URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

24. Juni 2019(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Grundsätze der Unabsetzbarkeit der Richter und der richterlichen Unabhängigkeit – Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Obersten Gerichts – Anwendung auf amtierende Richter – Möglichkeit zur Ausübung des Richteramts über dieses Alter hinaus unter der Voraussetzung einer Zustimmung, deren Erteilung in das freie Ermessen des Präsidenten der Republik gestellt ist“

In der Rechtssache C‑619/18

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 2. Oktober 2018,

Europäische Kommission, vertreten durch K. Banks, H. Krämer und S. L. Kalėda als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, K. Majcher und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten,

Streithelfer,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten M. Vilaras und E. Regan, der Richter E. Juhász, M. Ilešič, J. Malenovský, L. Bay Larsen, D. Šváby, C. Vajda, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters I. Jarukaitis,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Februar 2019,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. April 2019

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klageschrift beantragt die Europäische Kommission festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen hat, dass sie zum einen das Ruhestandsalter für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) herabgesetzt und diese Maßnahme auf amtierende Richter angewandt hat, die vor dem 3. April 2018 an dieses Gericht berufen worden waren, und zum anderen dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen hat, den aktiven Dienst der Richter dieses Gerichts über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 EU-Vertrag

2        Art. 2 EUV lautet:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

3        Art. 19 Abs. 1 EUV bestimmt:

„Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.

Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“

 Charta

4        Titel VI („Justizielle Rechte“) Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta lautet:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …

…“

5        Art. 51 der Charta bestimmt:

„(1)      Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.

(2)      Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“

 Polnisches Recht

 Verfassung

6        Nach Art. 183 Abs. 3 der Verfassung wird der Erste Präsident des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) für die Dauer von sechs Jahren ernannt.

7        Art. 186 Abs. 1 der Verfassung lautet:

„Die Krajowa Rada Sądownictwa [Landesjustizrat] schützt die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter.“

8        Art. 187 der Verfassung bestimmt:

„1.      Der Landesjustizrat besteht aus:

1)      dem ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht], dem Justizminister, dem Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny [Oberstes Verwaltungsgericht] und einer vom Präsidenten der Republik berufenen Person,

2)      fünfzehn Mitgliedern, die aus der Mitte der Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht], der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungs- und Militärgerichte gewählt worden sind,

3)      vier Mitgliedern, die vom Sejm [Erste Kammer des Parlaments] aus der Mitte der Abgeordneten und zwei Mitgliedern, die vom Senat aus der Mitte der Senatoren gewählt worden sind.

3.      Die Amtszeit der gewählten Mitglieder des Landesjustizrats beträgt vier Jahre.

4.      Die Ordnung, den Umfang der Tätigkeit und die Arbeitsweise des Landesjustizrates sowie die Wahl seiner Mitglieder werden durch Gesetz geregelt.“

 Das neue Gesetz über das Oberste Gericht

9        In Art. 30 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 23. November 2002 (Dz. U. 2002, Pos. 240) war das Ruhestandsalter für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf 70 Jahre festgesetzt. Nach dieser Bestimmung hatten die Richter dieses Gerichts außerdem die Möglichkeit, spätestens sechs Monate vor Vollendung ihres 70. Lebensjahrs gegenüber dem Ersten Präsidenten dieses Gerichts eine Erklärung abzugeben, im Amt verbleiben zu wollen, und eine Bescheinigung vorzulegen, dass ihr Gesundheitszustand dies erlaube; in diesem Fall konnten sie ihr Amt automatisch bis zur Vollendung des 72. Lebensjahrs ausüben.

10      Am 20. Dezember 2017 unterzeichnete der Präsident der Republik die Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5; im Folgenden: neues Gesetz über das Oberste Gericht), das am 3. April 2018 in Kraft getreten ist. Dieses Gesetz ist mehrfach geändert worden, u. a. durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 10. Mai 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 1045; im Folgenden: Änderungsgesetz vom 10. Mai 2018).

