungen – von dem Pauschalreisevertrag zurücktreten können. Zudem sollten sie ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurücktreten können, wenn die Durchführung der Reise durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände erheblich beeinträchtigt wird. Dies kann zum Beispiel Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus, erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen, umfassen.“

4.        In Art. 3 der Richtlinie 2015/2302 heißt es:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

12.      ‚unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände‘ eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären“.

5.        Art. 12 („Beendigung des Pauschalreisevertrags und Recht zum Widerruf vor Beginn der Pauschalreise“) Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Reisende vor Beginn der Pauschalreise jederzeit vom Pauschalreisevertrag zurücktreten kann. Tritt der Reisende gemäß diesem Absatz vom Pauschalreisevertrag zurück, so kann der Reiseveranstalter die Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr verlangen. Im Pauschalreisevertrag können angemessene pauschale Rücktrittsgebühren festgelegt werden, die sich nach dem Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag und der Dauer bis zum Beginn der Pauschalreise und den erwarteten ersparten Aufwendungen und Einnahmen aus anderweitigen Verwendungen der Reiseleistungen bemessen. In Ermangelung pauschaler Rücktrittsgebühren entspricht die Rücktrittsgebühr dem Preis der Pauschalreise abzüglich der ersparten Aufwendungen und Einnahmen aus anderweitigen Verwendungen der Reiseleistungen. Auf Ersuchen des Reisenden begründet der Reiseveranstalter die Höhe der Rücktrittsgebühren.

(2)      Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß diesem Absatz hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf keine zusätzliche Entschädigung.

(3)      Der Reiseveranstalter kann den Pauschalreisevertrag beenden und dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll erstatten, ohne jedoch eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen, wenn

b)      der Reiseveranstalter aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt.“

B.      Litauisches Recht

6.        Art. 6.212 („Höhere Gewalt“) Abs. 1 des Lietuvos Respublikos civilinis kodeksas (Zivilgesetzbuch der Republik Litauen, im Folgenden: Zivilgesetzbuch) bestimmt:

„Eine Partei ist von der Haftung für die Nichterfüllung eines Vertrags befreit, wenn sie nachweist, dass die Nichterfüllung auf Umstände zurückzuführen ist, die außerhalb ihrer Kontrolle stehen und die für sie zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vernünftigerweise nicht vorhersehbar waren, und dass der Eintritt dieser Umstände oder ihrer Folgen nicht hätte verhindert werden können.“

7.        Art. 6.750 („Recht eines Reisenden, von dem Pauschalreisevertrag zurückzutreten und ihn zu widerrufen“) Abs. 4 des Zivilgesetzbuchs bestimmt:

„Der Reisende hat in folgenden Fällen das Recht, von dem Vertrag über eine Pauschalreise ohne Zahlung der in Abs. 2 dieses Artikels genannten Rücktrittsgebühr zurückzutreten:

3.      wenn am Bestimmungsort der Pauschalreise oder in dessen unmittelbarer Nähe Umstände höherer Gewalt eintreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort der Reise unmöglich machen können. In diesem Fall hat der Reisende Anspruch auf Erstattung der für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch keinen Anspruch auf eine zusätzliche Entschädigung.“

III. Kurze Darstellung des Sachverhalts und des Verfahrens

8.        M. D. schloss am 10. Februar 2020 mit dem Reiseveranstalter Tez Tour für sich und seine Familie einen Pauschalreisevertrag über eine Reise in die Vereinigten Arabischen Emirate vom 1. März 2020 bis zum 8. März 2020. Der abgeschlossene Pauschalreisevertrag umfasste u. a. den Hin- und Rückflug von Vilnius (Litauen) nach Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) und zurück sowie sieben Übernachtungen in einem Hotel mit All-inclusive-Verpflegung. Der von M. D. gezahlte Preis belief sich auf 4 834 Euro.

9.        M. D. teilte Tez Tour am 27. Februar 2020 mit, dass er vom Vertrag zurücktreten wolle, und er ersuchte darum, die geleistete Zahlung für eine andere Reise verwenden zu können, wenn das Covid‑19-Risiko abgenommen habe. Dies lehnte Tez Tour ab.

10.      M. D. erhob daraufhin Klage gegen Tez Tour, mit der er geltend machte, dass der Vertrag wegen des Auftretens von Umständen höherer Gewalt am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe, die geeignet gewesen seien, die Durchführung der Reise unmöglich zu machen, beendet worden sei. Er beantragte ferner die Erstattung aller von ihm geleisteten Zahlungen.

11.      Insoweit brachte M. D. vor, dass aufgrund von Informationen, die im Februar 2020 sowohl seitens der Behörden als auch seitens der Medien über den weltweiten Ausbruch der Covid‑19-Pandemie veröffentlicht worden seien, Zweifel an der Sicherheit der Durchführung der Reise und allgemeiner an der Durchführbarkeit der Reise hinreichend begründet gewesen seien. Die Umstände höherer Gewalt im Sinne von Art. 6.750 Abs. 4 Nr. 3 des Zivilgesetzbuchs, nämlich unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände, seien nicht als Umstände zu verstehen, die die Reise völlig unmöglich machten, sondern vielmehr unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände, die nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigten. Daher sei die Unmöglichkeit der Durchführung der Reise nicht nur als das Unvermögen auszulegen, die Leistungen am Bestimmungsort zu erbringen, sondern auch als das Unvermögen, die Sicherheit der Reise ohne Unannehmlichkeiten oder Gefahren für die Reisenden zu gewährleisten.

12.      Tez Tour entgegnete auf dieses Vorbringen von M. D., dass die Ausbreitung des Covid‑19-Virus zwar als ein Umstand angesehen werden könne, der der Kontrolle entzogen sei, nicht aber als ein Umstand, der das sichere Erreichen des Bestimmungsorts unmöglich gemacht habe.

13.      Sowohl das erstinstanzliche Gericht als auch das Berufungsgericht waren der Auffassung, dass die von M. D. geltend gemachten Umstände nicht als Umstände höherer Gewalt einzustufen seien, d. h. als unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände, die eine Durchführung des Vertrags unmöglich gemacht hätten. Zum einen befanden diese Gerichte, dass M. D. die Reise zu einem Zeitpunkt gebucht habe, als Informationen in Bezug auf die Einführung restriktiver Maßnahmen bereits verfügbar gewesen seien, und dass das mit der Reise verbundene Risiko sich zwischen dem Zeitpunkt der Buchung (nämlich dem 10. Februar 2020) und dem letzten Tag der gebuchten Reise (nämlich dem 8. März 2020) nicht geändert habe. Daher habe der Reisende seine Meinung nicht ändern dürfen und vom Vertrag nicht erst 17 Tage nach der Buchung zurücktreten dürfen. Zum anderen stellten diese Gerichte fest, dass der Reisende nicht nachgewiesen habe, dass zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag (nämlich dem 27. Februar 2020) und nicht erst nach diesem Zeitpunkt objektive – nicht subjektive – Gründe vorgelegen hätten, aufgrund deren die Durchführung des Reisevertrags im maßgeblichen Zeitraum (nämlich vom 1. bis 8. März 2020) unmöglich gewesen sei.

14.      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, bei dem die Revision anhängig ist, ist es erforderlich, den Begriff „unvermeidbare, außergewöhnliche“ Umstände im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 sowie die Voraussetzungen, nach denen ein Reisender solche Umstände insbesondere im Kontext der Covid‑19-Pandemie geltend machen kann, zu klären.

15.      Insoweit weist das vorlegende Gericht zunächst darauf hin, dass das erstinstanzliche Gericht und das Berufungsgericht der Auffassung gewesen sind, dass der Begriff der höheren Gewalt im nationalen Recht und der Begriff der unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände im Sinne der Richtlinie 2015/2302 dieselbe Bedeutung hätten. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist der Begriff der unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände jedoch weiter als derjenige der höheren Gewalt. Als weiter gefasster Begriff erfasse der Begriff der unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände nicht nur Fälle, in denen die Durchführung des Vertrags objektiv, entweder physisch oder rechtlich, unmöglich sei, sondern auch Fälle, in denen seine Durchführung theoretisch möglich sei, aber praktisch verkompliziert und/oder unwirtschaftlich werde, oder in denen dem Reisenden Nachteile in seiner Urlaubsfreude entstünden.