11      Art. 37 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

§ 1.      Ein Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] tritt mit Vollendung des 65. Lebensjahrs in den Ruhestand, es sei denn, er gibt frühestens zwölf und spätestens sechs Monate vor Erreichen dieses Alters eine Erklärung ab, im Amt verbleiben zu wollen, er legt eine Bescheinigung über seine gesundheitliche Befähigung zur Ausübung des Richteramts vor, die nach den für Bewerber um eine Richterstelle geltenden Grundsätzen erteilt wird, und der Präsident der Republik Polen erteilt seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Obersten Gericht.

§ 1a.      Der Präsident der Republik Polen holt vor Erteilung der Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] eine Stellungnahme des Landesjustizrats ein. Der Landesjustizrat übermittelt dem Präsidenten der Republik Polen die Stellungnahme innerhalb von 30 Tagen ab dem Tag ihrer Anforderung durch den Präsidenten der Republik Polen. Wenn innerhalb der in Satz 2 genannten Frist keine Stellungnahme übermittelt worden ist, gilt eine befürwortende Stellungnahme des Landesjustizrats als erteilt.

§ 1b.      Der Landesjustizrat berücksichtigt bei der Anfertigung der in § 1a genannten Stellungnahme das Interesse der Rechtspflege oder wichtige öffentliche Interessen, insbesondere die rationelle Nutzung der Personalressourcen des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] oder den Bedarf, der sich aus der Arbeitsbelastung einzelner Kammern des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] ergibt.

§ 2.      Die Erklärung und die Bescheinigung nach § 1 sind dem Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] vorzulegen, der sie zusammen mit seiner Stellungnahme unverzüglich dem Präsidenten der Republik Polen vorlegt. Der Erste Präsident des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] legt dem Präsidenten der Republik Polen seine Erklärung und die Bescheinigung samt einer Stellungnahme des Kollegiums des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] vor.

§ 3.      Der Präsident der Republik Polen kann innerhalb von drei Monaten nach dem Erhalt der in § 1a genannten Stellungnahme des Landesjustizrats oder dem Ablauf der Frist für deren Übermittlung seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] erteilen. Bei Nichterteilung der Zustimmung innerhalb der in Satz 1 genannten Frist gilt der Richter als mit dem Tag der Vollendung des 65. Lebensjahrs in den Ruhestand getreten. Ist das Verfahren bezüglich des Verbleibs im Amt als Richter am Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] nach Erreichen des in § 1 genannten Alters noch nicht abgeschlossen, bleibt der Richter bis zum Abschluss dieses Verfahrens im Amt.

§ 4.      Die Zustimmung nach § 1 wird für die Dauer von drei Jahren – höchstens zweimal – erteilt. § 3 gilt entsprechend. …“

12      Art. 39 dieses Gesetzes bestimmt:

„Das Datum des Eintritts oder der Versetzung eines Richters des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] in den Ruhestand wird vom Präsidenten der Republik Polen festgestellt.“

13      Art. 111 des Gesetzes sieht vor:

„§ 1.      Die Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht], die das 65. Lebensjahr bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes vollendet haben oder innerhalb von drei Monaten nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes vollenden, treten drei Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes in den Ruhestand, es sei denn, sie legen innerhalb eines Monats nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die Erklärung und die Bescheinigung nach Art. 37 § 1 vor und der Präsident der Republik Polen erteilt seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]. Art. 37 §§ 2 bis 4 findet entsprechend Anwendung.

§ 1a.      Die Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht], die das 65. Lebensjahr mehr als drei und weniger als zwölf Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes vollenden, treten zwölf Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes in den Ruhestand, es sei denn, sie legen innerhalb eines Monats nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die Erklärung und die Bescheinigung nach Art. 37 § 1 vor und der Präsident der Republik Polen erteilt seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]. Art. 37 §§ 1a bis 4 findet entsprechend Anwendung.“

14      Das Änderungsgesetz vom 10. Mai 2018 enthält neben Bestimmungen zur Änderung des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht einige eigenständige Bestimmungen über das Verfahren zur Verlängerung der Amtszeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die bis zum 3. Juli 2018 das Ruhestandsalter erreicht hatten. Art. 5 dieses Änderungsgesetzes lautet:

„Erklärungen nach Art. 37 § 1 und Art. 111 § 1 des [neuen Gesetzes über das Oberste Gericht], die der Präsident der Republik Polen am Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes nicht geprüft hat, werden von diesem unverzüglich dem Landesjustizrat zur Stellungnahme übermittelt. Der Landesjustizrat gibt die Stellungnahme innerhalb von 30 Tagen ab dem Tag ihrer Anforderung durch den Präsidenten der Republik Polen ab. Der Präsident der Republik Polen kann innerhalb von 60 Tagen nach dem Erhalt der Stellungnahme des Landesjustizrats oder dem Ablauf der Frist für deren Übermittlung seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) erteilen. Art. 37 §§ 2 bis 4 des [neuen Gesetzes über das Oberste Gericht] findet entsprechend Anwendung.“

 Vorverfahren

15      Da die Kommission der Ansicht war, dass die Republik Polen mit dem Erlass des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht und der nachfolgenden Gesetze zu dessen Änderung gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstoßen habe, richtete sie am 2. Juli 2018 ein Aufforderungsschreiben an diesen Mitgliedstaat. Die Republik Polen antwortete darauf mit Schreiben vom 2. August 2018, in dem sie jeden Verstoß gegen das Unionsrecht bestritt.

16      Am 14. August 2018 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie an ihrer Auffassung festhielt, dass die in der vorstehenden Randnummer erwähnten nationalen Rechtsvorschriften gegen die genannten Unionsrechtsvorschriften verstießen. Sie forderte die Republik Polen daher auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen eines Monats nach ihrem Erhalt nachzukommen. Die Republik Polen antwortete darauf mit Schreiben vom 14. September 2018, in dem sie die Existenz der gerügten Verstöße in Abrede stellte.

17      Unter diesen Umständen hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.

 Verfahren vor dem Gerichtshof

18      Mit gesondertem Schriftsatz, der am 2. Oktober 2018 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Kommission einen Antrag auf einstweilige Anordnungen nach Art. 279 AEUV und Art. 160 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs gestellt, mit denen der Republik Polen aufgegeben werden sollte, bis zum Erlass des Urteils in der Hauptsache

–        die Anwendung von Art. 37 §§ 1 bis 4 und Art. 111 §§ 1 und 1a des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht und von Art. 5 des Änderungsgesetzes vom 10. Mai 2018 sowie aller Maßnahmen, die aufgrund dieser Bestimmungen getroffen worden sind, auszusetzen;

–        alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die von den genannten Vorschriften betroffen sind, ihr Amt, das sie am 3. April 2018, dem Tag des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht, wahrgenommen haben, mit demselben Status und zu denselben Beschäftigungsbedingungen, wie sie ihnen am 3. April 2018 zustanden, weiter ausüben können;

–        alle Maßnahmen zu unterlassen, die bezwecken, Richter an den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf die Stellen der Richter zu ernennen, die von den streitigen nationalen Vorschriften betroffen sind, oder einen neuen Ersten Präsidenten dieses Gerichts zu ernennen bzw. eine Person zu benennen, die anstelle seines Ersten Präsidenten bis zur Ernennung eines neuen Ersten Präsidenten mit der Leitung dieses Gerichts betraut werden soll;

–        der Kommission spätestens einen Monat nach der Zustellung des Beschlusses des Gerichtshofs, mit dem die beantragten einstweiligen Anordnungen erlassen werden, dann regelmäßig jeden Monat, alle Maßnahmen mitzuteilen, die sie erlässt, um diesem Beschluss in vollem Umfang nachzukommen.