16.      In diesem Kontext möchte das vorlegende Gericht erstens geklärt wissen, welche Relevanz amtlichen Reisewarnungen für die Feststellung des Vorliegens unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstände zukomme. Möglicherweise könne davon ausgegangen werden, dass bei solchen Warnungen eine Vermutung für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände bestehe, die die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigten. Im Fall des Ausgangsverfahrens habe das litauische Außenministerium am 12. März 2020 Reisehinweise veröffentlicht, alle Reisen zu verschieben und in den folgenden Monaten von Besuchen im Ausland, einschließlich der Vereinigten Arabischen Emirate, abzusehen. Die Veröffentlichung dieser Reisehinweise sei infolge der am 11. März 2020 geänderten Einstufung der Covid‑19-Epidemie als Pandemie durch die Weltgesundheitsorganisation (im Folgenden: WHO) erfolgt.

17.      Zweitens müssten für die Feststellung der Folgen, die die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigten, diese Folgen für den normal informierten und angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsreisenden unter Berücksichtigung der Zeitpunkte der beabsichtigten Reise, der ihm zur Verfügung stehenden tatsächlichen Angaben und der zu diesem Zeitpunkt in Bezug auf die Reise veröffentlichten Informationen wahrscheinlich sein. Insoweit hält das Gericht für klärungsbedürftig, ob unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände nur dann festgestellt werden könnten, wenn sie Folgen hätten, die die Durchführung der Pauschalreise objektiv, entweder physisch oder rechtlich, unmöglich machten, oder ob sie auch in Fällen festgestellt werden könnten, in denen die Durchführung der Pauschalreise unter sicheren Bedingungen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Risikos für die Gesundheit und/oder das Leben der Reisenden, theoretisch möglich sei, aber praktisch verkompliziert und/oder unwirtschaftlich werde.

18.      Drittens hält das vorlegende Gericht für klärungsbedürftig, ob der Umstand, dass unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände bereits in gewissem Umfang vor Vertragsschluss vorgelegen hätten oder vorhersehbar gewesen seien, als Grund für einen Ausschluss des Rechts des Reisenden auf Rücktritt vom Vertrag ohne Verpflichtung zur Zahlung einer Rücktrittsgebühr anzusehen sei.

19.      Im Kontext des Kriteriums der hinreichenden Vorhersehbarkeit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das litauische Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten zwar bereits am 8. Januar 2020 Hinweise für Reisende veröffentlicht gehabt habe, die in die Vereinigten Arabischen Emirate hätten reisen wollen, wonach ihnen Vorsichtsmaßnahmen empfohlen worden seien, und dass die WHO die Covid‑19-Epidemie am 30. Januar 2020 zur gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite erklärt habe, die weitere Entwicklung und Folgen der Pandemie jedoch schwer vorhersehbar gewesen seien. Insbesondere habe es zu jenem Zeitpunkt noch keine klaren Maßnahmen zur Steuerung und Beherrschung der Infektion gegeben; zum anderen habe sich zwischen dem Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags und dem Zeitpunkt des Rücktritts von diesem Vertrag die Ausbreitung des Virus klar beschleunigt.

20.      In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass in Litauen am 26. Februar 2020 wegen der sich aus der Corona-Pandemie ergebenden Bedrohung der nationale Notstand erklärt worden sei. Im Übrigen habe der Rechtsmittelführer nachgewiesen, dass ab dem 25. Februar 2020 Informationen in der Presse zu den Infektionen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, den für Hotels verhängten Ausgangsbeschränkungsmaßnahmen und allgemeiner zu den schnellen Veränderungen in der weltweiten Ausbreitung des Virus veröffentlicht worden seien.

21.      Viertens sei das Recht des Reisenden auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 an das Auftreten unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe“ geknüpft. Aus dieser Formulierung folge, dass im Kontext der Covid‑19-Pandemie die Beurteilung der zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag herrschenden Umstände nicht auf die Umstände am endgültigen Bestimmungsort beschränkt werden könne. Das vorgenannte Gericht möchte wissen, ob die letztere Formulierung mit Blick auf die Art des geltend gemachten Ereignisses auch den Abreiseort sowie die verschiedenen, mit dem Beginn der Reise und mit der Rückreise verbundenen Orte umfassen kann.

22.      Vor diesem Hintergrund hat der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof Litauens) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Muss eine amtliche Reisewarnung der Behörden des Abreise- und/oder Ankunftsstaats, von nicht notwendigen Reisen abzusehen, und/oder eine Einstufung des Bestimmungslands (bzw. evtl. auch des Abreiselands) als Risikogebiet vorliegen, um davon ausgehen zu können, dass am Bestimmungsort oder in seiner unmittelbaren Umgebung unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie (EU) 2015/2302 aufgetreten sind?

2.      Sind bei der Beurteilung, ob zum Zeitpunkt des Rücktritts von einem Pauschalreisevertrag am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände bestehen und ob sie die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen, i) nur objektive Umstände zu berücksichtigen, d. h. eine erhebliche Auswirkung auf die Durchführung der Pauschalreise, die sich nur auf die objektive Unmöglichkeit bezieht, und ist sie so auszulegen, dass sie nur Fälle erfasst, in denen die Durchführung des Vertrags sowohl physisch als auch rechtlich unmöglich wird, oder erfasst sie gleichwohl auch Fälle, in denen die Durchführung des Vertrags zwar nicht unmöglich ist, aber (im vorliegenden Fall wegen der begründeten Befürchtung einer Infektion mit Covid‑19) verkompliziert und/oder unwirtschaftlich wird (im Hinblick auf die Sicherheit der Reisenden, die Gefährdung ihrer Gesundheit und/oder ihres Lebens, die Möglichkeit, die Ziele der Urlaubsreise zu erreichen), oder sind ii) subjektive Faktoren von Bedeutung, wie beispielsweise ob die Reise von Erwachsenen mit Kindern unter 14 Jahren unternommen wird, oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit erhöhtem Risiko aufgrund des Alters oder Gesundheitszustands des Reisenden, usw.? Ist der Reisende berechtigt, vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn aufgrund der Pandemie und damit zusammenhängender Umstände nach Ansicht eines durchschnittlichen Reisenden die Reise zum und vom Bestimmungsort unsicher wird, für den Reisenden zu Unannehmlichkeiten oder zu einer begründeten Befürchtung eines Risikos für die Gesundheit oder einer Infektion mit einem gefährlichen Virus führt?

3.      Hat die Tatsache, dass die vom Reisenden geltend gemachten Umstände bereits eingetreten waren oder sie zumindest bereits angenommen wurden/wahrscheinlich waren, als die Reise gebucht wurde, in irgendeiner Weise Einfluss auf das Recht, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten (z. B. dahin, dass dieses Recht nicht gewährt wird, dass strengere Kriterien für die Beurteilung der nachteiligen Auswirkung auf die Durchführung der Pauschalreise angewendet werden, usw.)? Ist bei der Anwendung des Kriteriums der hinreichenden Vorhersehbarkeit im Kontext der Pandemie zu berücksichtigen, dass zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags zwar die WHO bereits Informationen über die Ausbreitung des Virus veröffentlicht hatte, der Verlauf und die Folgen der Pandemie jedoch schwer vorhersehbar waren, dass es keine klaren Maßnahmen zur Steuerung und Beherrschung der Infektion und keine hinreichenden Angaben über die Infektion selbst gab, und dass das sich verstärkende Fortschreiten von Infektionen vom Zeitpunkt der Buchung der Reise bis zum Rücktritt offenkundig war?

4.      Erfasst bei der Beurteilung, ob zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe bestehen und ob sie die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen, der Begriff „Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe“ nur den Ankunftsstaat oder, unter Berücksichtigung der Art des unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstands, nämlich einer ansteckenden Virusinfektion, auch den Abreisestaat sowie Orte, die mit dem Beginn der Reise und mit der Rückreise verbunden sind (Orte, an denen ein Transfer stattfindet, bestimmte Transportmittel, usw.)?