19      Die Kommission hat außerdem nach Art. 160 Abs. 7 der Verfahrensordnung beantragt, wegen der Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz bei der Anwendung des Unionsrechts die in der vorstehenden Randnummer genannten einstweiligen Anordnungen noch vor Eingang der Stellungnahme der Antragsgegnerin zu erlassen.

20      Mit Beschluss vom 19. Oktober 2018, Kommission/Polen (C‑619/18 R, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:852), hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs dem letztgenannten Antrag vorläufig bis zum Erlass des Beschlusses stattgegeben, mit dem das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beendet wird.

21      Am 23. Oktober 2018 hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß Art. 161 Abs. 1 der Verfahrensordnung dem Gerichtshof übertragen, der es in Anbetracht seiner Bedeutung gemäß Art. 60 Abs. 1 der Verfahrensordnung an die Große Kammer verwiesen hat.

22      Mit Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen (C‑619/18 R, EU:C:2018:1021), hat der Gerichtshof dem Antrag der Kommission auf einstweilige Anordnungen bis zur Verkündung des die vorliegende Rechtssache beendenden Urteils stattgegeben.

23      Ferner hat der Präsident des Gerichtshofs mit Beschluss vom 15. November 2018, Kommission/Polen (C‑619/18, EU:C:2018:910), auf Antrag der Kommission entschieden, die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 133 der Verfahrensordnung dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.

24      Mit Beschluss vom 9. Januar 2019 hat der Präsident des Gerichtshofs Ungarn als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Republik Polen zugelassen.

 Zur Klage

25      In ihrer Klageschrift macht die Kommission zwei Rügen geltend, mit denen sie einen Verstoß gegen Verpflichtungen geltend macht, die sich für die Mitgliedstaaten aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta ergeben.

26      Mit ihrer ersten Rüge wirft die Kommission der Republik Polen vor, gegen diese Verpflichtungen verstoßen zu haben, da das neue Gesetz über das Oberste Gericht unter Verstoß gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und insbesondere gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter vorsehe, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auch für amtierende Richter gelte, die vor dem 3. April 2018, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes, an dieses Gericht berufen worden seien. Mit ihrer zweiten Rüge wirft die Kommission der Republik Polen vor, dadurch gegen diese Verpflichtungen verstoßen zu haben, dass sie den Präsidenten der Republik mit diesem Gesetz und unter Verstoß gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit ermächtigt habe, die aktive Dienstzeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nach seinem freien Ermessen über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus, zweimal für jeweils drei Jahre, zu verlängern.

 Zum Fortbestand des Streitgegenstands

27      In der mündlichen Verhandlung hat die Republik Polen geltend gemacht, dass durch die Ustawa o zmianie ustawy o Sądzie Najwyższym (Gesetz zur Änderung des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht) vom 21. November 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 2507), das vom Präsidenten der Republik am 17. Dezember 2018 unterzeichnet worden und am 1. Januar 2019 in Kraft getreten sei, sämtliche nationalen Vorschriften, die die Kommission beanstande, aufgehoben und alle ihre Wirkungen beseitigt worden seien.

28      Die amtierenden Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die bereits von der mit dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht vorgenommenen Herabsetzung des Ruhestandsalters betroffen gewesen seien, seien nämlich zu den vor dem Erlass dieses Gesetzes geltenden Bedingungen in ihrem Amt bei diesem Gericht verblieben oder wieder in dieses eingesetzt worden, und ihre Amtszeit gelte im Übrigen als nicht unterbrochen. Auch die Vorschriften, die es dem Präsidenten der Republik ermöglichten, die Verlängerung der Amtszeit eines Richters des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) bei Erreichen des Regelruhestandsalters zu genehmigen, seien aufgehoben worden. Unter diesen Umständen hält die Republik Polen das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren für nunmehr gegenstandslos.

29      Die Kommission ihrerseits hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass sie ihre Klage aufrechterhalte.

30      Insoweit genügt der Hinweis, dass das Vorliegen einer Vertragsverletzung nach ständiger Rechtsprechung anhand der Situation zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgesetzt worden war, und später eingetretene Veränderungen vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden können (vgl. u. a. Urteil vom 6. November 2012, Kommission/Ungarn, C‑286/12, EU:C:2012:687‚ Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Im vorliegenden Fall steht fest, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem die von der Kommission in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzte Frist abgelaufen war, die von der Kommission mit der vorliegenden Klage angefochtenen Bestimmungen des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht noch in Kraft waren. Folglich muss der Gerichtshof über die vorliegende Klage entscheiden, und zwar ungeachtet des Umstands, dass das Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht vom 21. November 2018 möglicherweise zur Folge hat, dass alle Wirkungen der von der Kommission beanstandeten nationalen Vorschriften rückwirkend beseitigt worden sind; denn ein solches Ereignis kann keine Berücksichtigung finden, da es nach dem Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist eingetreten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2012, Kommission/Ungarn, C‑286/12, EU:C:2012:687‚ Rn. 45).

 Zum Umfang der Klage

32      In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission klargestellt, dass sie mit ihrer Klage im Wesentlichen die Feststellung beantragt, dass ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta, vorliegt. Der Begriff des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sei in Anbetracht des Inhalts von Art. 47 der Charta und insbesondere der Garantien, die mit dem in dieser Bestimmung verankerten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf untrennbar verbunden seien, nämlich dahin auszulegen, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfordere, dass gewährleistet sein müsse, dass die Unabhängigkeit einer Einrichtung wie des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der u. a. die Aufgabe übertragen sei, das Unionsrecht auszulegen und anzuwenden, gewahrt bleibe.

33      Für die Entscheidung über die vorliegende Klage ist daher zu prüfen, ob die Republik Polen gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat.

 Anwendbarkeit und Tragweite von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV

 Vorbringen der Parteien

34      Unter Berufung insbesondere auf die Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586), macht die Kommission geltend, die Mitgliedstaaten müssten, um der ihnen nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV obliegenden Verpflichtung nachzukommen, ein System von Rechtsbehelfen vorzusehen, das einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleiste, u. a. garantieren, dass die nationalen Einrichtungen, die über Fragen zu entscheiden hätten, die die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts beträfen, die Anforderung der richterlichen Unabhängigkeit erfüllten, die zum Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren gehöre, wie es u. a. durch Art. 47 Abs. 2 der Charta garantiert werde.

35      Da der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eine solche Einrichtung sei, müssten die nationalen Vorschriften über die Zusammensetzung, die Organisationsstruktur und die Funktionsweise dieses Gerichts gewährleisten, dass dieses die Anforderung der Unabhängigkeit erfülle.

36      Diese Anforderung betreffe nämlich nicht nur den Ablauf des Verfahrens im Einzelfall, sondern auch die Art und Weise der Organisation der Justiz. Eine nationale Maßnahme, die die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte allgemein beeinträchtige, hätte zur Folge, dass ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz u. a. dann nicht mehr gewährleistet sei, wenn die betroffenen Gerichte das Unionsrecht anwendeten oder auslegten.

37      Die Republik Polen macht – hierbei unterstützt von Ungarn – geltend, dass nationale Vorschriften wie die von der Kommission mit der vorliegenden Klage beanstandeten nicht Gegenstand einer Kontrolle anhand von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta sein könnten.

38      Zum einen enthielten diese Unionsrechtsvorschriften nämlich keine Ausnahme vom Grundsatz der Einzelermächtigung, der für die Zuständigkeiten der Union gelte und sich aus Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und 2 sowie aus Art. 13 Abs. 2 EUV ergebe. Es sei unstreitig, dass die Organisation der nationalen Justiz eine ausschließlich den Mitgliedstaaten vorbehaltene Zuständigkeit sei, so dass sich die Union in diesem Bereich keine Zuständigkeiten anmaßen könne.