23.      Die tschechische, die griechische und die litauische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. An der mündlichen Verhandlung vom 7. Juni 2023 haben die Parteien des Ausgangsverfahrens, die griechische und die litauische Regierung sowie die Kommission teilgenommen.

IV.    Würdigung

 Vorbemerkungen zum Begriff „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“

24.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Recht auf Rücktritt vom Vertrag im Fall von „unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umständen“ in Art. 6.750 Abs. 4 Nr. 3 des Zivilgesetzbuchs festgelegt sei und dort die Definition der „höheren Gewalt“ verwendet werde. Die mit dem Rechtsstreit befassten vorinstanzlichen Gerichte hätten sich auf die Definition der „höheren Gewalt“ nach dem nationalen Recht gestützt und diesen Begriff als mit dem im Unionsrecht verwendeten Begriff „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ deckungsgleich betrachtet. Der Begriff „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ sei jedoch ein autonomer Begriff des Unionsrechts, der einen weiteren Anwendungsbereich habe als der Begriff „höhere Gewalt“.

25.      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort auf seine Zweifel hinsichtlich der Umsetzung des Begriffs „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ in das nationale Recht sowie hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen diesem Begriff und dem Begriff „höhere Gewalt“ im spezifischen Kontext der Richtlinie 2015/2302 zu geben, sind folgende Anmerkungen zu machen.

26.      Erstens ist im Blick zu behalten, dass der Begriff der höheren Gewalt, der in der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (ABl. 1990, L 158, S. 59), die durch die Richtlinie 2015/2302 aufgehoben und ersetzt wurde, enthalten war, durch den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände ersetzt wurde(4).

27.      In Art. 3 Nr. 12 der Richtlinie 2015/2302 ist der Begriff „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ definiert als „eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären“. Im 31. Erwägungsgrund der Richtlinie wird der Anwendungsbereich dieses Begriffs dahin erläutert, dass „[er] zum Beispiel … erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen, umfassen [kann]“.

28.      Im Rahmen der Definition dieses Begriffs wird nicht auf die Bedeutung und den Anwendungsbereich verwiesen, der dem Begriff nach dem Recht der Mitgliedstaaten zukommt. Der Begriff „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ ist daher als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen und im Gebiet der Union einheitlich auszulegen(5).

29.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gleicht der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Sinne von Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 aber dem Begriff der höheren Gewalt, wie er nach einer gefestigten Rechtsprechung definiert wird, nämlich als vom Willen desjenigen, der sich auf höhere Gewalt beruft, unabhängige, ungewöhnliche und unvorhersehbare Umstände, deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können(6). Mithin stellt nach den Ausführungen des Gerichtshofs ungeachtet dessen, dass dieser Ausdruck in der Richtlinie nicht vorkommt, der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände eine Ausprägung des Begriffs der höheren Gewalt im Rahmen der Richtlinie und somit eine umfassende Durchführung des Begriffs für die Zwecke der Richtlinie dar(7).

30.      Zweitens hat der Gerichtshof zur Anwendung des Begriffs „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ klargestellt, dass bei einem Ausbruch einer weltweiten gesundheitlichen Notlage wie der Covid‑19-Pandemie davon auszugehen ist, dass sie per se unter diesen Begriff im Sinne der Richtlinie 2015/2302 fallen kann(8). Ein solches Ereignis ist nämlich ganz offensichtlich außerhalb jeglicher Kontrolle, und seine Folgen hätten sich auch dann nicht vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären. Im Übrigen zeigt es, dass „erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit“ im Sinne des 31. Erwägungsgrundes der Richtlinie bestehen(9).

31.      Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 ist daher auf den Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag wegen der Auswirkungen des Ausbruchs einer weltweiten gesundheitlichen Notlage wie der Covid‑19-Pandemie anwendbar(10).

32.      Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass der Begriff „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ Ausprägung des Begriffs der höheren Gewalt im Rahmen der Richtlinie 2015/2302 ist und dass er den Ausbruch einer weltweiten gesundheitlichen Notlage im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie erfassen kann.

 Erste Frage

33.      Mit seiner ersten Vorabentscheidungsfrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Feststellung nach Art. 12 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2015/2302, dass „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände [aufgetreten sind]“, von der Veröffentlichung einer amtlichen Reisewarnung der Behörden des Abreise- und/oder Ankunftsstaats, von nicht notwendigen Reisen abzusehen, und/oder von einer Einstufung des Bestimmungslands (bzw. evtl. auch des Abreiselands) als Risikogebiet abhängig ist.

34.      Insoweit ist festzustellen, dass in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 nicht von Reisewarnungen oder ‑hinweisen die Rede ist. Die Veröffentlichung von Reisewarnungen oder ‑hinweisen ist auf Unionsebene nicht harmonisiert und bleibt eine Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Kommission hat in ihren schriftlichen Erklärungen vorgetragen, dass in den Erwägungsgründen ihres Vorschlags für die Richtlinie(11) auf von mitgliedstaatlichen Behörden veröffentlichte Reisewarnungen Bezug genommen und ihnen besonderes Gewicht zugemessen worden sei. Ihre Veröffentlichung hätte eine widerlegbare Vermutung für die Feststellung „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ darstellen sollen(12). Wie von der Kommission in ihrem Bericht über die Anwendung der Richtlinie 2015/2302 anerkannt, hatten sich jedoch einige Mitgliedstaaten „strikt“ gegen jegliche Bezugnahme auf offizielle Reisehinweise in der Richtlinie „ausgesprochen“(13). Der Entstehungsgeschichte der Richtlinie 2015/2302 ist offenbar zu entnehmen, dass sie zur rechtlichen Bedeutung von Reisewarnungen oder ‑hinweisen, die von Regierungen veröffentlicht werden, bewusst schweigt. Wie von der tschechischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen vorgetragen, dürfen solche Warnungen oder Hinweise daher keine notwendige oder hinreichende Voraussetzung für die Feststellung „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2. dieser Richtlinie darstellen.

35.      Eine andere Auslegung von Art. 12 Abs. 2 würde das Recht der Reisenden auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag beschränken, da es die Ausübung eines durch die Richtlinie gewährten harmonisierten Rechts vom Ergehen nationaler Rechtshandlungen abhängig machen würde, deren Inhalt nicht harmonisiert ist. Die Feststellung „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ wäre dann von ihrer amtlichen Anerkennung abhängig. Da „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ möglicherweise plötzlich auftreten können, könnte, wie von der tschechischen Regierung vorgetragen, die Gefahr bestehen, dass den Reisenden das Recht auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag genommen würde, wenn die offizielle Anerkennung der „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ sich verzögern oder ausbleiben würde. Außerdem gab es im Kontext des Beginns der Covid‑19-Pandemie keine klaren oder gemeinsamen Kriterien für die Bewertung des Niveaus des Übertragungsrisikos nach Gebieten oder Ländern, und die Informationen änderten sich ständig(14).

36.      Demnach stellt Art. 12 der Richtlinie 2015/2302 keinen zwingenden Zusammenhang zwischen der Veröffentlichung von Reisewarnungen oder ‑hinweisen, alle nicht notwendigen Reisen zu vermeiden, und/oder der Einstufung eines Landes als Risikogebiet einerseits, und der Feststellung „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ andererseits, her. Somit stellen, wie von den Parteien des Ausgangsverfahrens, der litauischen und der griechischen Regierung sowie der Kommission im Wesentlichen vorgetragen, Reisewarnungen, die auf das Bestehen eines hohen Risikoniveaus hinweisen, und erst recht eine Warnung, von Reisen abzusehen(15), starke Anzeichen für das Vorliegen unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstände dar. Sie stellen somit ein wichtiges Beweisstück für den Reisenden dar, der sich auf amtliche Informationen stützen soll.