39      Zum anderen könnten Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta ebenso wie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, zu denen der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gehöre, nur in den unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung beanspruchen.

40      Die nationalen Vorschriften, die die Kommission in der vorliegenden Rechtssache beanstande, wiesen keinen Bezug zum Unionsrecht auf und unterschieden sich insoweit von der nationalen Regelung, zu der das Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), ergangen sei; diese Regelung sei mit der Gewährung einer Finanzhilfe der Union an einen Mitgliedstaat im Zusammenhang mit der Bekämpfung übermäßiger Haushaltsdefizite verknüpft gewesen und damit in Anwendung des Unionsrechts erlassen worden.

41      Art. 47 der Charta könne im vorliegenden Fall ebenfalls keine Geltung beanspruchen, da es vorliegend nicht um die Durchführung des Rechts der Union im Sinne ihres Art. 51 Abs. 1 gehe. Aus Art. 6 Abs. 1 EUV sowie aus Art. 51 Abs. 2 der Charta und dem Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich (ABl. 2010, C 83, S. 313) ergebe sich im Übrigen, dass die Charta den Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehne.

 Würdigung durch den Gerichtshof

42      Es ist daran zu erinnern, dass die Union – wie sich aus Art. 49 EUV ergibt, wonach jeder europäische Staat beantragen kann, Mitglied der Union zu werden – aus Staaten besteht, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen, so dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen übrigen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt und anerkennt, dass diese sie mit ihm teilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere ihren Gerichten bei der Anerkennung dieser Werte, auf die sich die Union gründet und zu denen die Rechtsstaatlichkeit gehört, und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem diese umgesetzt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 30, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 35).

44      Zu berücksichtigen ist außerdem, dass die Verträge, um sicherzustellen, dass die besonderen Merkmale und die Autonomie der Rechtsordnung der Union erhalten bleiben, ein Gerichtssystem geschaffen haben, das zur Gewährleistung der Kohärenz und der Einheitlichkeit bei der Auslegung des Unionsrechts dient (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Insbesondere besteht das Schlüsselelement des so gestalteten Gerichtssystems in dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren, das durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht gerade zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die Kohärenz und die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 37).

46      Schließlich ist die Union, wie sich aus ständiger Rechtsprechung ergibt, eine Rechtsunion, in der den Einzelnen das Recht zusteht, die Rechtmäßigkeit nationaler Entscheidungen oder jeder anderen nationalen Handlung, mit der eine Handlung der Union auf sie angewandt wird, gerichtlich anzufechten (Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 49).

47      In diesem Kontext überträgt Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen, zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 32, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Insoweit – und wie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehen -schaffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Die Mitgliedstaaten müssen daher ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorsehen, mit dem in diesen Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist (vgl. Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist nämlich ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist ferner darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117‚ Rn. 29).

51      Entgegen der von der Republik Polen und Ungarn hierzu vertretenen Auffassung hat der Umstand, dass die nationalen Maßnahmen zur Kürzung von Bezügen, die in der Rechtssache in Rede standen, in der das Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), ergangen ist, erlassen worden waren, weil sich der betreffende Mitgliedstaat gezwungen sah, ein übermäßiges Haushaltsdefizit abzubauen, und mit einem Finanzhilfeprogramm der Union für diesen Mitgliedstaat zusammenhingen, wie sich aus den Rn. 29 bis 40 jenes Urteils ergibt, keine Rolle bei der Auslegung gespielt, die den Gerichtshof zu der Feststellung veranlasst hat, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in der betreffenden Rechtssache anwendbar war. Diese Feststellung stützte sich nämlich auf den Umstand, dass die nationale Einrichtung, um die es in dieser Rechtssache ging, nämlich das Tribunal de Contas (Rechnungshof, Portugal), – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das jene Rechtssache vorlegende Gericht – als „Gericht“ über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hatte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117‚ Rn. 40).