37.      Insoweit ist es mangels einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften Aufgabe der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die Modalitäten – wozu der Beweiswert einer amtlichen Erklärung oder Handlung gehört – von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu regeln, die den Schutz der den Bürgern aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei sie den Äquivalenzgrundsatz und den Effektivitätsgrundsatz zu beachten haben und die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen dürfen(16). Somit können die nationalen Gerichte im Einklang mit dem nationalen Verfahrensrecht die Relevanz von Reisewarnungen oder ‑hinweisen im Rahmen der Gesamtbeurteilung zur Feststellung „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 berücksichtigen und frei würdigen. Wie oben ausgeführt, dürfen diese Warnungen oder Hinweise jedoch keine notwendige Voraussetzung für die Feststellung dieser Umstände sein, wenn eine solche Voraussetzung das Recht des Reisenden auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag beeinträchtigen würde.

38.      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen hängt meines Erachtens die Feststellung nach Art. 12 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2015/2302, dass „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ aufgetreten sind, nicht davon ab, ob eine amtliche Reisewarnung der Behörden des Abreise- und/oder Ankunftsstaats, von nicht notwendigen Reisen abzusehen, und/oder eine Einstufung des Bestimmungslands (bzw. evtl. auch des Abreiselands) als Risikogebiet veröffentlicht wurde. Im Einklang mit dem nationalen Verfahrensrecht können die nationalen Gerichte jedoch amtliche Warnungen berücksichtigen, die auf ein hohes Risikoniveau am Bestimmungsort hinweisen, sofern diese Warnungen keine notwendige Voraussetzung für die Feststellung solcher „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ darstellen.

 Zweite Frage

39.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob bei der Beurteilung der erheblichen Auswirkungen der „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ auf die Durchführung der Pauschalreise nur die objektive Unmöglichkeit der Vertragsdurchführung zu berücksichtigen ist oder ob auch die Risiken für die Gesundheit und Sicherheit der Reisenden sowie subjektive Faktoren im Zusammenhang mit dem Alter, dem Gesundheitszustand des Reisenden oder der Frage, ob auch Minderjährige mitreisen, zu berücksichtigen sind. Das vorlegende Gericht fragt ferner, ob bei der Beurteilung der Folgen für die Durchführung der Reise auf die Perspektive des durchschnittlichen Reisenden abzustellen ist.

40.      Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge bezieht die zweite Frage sich auf zwei Hauptfragestellungen im Zusammenhang mit der Beurteilung des Auftretens „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“, die die Durchführung des Pauschalreisevertrags erheblich beeinträchtigen. Im Rahmen der ersten Frage geht es im Wesentlichen um den objektiven oder subjektiven Charakter der erheblichen Auswirkungen. Im Rahmen der zweiten Frage geht es um den Maßstab bei der Prüfung der erheblichen Auswirkungen. Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge bringt das vorlegende Gericht diesen Maßstab insbesondere mit einer – von dem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsreisenden vorgenommenen – Ex-ante-Beurteilung oder Prognose der Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung der erheblichen Auswirkungen in Zusammenhang.

 i) Objektiver oder subjektiver Charakter der Beurteilung

41.      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 das Recht auf Rücktritt vom Vertrag ohne Verpflichtung zur Zahlung einer Rücktrittsgebühr in dem Fall anerkennt, dass „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten“. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht eindeutig hervor, dass die Situationen, die als „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe [auftretende] unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ eingestuft werden, sich nicht nur auf die Person des Reisenden beziehen können (wie etwa das Ereignis eines schweren Unfalls). Für diese Auslegung spricht auch die Entstehungsgeschichte von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302. Nach dem Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen zum Vorschlag für diese Richtlinie „war von Verbraucherschutzvertretern die Ansicht vertreten worden, dass es eine Möglichkeit zum Rücktritt vom Vertrag geben sollte, wenn ein Fall höherer Gewalt in Bezug auf den Reisenden vorliegt, beispielsweise eine ernsthafte Krankheit oder ein Todesfall eines nahen Angehörigen, wodurch der Reisende am Antritt der Reise gehindert wird“(17). Die Kommission verwies jedoch darauf, dass Fälle, die sich auf den Reisenden bezögen, anders als bei Fällen höherer Gewalt im Bestimmungsgebiet, „häufig durch vom Reisenden gegebenenfalls erworbene Reiseversicherungen abgedeckt [seien]“(18).

42.      Zur Beurteilung der Auswirkungen der „unvermeidbaren, außergewöhnlichen“ Umstände für die Durchführung der Pauschalreise ist zunächst darauf hinzuweisen, dass diese Umstände nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen müssen.  Der Begriff der erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung ist weiter als die Unmöglichkeit der Durchführung. Im 31. Erwägungsgrund der Richtlinie werden „Beeinträchtigungen der Sicherheit“ oder „erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit“ genannt. Wie von der Kommission vorgetragen, könnte in solchen Fällen etwa die Durchführung zwar rechtlich oder physisch möglich, die Sicherheit der Reisenden aber nicht mehr gewährleistet sein. Daher sollte das erhebliche Risiko für die Gesundheit und Sicherheit des Reisenden erhebliche Auswirkungen auf die Vertragsdurchführung haben. Für diese Auslegung spricht auch die Entstehungsgeschichte von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302, soweit mit dieser Bestimmung das Recht des Reisenden auf Beendigung des Vertrags anerkannt wurde. Dieses Recht bestand nach der aufgehobenen Richtlinie nicht. Wie im Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen zu Pauschalreisen angeführt, kann es Situationen – wie etwa Krieg oder Naturkatastrophen – geben, die „wahrscheinlich negative Auswirkungen auf die Freude oder die Sicherheit während der Reise haben und in denen der Veranstalter die Pauschalreise nicht von sich aus storniert“(19).

43.      Die erheblichen Auswirkungen der „außergewöhnlichen und unvermeidbaren Umstände“ auf die Durchführung der Pauschalreise werden zwingend dann festzustellen sein, wenn diese Umstände zu einer „Vertragswidrigkeit“ im Sinne von Art. 3 Nr. 13 der Richtlinie 2015/2302 führen können, die erhebliche Auswirkungen auf die Erbringung der vertraglichen Pauschalreiseleistungen hat. Der Reisende kann insoweit nach Art. 13 Abs. 6 dieser Richtlinie ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurücktreten, wenn die Vertragswidrigkeit „erhebliche Auswirkungen auf die Erbringung der vertraglichen Pauschalreiseleistungen“ hat. Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Feststellung einer Vertragswidrigkeit in dem Sinne objektiv ist, dass sie nur einen Vergleich zwischen den in der Pauschalreise des betreffenden Reisenden zusammengefassten Leistungen und den ihm tatsächlich erbrachten Leistungen erfordert(20). Ebenso sind die erheblichen Auswirkungen der unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände objektiv anhand der Wirkung dieser Umstände auf die Durchführung des Vertrags unter Berücksichtigung der Risiken für den Reisenden zu beurteilen.

44.      Für die Beurteilung insbesondere der erheblichen Risiken für die menschliche Gesundheit kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen eine subjektive und individualisierte Beurteilung erforderlich sein. Die Richtlinie 2015/2302 schützt nicht nur Reisende, die stark, jung und gesund sind. Die Richtlinie berücksichtigt nämlich die besonderen Bedürfnisse von Reisenden mit eingeschränkter Mobilität. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a Ziff. viii der Richtlinie unter den wesentlichen Eigenschaften der Reiseleistungen u. a. die Angabe, „ob die Reise im Allgemeinen für Personen mit eingeschränkter Mobilität geeignet ist, und auf Verlangen des Reisenden genaue Informationen zur Eignung der Reise unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des Reisenden“, genannt sind.

45.      Eine Behinderung körperlicher Art ist eine der Formen von Schutzbedürftigkeit(21). Im konkreten Kontext des Reisens kann Schutzbedürftigkeit in Bezug auf die körperliche Verfassung eine breitere Gruppe von Reisenden betreffen, die eine höhere Risikoexposition haben als andere Reisende. In Anbetracht der Bedeutung, die die Union dem in Art. 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten hohen Gesundheitsschutzniveau zuerkennt, ist der Gesundheitszustand des Reisenden auch bei der Beurteilung der erheblichen Auswirkungen der „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ zu berücksichtigen. Zu berücksichtigen sind auch die Bedürfnisse bestimmter Gruppen von Reisenden, wie etwa Schwangerer und minderjähriger Kinder; sie müssen eine Reise bei gleichzeitiger Gewährleistung ihrer Sicherheit genießen können. Im konkreten Kontext der Covid‑19-Pandemie stand von Anfang an fest, dass Personen, die bestimmten Gruppen angehören – wie etwa Asthmatiker, Personen mit Immunschwäche, Personen mit bestimmten Grunderkrankungen und Schwangere – im Fall einer Infektion mit dem Virus einem höheren Risiko schwerer oder tödlicher Krankheitsverläufe ausgesetzt sind.

46.      Die Berücksichtigung subjektiver Faktoren bei der Beurteilung der Auswirkungen der „unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände“ darf nicht mit bloßen Gefühlen einer Befürchtung oder Angst in Bezug auf die Folgen solcher Umstände verwechselt werden. Es muss möglich sein, die Bedürfnisse des Reisenden anhand seiner gesundheitlichen oder familiären Situation zu überprüfen.

47.      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen kann meines Erachtens nicht nur dann angenommen werden, dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung des Pauschalreisevertrags haben, wenn diese Durchführung unmöglich ist, sondern auch dann, wenn sie erhebliche Risiken für die Gesundheit und Sicherheit der Reisenden mit sich bringt. Diese Folgen sind objektiv zu beurteilen. Subjektive Faktoren im Zusammenhang mit der eingeschränkten Mobilität oder der Schutzwürdigkeit des Reisenden können jedoch berücksichtigt werden, wenn diese Faktoren überprüfbar sind.

 ii) Prognostischer Charakter der Beurteilung und Maßstab des Durchschnittsreisenden

48.      Was den maßgeblichen Zeitpunkt angeht, der der Beurteilung der erheblichen Auswirkungen der „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ zugrunde zu legen ist, wird in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 das Recht anerkannt, „vor Beginn der Pauschalreise“ vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten. Die Verwendung der Präposition „vor“ weist darauf hin, dass zwischen der Entscheidung zum Rücktritt vom Pauschalreisevertrag und dem Beginn der Pauschalreise ein zeitlicher Abstand besteht. Folglich hat die Entscheidung zum Rücktritt vom Vertrag prognostischen Charakter. Sie beruht auf einer Prognose oder Ex-ante-Beurteilung des Auftretens „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ und ihrer erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung der Pauschalreise oder, falls diese Umstände bereits aufgetreten sind, auf dem Fortbestehen ihrer erheblichen Auswirkungen. Wie vom vorlegenden Gericht angeführt, beinhaltet die vom Reisenden zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag vorgenommene Bewertung eine Beurteilung der Wahrscheinlichkeit dafür, dass die „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung der Pauschalreise haben werden.

49.      Die Richtlinie 2015/2302 sieht keine konkreten Fristen für die Bewertung der Wahrscheinlichkeit dafür vor, dass die „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung der Pauschalreise haben werden. Sie gibt ferner auch keine konkrete Zahl von Tagen, Wochen oder Monaten vor, vor deren Ablauf eine solche Beurteilung nicht vorgenommen und das Recht auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Verpflichtung zur Zahlung einer Rücktrittsgebühr nicht ausgeübt werden könnte. Je weiter der Zeitpunkt des Rücktritts vom Zeitpunkt des Beginns der Pauschalreise entfernt ist, je schwieriger wird es für den Reisenden allerdings sein, nachzuweisen, dass die erheblichen Auswirkungen zum Zeitpunkt der Reise fortbestehen werden(22).

50.      Die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit wird von den Umständen abhängen, deren Beurteilung Sache der nationalen Gerichte ist(23). Es erscheint daher nicht angemessen, eine Wahrscheinlichkeit in Form eines Prozentsatzes der Wahrscheinlichkeit dafür anzugeben, dass die „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung der Pauschalreise haben werden. Diese Beurteilung muss sich jedoch am Ausnahmecharakter des Rechts auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Verpflichtung zur Zahlung einer Rücktrittsgebühr orientieren. Zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag muss der Reisende vernünftigerweise damit rechnen, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen werden.

51.      Was den Bezugspunkt dafür angeht, inwieweit der Reisende eine Ex-ante-Beurteilung vornehmen kann, gehen das vorlegende Gericht und die litauische Regierung vom Maßstab des Durchschnittsreisenden aus, der normal informiert und angemessen aufmerksam und verständig ist. Ich stimme zunächst damit überein, dass der Bezugspunkt für die Beurteilung der Reisende sein muss. Dies entspricht gerade dem Zweck des Rechts auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag, das dem Reisenden zusteht. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass beide Parteien des Pauschalreisevertrags das Recht zur Beendigung des Vertrags haben, wenn „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ auftreten. Das Recht des Reisenden ist in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 geregelt und setzt voraus, dass diese Umstände „die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort“ erheblich beeinträchtigen. Das Recht des Reiseveranstalters ist in Art. 12 Abs. 3 Buchst. b geregelt und setzt voraus, dass der Reiseveranstalter „aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt“. Für die Ausübung des jeweiligen Rechts der Partei ist jeweils die Perspektive dieser Partei maßgebend. Es stände zu dem gesamten Zweck der Anerkennung eines eigenständigen Rechts des Reisenden in Widerspruch, wenn die Ausübung seines Rechts von der Perspektive des Reiseveranstalters abhinge.

52.      Wichtig erscheint ferner der Hinweis darauf, dass die Richtlinie 2015/2302 eine Asymmetrie zwischen dem Reisenden und dem Reiseveranstalter korrigiert hat, die bei der Ausübung des Rechts auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag bzw. Stornierung des Pauschalreisevertrags im Fall unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände bestand. Diese Asymmetrie war von der Kommission im Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen zu Pauschalreisen hervorgehoben worden, in dem darauf hingewiesen wurde, dass der Veranstalter nach der früheren Regelung berechtigt gewesen sei, den Pauschalreisevertrag „allein aufgrund [seiner] Beurteilung der Sicherheitslage“ zu stornieren, während dem Verbraucher ein entsprechendes Recht nicht zur Verfügung gestanden habe(24). Aus den Ursprüngen von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 ergibt sich daher, dass der Reisende das Recht auf Rücktritt vom Vertrag hat, wenn nach seiner eigenen Beurteilung der Sicherheitslage „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ auftreten.

53.      Was insbesondere den der Beurteilung der erheblichen Auswirkungen zugrunde zu legenden Maßstab angeht, ist das Kriterium des „Durchschnittsreisenden“ in der Richtlinie 2015/2302 nicht geregelt. Wie jedoch von der litauischen Regierung in ihren Erklärungen vorgetragen, erscheint es im Licht des Ziels der Richtlinie, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu erreichen(25), angemessen, das bekannte Kriterium des „normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers“(26) heranzuziehen und dieses Kriterium im Rahmen der Richtlinie 2015/2302 auszulegen. Von diesem Maßstab ausgehend, hängt die Entscheidung eines Durchschnittsreisenden zunächst von seinem Informationsstand ab. Der Informationsstandard ist anhand der jeweiligen Informationen zu beurteilen, die zu dem Zeitpunkt öffentlich verfügbar waren, als der Reisende die Reise buchte, und die zum Zeitpunkt seines Entschlusses zum Rücktritt vom Vertrag verfügbar geworden waren. Je größer die Kenntnis, die der Durchschnittsverbraucher von einer bestimmten Situation hat, umso besser ist er in der Lage, das in einer bestimmten Situation bestehende Risiko fundiert zu beurteilen. Hat der Reisende dagegen keine Informationen über eine bestimmte Situation oder sind die Informationen widersprüchlich und ändern sie sich ständig, kann er diese Beurteilung nur begrenzt vornehmen.

54.      Dies war im Kontext der Covid‑19-Pandemie von besonderer Bedeutung. Wie vom vorlegenden Gericht im Wesentlichen angeführt, müssen bei der Bestimmung, was der Durchschnittsreisende wusste und wie er die Wahrscheinlichkeit des Auftretens erheblicher Auswirkungen auf die Durchführung des Vertrags beurteilte, das hohe Maß an Unsicherheit und die sich extrem schnell fortentwickelnde Situation zu Beginn der Pandemie berücksichtigt werden. Zu diesem Zeitpunkt bestand nämlich keine wissenschaftliche Klarheit über das mit dem Virus verbundene Risiko; auch bestand ein hohes Maß an Unsicherheit in Bezug auf die Art und Dauer der Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus.

55.      In der vorliegenden Rechtssache ist den dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen zu entnehmen, dass der Reisende das von Covid‑19 ausgehende Risiko auf der Grundlage von den Bestimmungsort oder dessen Nähe betreffenden Presseinformationen sowie auf der Grundlage der Erklärung des nationalen Notstands im Abreiseland, die im Zusammenhang mit dem von dem Virus ausgehenden Risiko erfolgt war, bewertete. Unter diesen Umständen erscheint vernünftig, dass ein „durchschnittlicher“ Reisender damit rechnet, dass die Risikosituation im Zeitraum zwischen Rücktritt vom Vertrag und Beginn der Reise fortbestehen oder sich gar weiter verschärfen werde und dass sie somit erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung des Vertrags haben werde.

56.      Was das Element des Maßstabs angeht, dass der Durchschnittsreisende „angemessen aufmerksam und verständig“ ist, spricht dies für ein vernünftiges Maß an Vorsicht seitens des Reisenden. Ein übervorsichtiger Reisender, der sich zum Rücktritt vom Vertrag entscheidet, weil er ängstlich ist, kann nicht von der Zahlung der Rücktrittsgebühr befreit werden, wenn die Situation eine derartige Risikobewertung nicht rechtfertigt. Dagegen ist davon auszugehen, dass der Durchschnittsreisende auf amtliche Informationen oder Reisehinweise achtet, die ein hohes Maß an Vorsicht nahelegen. Die Pandemie hatte erhebliche Auswirkungen insoweit, als das Reisen als potenzieller Ursprung der Ausbreitung des Virus wahrgenommen wurde; dies ist geeignet, die Wahrnehmung des „angemessen aufmerksamen und verständigen“ Reisenden unter solchen Umständen zu beeinflussen. Unter normalen Umständen bezieht sich die mit dem Rücktritt vom Vertrag verbundenen Risikobewertung grundsätzlich nur auf den Reisenden und die mit ihm reisenden Personen. Im Kontext der extrem hohen Übertragbarkeit eines gefährlichen Virus kann ein infizierter Reisender jedoch Personen am Bestimmungsort und nach seiner Rückkehr auch seine Mitbürger gefährden. Unter solchen Umständen kann die bloße Entscheidung, zu reisen, bereits „negative externe Auswirkungen“ haben(27). Auch vor der Einführung von Maßnahmen zur Beschränkung des Reiseverkehrs(28) kann nicht damit gerechnet werden, dass der Durchschnittsreisende wie ein „eigennütziger“ Einzelner handeln würde, der amtliche Informationen, die Vorsicht nahelegen, außer Acht lässt, oder dass er zudem gegen Leitlinien handeln würde, wonach nicht notwendige Zusammenkünfte, Sozialkontakte oder Reisen zu vermeiden sind. Im Kontext der Covid‑19-Pandemie kann das Paradigma des „angemessen aufmerksamen und verständigen“ Durchschnittsreisenden daher auch den verantwortlichen Reisenden einschließen, der amtliche Aufrufe beachtet, die zur Vorsicht und zur Solidarität gegenüber seinen Mitbürgern mahnen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

57.      Daraus folgt, dass die Beurteilung der erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung des Vertrags auf einer zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag vorgenommenen Ex-ante-Beurteilung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser erheblichen Auswirkungen beruht und diese Beurteilung aus der Sicht eines „normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen“ Durchschnittsreisenden vorzunehmen ist.

58.      In Anbetracht aller vorstehenden Ausführungen kann meines Erachtens nicht nur dann festgestellt werden, dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung des Pauschalreisevertrags haben, wenn diese Durchführung unmöglich ist, sondern auch dann, wenn sie erhebliche Risiken für die Gesundheit und Sicherheit der Reisenden mit sich bringt. Diese Folgen sind objektiv zu beurteilen. Subjektive Faktoren im Zusammenhang mit der eingeschränkten Mobilität oder der Schutzwürdigkeit des Reisenden können jedoch berücksichtigt werden, wenn diese Faktoren überprüfbar sind. Die Beurteilung der erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung des Vertrags beruht auf einer zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag vorgenommenen Ex-ante-Beurteilung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser erheblichen Auswirkungen; diese Beurteilung ist aus der Sicht eines normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsreisenden vorzunehmen.

 Dritte Frage

59.      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Recht des Reisenden nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten, durch die Tatsache beeinflusst wird, dass die vom Reisenden geltend gemachten Umstände zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags bereits eingetreten oder zumindest bereits vernünftigerweise vorhersehbar waren. Das vorlegende Gericht möchte insoweit wissen, ob bei der Anwendung des Kriteriums der hinreichenden Vorhersehbarkeit im Kontext der Covid‑19-Pandemie zu berücksichtigen ist, dass der Verlauf und die Folgen der Pandemie zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags schwer vorhersagbar waren.

60.      Insoweit ist, wie schon in den Vorbemerkungen der vorliegenden Schlussanträge(29) angeführt, noch einmal darauf hinzuweisen, dass der Begriff der „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 dem Begriff der höheren Gewalt, wie er nach einer gefestigten Rechtsprechung definiert wird, gleicht, nämlich als Umstände außerhalb der Kontrolle desjenigen, der sich auf höhere Gewalt beruft, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können.

61.      Daraus folgt, dass das Element der Unvorhersehbarkeit ein wesentliches Merkmal dafür ist, eine Situation als „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ einzustufen. Ereignisse, die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits eingetreten sind oder deren Eintreten wahrscheinlich ist, können keine solchen Umstände darstellen; dies gilt jedoch nur, sofern der Reisende die gewöhnlichen Folgen eines solchen Ereignisses auch vorhersehen kann.

62.      Wie im Schrifttum hervorgehoben, hat der Begriff der Unvorhersehbarkeit nämlich relativen(30) Charakter. Es ist auch ein dynamischer Begriff. Zur Bestimmung dessen, was vernünftigerweise vorhersehbar ist, sind die konkreten Umstände und die Fortentwicklung des menschlichen Wissens zu berücksichtigen. Wichtig ist insoweit, zwischen der Unvorhersehbarkeit des Ereignisses einerseits und der Unvorhersehbarkeit seiner Auswirkungen auf den Vertrag andererseits zu unterscheiden(31). Ein Ereignis, das dem Reisenden bekannt ist und das normalerweise bestimmte vorhersehbare Folgen hat, könnte sich zu einer unter „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ einzustufenden Situation entwickeln, wenn sich durch ihre Folgen die Natur des Ereignisses wesentlich verändert. Zur Prüfung der Vorhersehbarkeit kann ein Vergleich angestellt werden zwischen i) den Umständen und der Kenntnis, die der Reisende von diesen Umständen und ihren Folgen zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses hatte (Punkt A), und ii) den Umständen und der Kenntnis, die der Reisende von diesen Umständen und ihren Folgen zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag hatte (Punkt B). Für diesen Vergleich kommt es nicht darauf an, wie viele Tage zwischen Punkt A und Punkt B verstrichen sind. Maßgeblich sind die tatsächlichen Umstände und die Kenntnis des Reisenden. Haben sich diese Elemente erheblich geändert, dann unterscheidet sich die Situation von derjenigen, die dem Reisenden bekannt war oder die er vernünftigerweise vorhersehen konnte.

63.      Was den Kontext der Covid‑19-Pandemie angeht, führt das vorlegende Gericht aus, dass dem Reisenden zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags die Existenz des Virus und seine Auswirkungen, hauptsächlich in China, aber vereinzelt auch in einigen anderen Ländern, bekannt gewesen sei. Nicht gewusst habe der Reisende zu jenem Zeitpunkt, dass das Virus schließlich Europa erreichen und dass sich eine Epidemie zu einer Pandemie entwickeln würde, deren Eindämmung den Erlass beispielloser Maßnahmen erforderlich machen würde. Das vorlegende Gericht hebt die extreme Unsicherheit und die sich schnell fortentwickelnde Situation zwischen dem Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags und dem Zeitpunkt des Rücktritts von diesem Vertrag hervor.

64.      Im Vorabentscheidungsersuchen wird auf die besondere Situation zu Beginn der Covid‑19-Pandemie hingewiesen. In den Wochen vor der offiziellen Einstufung von Covid‑19 als „Pandemie“ durch die WHO am 11. März 2020 sei eine durchschnittliche Person mit normalem Zugang zu amtlichen Informationen nicht in der Lage gewesen, „die Plötzlichkeit, das Ausmaß und die Schwere“ der Pandemie(32) sowie die Folgen, die das Virus in der Folge auf den Reiseverkehr und gerade auch auf die Ausübung der Freizügigkeit haben würde, vorherzusehen. Die WHO selbst habe anerkannt, dass „wir nie zuvor eine durch ein Coronavirus ausgelöste Pandemie erlebt haben“(33). Demnach könne vernünftigerweise die Ansicht vertreten werden, dass die Kenntnis des Reisenden sich im Fall des Ausgangsverfahrens zwischen dem Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags (Anfang Februar 2020) und dem Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag (Ende Februar 2020) ganz erheblich weiterentwickelt gehabt habe. Wenn das nationale Gericht diese Feststellung trifft, kann der Reisende nicht deshalb daran gehindert sein, sich auf „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ zu berufen, weil diese Umstände zu dem Zeitpunkt, zu dem er den Vertrag abschloss, vorhersehbar waren.

65.      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen wird meines Erachtens das Recht des Reisenden nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten, durch die Tatsache beeinflusst, dass die vom Reisenden geltend gemachten Umstände bereits eingetreten oder zumindest bereits vernünftigerweise vorhersehbar waren, als der Reisevertrag abgeschlossen wurde, sofern sich diese Umstände sowie die Kenntnis des Reisenden von diesen Umständen und ihren Folgen nicht zwischen dem Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags und dem Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag erheblich ändern. Insoweit ist bei der Anwendung des Kriteriums der hinreichenden Vorhersehbarkeit im Kontext der Covid-19-Pandemie zu berücksichtigen, dass der Verlauf und die Folgen der Pandemie zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags schwer vorhersagbar waren.

 Vierte Frage

66.      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob für die Beurteilung der erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung des Pauschalreisevertrags, die das Recht nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 begründen, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten, nicht nur die Situation am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe, sondern auch die Situation am Abreiseort sowie den auf der Reise, einschließlich der Rückreise, dazwischen liegenden Orten zu berücksichtigen ist.

67.      Insoweit geht aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 hervor, dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ einen Rücktritt des Reisenden, der einen Anspruch des Reisenden auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen begründet, nur dann rechtfertigen können, wenn sie „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe“ auftreten und „die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“. Außerdem werden im 31. Erwägungsgrund der Richtlinie die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung mit dem Beispiel des „Ausbruch[s] einer schweren Krankheit am Reiseziel“ erläutert(34).

68.      Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Erläuterung des Begriffs „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ durch das Beispiel des „Ausbruch[s] einer schweren Krankheit am Reiseziel“ nicht dazu dient, den Umfang dieses Begriffs auf lokale Ereignisse zu beschränken, sondern dazu, zu verdeutlichen, dass solche Umstände jedenfalls am Bestimmungsort auftreten und deshalb die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen müssen(35). Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass dann, wenn die Ausbreitung einer schweren Krankheit am Bestimmungsort unter den Begriff der „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ fallen kann, dies erst recht für die weltweite Ausbreitung einer schweren Krankheit gelten muss, da deren Auswirkungen auch den Bestimmungsort betreffen(36).

69.      Da von den „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umständen“ auch die weltweite Ausbreitung einer schweren Krankheit umfasst ist, lässt sich hieraus folgerichtig der Schluss ziehen, dass die erheblichen Folgen dieser Umstände für die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort unter Berücksichtigung der Situation am Bestimmungsort sowie der Situation am Abreiseort und den auf der Reise dazwischen liegenden Orten beurteilt werden können.

70.      Für dieses Ergebnis spricht auch eine kontextuelle Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302. In Art. 5 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie sind unter den wesentlichen Eigenschaften der Reiseleistungen u. a. „Transportmittel, ihre Merkmale und Klasse; Ort, Tag und Zeit der Abreise und Rückreise, Dauer und Orte von Zwischenstationen sowie Anschlussverbindungen“ genannt. Nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 müssen diese Informationen im Pauschalreisevertrag enthalten sein. Wie oben in Nr. 42 ausgeführt, hat das erhebliche Risiko für die Gesundheit und Sicherheit des Reisenden erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung des Pauschalreisevertrags. Die Gesundheit und Sicherheit des Reisenden betreffen alle Elemente der Durchführung des Vertrags, einschließlich der Reise an den Bestimmungsort als solcher und der eingesetzten Transportmittel. Demnach ist das Bestehen eines erheblichen Risikos auf der Ebene der Beförderung zum Bestimmungsort bei der Beurteilung der Auswirkungen der „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ auf den Pauschalreisevertrag also ebenfalls zu berücksichtigen.

71.      Darüber hinaus können auch Maßnahmen, die am Abreiseort als Folge der am Bestimmungsort herrschenden Umstände ergriffen werden, in die Beurteilung der erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung des Pauschalreisevertrags einfließen. Wie von der litauischen Regierung im Wesentlichen vorgetragen, liegt, wenn der Bestimmungsort als Hochrisikogebiet eingestuft ist und für zum Abreiseort zurückkehrende Reisende aufgrund dieser Einstufung Isolationsmaßnahmen (Quarantäne) gelten, hierin ein maßgebendes Kriterium für das Vorliegen „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände …, die die Durchführung [des Vertrags] erheblich beeinträchtigen“.

72.      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist meines Erachtens für die Beurteilung der erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung des Pauschalreisevertrags, die das Recht nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 begründen, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten, die Situation am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe sowie die Situation am Abreiseort und den auf der Reise, einschließlich der Rückreise, dazwischen liegenden Orten zu berücksichtigen.

V.      Ergebnis

73.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Die Feststellung nach Art. 12 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates, dass „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ aufgetreten sind, hängt nicht davon ab, ob eine amtliche Reisewarnung der Behörden des Abreise- und/oder Ankunftsstaats, von nicht notwendigen Reisen abzusehen, und/oder eine Einstufung des Bestimmungslands (bzw. evtl. auch des Abreiselands) als Risikogebiet veröffentlicht wurde. Im Einklang mit dem nationalen Verfahrensrecht können die nationalen Gerichte jedoch amtliche Warnungen berücksichtigen, die auf ein hohes Risikoniveau am Bestimmungsort hinweisen, sofern diese Warnungen keine notwendige Voraussetzung für die Feststellung solcher „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ darstellen.

2.      Dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung des Pauschalreisevertrags haben, kann nicht nur dann festgestellt werden, wenn diese Durchführung unmöglich ist, sondern auch dann, wenn sie erhebliche Risiken für die Gesundheit und Sicherheit der Reisenden mit sich bringt. Diese Folgen sind objektiv zu beurteilen. Subjektive Faktoren im Zusammenhang mit der eingeschränkten Mobilität oder der Schutzwürdigkeit des Reisenden können jedoch berücksichtigt werden, wenn diese Faktoren überprüfbar sind. Die Beurteilung der erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung des Vertrags beruht auf einer zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag vorgenommenen Ex-ante-Beurteilung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser erheblichen Auswirkungen; diese Beurteilung ist aus Sicht eines „normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen“ Durchschnittsreisenden vorzunehmen.

3.      Das Recht des Reisenden nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten, wird durch die Tatsache beeinflusst, dass die vom Reisenden geltend gemachten Umstände bereits aufgetreten oder zumindest bereits vernünftigerweise vorhersehbar waren, als der Pauschalreisevertrag abgeschlossen wurde, sofern sich diese Umstände sowie die Kenntnis des Reisenden von diesen Umständen und ihren Folgen nicht zwischen dem Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags und dem Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag erheblich ändern. Insoweit ist bei der Anwendung des Kriteriums der hinreichenden Vorhersehbarkeit im Kontext der Covid‑19-Pandemie zu berücksichtigen, dass der Verlauf und die Folgen der Pandemie zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags schwer vorhersagbar waren.

4.      Für die Beurteilung der erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung des Pauschalreisevertrags, die das Recht nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 begründen, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten, ist die Situation am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe sowie die Situation am Abreiseort und den auf der Reise, einschließlich der Rückreise, dazwischen liegenden Orten zu berücksichtigen.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Vgl. allgemein Hondius, E. u. a. (Hrsg.), Coronavirus and the Law in Europe, Intersentia, Cambridge, 2021.


3      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015, L 326, S. 1).


4      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2023, UFC – Que choisir und CLCV (C‑407/21, EU:C:2023:449, Rn. 55).


5      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, Gemeinde Bodman-Ludwigshafen (C‑256/21, EU:C:2022:786, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).


6      Urteil vom 8. Juni 2023, UFC – Que choisir und CLCV (C‑407/21, EU:C:2023:449, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).


7      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2023, UFC – Que choisir und CLCV (C‑407/21, EU:C:2023:449, Rn. 54 und 56, Hervorhebung nur hier).


8      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Juni 2023, UFC – Que choisir und CLCV (C‑407/21, EU:C:2023:449, Rn. 45), und Kommission/Slowakei (Recht auf kostenfreien Rücktritt)  (C‑540/21, EU:C:2023:450, Rn. 59).


9      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Juni 2023, UFC – Que choisir und CLCV (C‑407/21, EU:C:2023:449, Rn. 46), und Kommission/Slowakei (Recht auf kostenfreien Rücktritt) (C‑540/21, EU:C:2023:450, Rn. 49).


10      Urteil vom 8. Juni 2023, UFC – Que choisir und CLCV (C‑407/21, EU:C:2023:449, Rn. 51).


11      Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Pauschal- und Bausteinreisen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates, COM(2013) 512 final (im Folgenden: Vorschlag der Kommission zu Pauschalreisen).


12      Nach dem 26. Erwägungsgrund des Vorschlags der Kommission zu Pauschalreisen „sollten [solche Umstände] insbesondere dann angenommen werden, wenn zuverlässige und öffentlich verfügbare Hinweise wie Empfehlungen mitgliedstaatlicher Behörden vorliegen, die von einer Reise an den Bestimmungsort abraten“.


13      Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, COM(2021) 90 final, S. 19.


14      Eine stärker koordinierte Vorgehensweise wurde zu einem späteren Zeitpunkt der Covid‑19-Pandemie verfolgt, als die Mitgliedstaaten sich auf eine gemeinsame Karte für das Covid‑19-Risikoniveau in der Europäischen Union einigten, vgl. Empfehlung (EU) 2021/119 des Rates vom 1. Februar 2021 zur Änderung der Empfehlung (EU) 2020/1475 für eine koordinierte Vorgehensweise bei der Beschränkung der Freizügigkeit aufgrund der COVID-19-Pandemie (ABl. 2021, L 36I, S. 1).


15      Wenn eine amtliche Warnung vorliegt, von Reisen abzusehen, wird der Pauschalreisevertrag in der Regel vom Reiseveranstalter von sich aus nach Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 beendet.


16      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, PrivatBank (C‑480/18, EU:C:2020:274, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17      Commission Staff Working Document, Impact Assessment, Accompanying the document on package travel and assisted travel arrangements, amending Regulation (EC) No 2006/2004 and Directive 2011/83/EU and repealing Council Directive 90/314/EEC (Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Folgenabschätzung zum Dokument über Pauschal- und Bausteinreisen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates), SWD(2013) 263 final (im Folgenden: Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen zu Pauschalreisen), S. 78.


18      Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen zu Pauschalreisen, S. 78.


19      Ebd. (Hervorhebung nur hier).


20      Vgl. Urteil vom 12. Januar 2023, FTI Touristik (Pauschalreise auf die Kanarischen Inseln) (C‑396/21, EU:C:2023:10, Rn. 22).


21      Vgl. Reich, N., „Vulnerable Consumers in EU Law“, in Leczykiewicz, D., und Weatherill, S. (Hrsg.), The Images of the Consumer in EU Law: Legislation, Free Movement and Competition Law, Hart Publishing, London, 2016, S. 139-158, S. 141. Der Autor unterscheidet innerhalb des Verbrauchervertragsrechts der Union drei Arten von Schutzbedürftigkeit, nämlich körperliche Behinderung, geistige Behinderung und wirtschaftliche Behinderung. Er unterscheidet ferner zwischen der Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers und der „Schwäche des Verbrauchers“ im vertraglichen Umfeld.


22      Vgl. Tonner, K., „BGH 651h, Rücktritt vor Reisebeginn“, Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl., C. H. Beck, München, 2023, Rn. 71.


23      Wenn beispielsweise ein Reisender eine Wanderreise in einem Wald in Kanada gebucht hat und seine Reise in drei Monaten beginnen soll, ist in dem Fall, dass der Wald durch einen Waldbrand vollständig zerstört wird, unmöglich, dass der Wald innerhalb von drei Monaten in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden wird. Hat der Reisende dagegen eine Reise auf eine Insel gebucht, die in drei Monaten beginnen soll, ist in dem Fall, dass es dort Brände gibt, schwerer vorherzusehen, wie die Situation sich innerhalb von drei Monaten weiterentwickeln wird.


24      Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen zu Pauschalreisen, S. 78.


25      Vgl. 51. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2302.


26      Vgl. z. B. für die Verwendung des Maßstabs des „Durchschnittsverbrauchers“ im Bereich der missbräuchlichen Klauseln Urteile vom 16. März 2023, Caixabank (Provision für die Bereitstellung des Darlehens) (C‑565/21, EU:C:2023:212, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 18. November 2021, A. S.A. (C‑212/20, EU:C:2021:934, Rn. 42). Zu einem allgemeinen Überblick vgl. Leczykiewicz, D., und Weatherill, S., a. a. O., Fn. 21.


27      Vgl. Miller, L., „Ethical Consumption and the Internal Market“, in Leczykiewicz, D., und Weatherill, S., a. a. O., Fn. 21, S. 279, der den Gedanken der „negativen externen Auswirkungen“ im Kontext der mit dem Konsum verbundenen umweltbezogenen und sozialen Auswirkungen entwickelt.


28      Insbesondere vor der Einführung öffentlich-rechtlicher Maßnahmen zur Beschränkung des Reiseverkehrs kommt dem Verantwortungssinn Bedeutung zu. Nach Einführung öffentlich-rechtlicher Maßnahmen muss der Reisende sich in jedem Fall an das Gesetz halten.


29      Siehe oben, Nr. 29.


30      Philippe, D., „The Impact of the Coronavirus Crisis on the Analysis and Drafting of Contract Terms. Force Majeure, Hardship and Deferral of Obligations“, in Hondius, E., u. a. (Hrsg.), Coronavirus and the Law in Europe, Intersentia, Cambridge, 2021, S. 527-552, S. 532.


31      Ebd.


32      Vgl. S. 5 der „Guidance on the right of travellers to terminate package travel contracts due to extraordinary circumstances resulting from COVID-19“ (Leitlinien zum Recht von Reisenden auf Rücktritt von Pauschalreiseverträgen aufgrund außergewöhnlicher Umstände wegen COVID-19) der irischen Regierung, Abteilung Unternehmen, Handel und Beschäftigung, vom 26. März 2020.


33      Einleitende Stellungnahme des Generaldirektors der WHO in der Medienkonferenz zu Covid‑19 vom 11. März 2020.


34      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2023, UFC – Que choisir und CLCV (C‑407/21, EU:C:2023:449, Rn. 44 und 46).


35      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2023, UFC – Que choisir und CLCV (C‑407/21, EU:C:2023:449, Rn. 47).


36      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2023, UFC – Que choisir und CLCV, (C‑407/21, EU:C:2023:449, Rn. 48).