52      Im Übrigen fällt zwar – worauf die Republik Polen und Ungarn hinweisen – die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit; unbeschadet dessen müssen die Mitgliedstaaten aber bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 13. November 2018, Raugevicius, C‑247/17, EU:C:2018:898, Rn. 45, sowie vom 26. Februar 2019, Rimšēvičs und EZB/Lettland, C‑202/18 und C‑238/18, EU:C:2019:139, Rn. 57), insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117‚ Rn. 40). Darüber hinaus will die Union, wenn sie von den Mitgliedstaaten verlangt, dass diese ihre Verpflichtungen in dieser Weise einhalten, weder in irgendeiner Weise selbst diese Zuständigkeit ausüben noch – anders als die Republik Polen meint – sich diese Zuständigkeit anmaßen.

53      Hinsichtlich des Protokolls Nr. 30 schließlich ist zu bemerken, dass es sich nicht auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bezieht; im Übrigen stellt es auch die Geltung der Charta für Polen nicht in Frage und bezweckt nicht, die Republik Polen und das Vereinigte Königreich von der Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen der Charta freizustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 119 und 120).

54      Aus alledem ergibt sich, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz im Sinne von insbesondere Art. 47 der Charta in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist (Urteil vom 14. Juni 2017, Online Games u. a., C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Insbesondere hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 37, und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586‚ Rn. 52).

56      Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden kann und dass er als „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist, so dass dieses Gericht den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden muss (Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021‚ Rn. 43).

57      Um zu gewährleisten, dass eine Einrichtung wie der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in der Lage ist, einen solchen Schutz zu bieten, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtung gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 41, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 53).

58      Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 48 und 63).

59      Nach alledem können die von der Kommission mit ihrer Klage beanstandeten nationalen Vorschriften Gegenstand einer Kontrolle anhand von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sein, und es ist daher zu prüfen, ob die von der Kommission behaupteten Verstöße gegen diese Vorschrift tatsächlich vorliegen.

 Zur ersten Rüge

 Vorbringen der Parteien

60      Mit ihrer ersten Rüge wirft die Kommission der Republik Polen vor, deshalb gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen zu haben, weil das neue Gesetz über das Oberste Gericht vorsehe, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auch für amtierende Richter gelte, die vor dem 3. April 2018, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes, an dieses Gericht berufen worden seien. Dadurch habe dieser Mitgliedstaat gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und insbesondere den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter verstoßen.

61      Art. 37 § 1 und Art. 111 §§ 1 und 1a des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht hätten zur Folge, dass die Richter dieses Gerichts, die ihr 65. Lebensjahr vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes, also vor dem 3. April 2018, oder bis zum 3. Juli 2018 vollendet hätten, grundsätzlich am 4. Juli 2018 in den Ruhestand träten und diejenigen, die ihr 65. Lebensjahr zwischen dem 4. Juli 2018 und dem 3. April 2019 vollendeten, grundsätzlich am 3. April 2019 in den Ruhestand treten müssten. Die Richter, die ihr 65. Lebensjahr nach dem 3. April 2019 vollendeten, müssten grundsätzlich mit Erreichen dieses Lebensalters in den Ruhestand treten.

62      Im Übrigen hätten diese nationalen Vorschriften 27 der 72 Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht im Amt gewesen seien, darunter auch dessen Erste Präsidentin, mit sofortiger Wirkung betroffen. Die Erste Präsidentin dieses Gerichts sei zudem gemäß Art. 183 Abs. 3 der Verfassung für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt worden, die in ihrem Fall am 30. April 2020 ablaufen würde.

63      Indem die Republik Polen das Ruhestandsalter für amtierende Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in dieser Weise herabgesetzt und ferner gleichzeitig in den Art. 112 und 112a des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht den Präsidenten der Republik ermächtigt habe, bis zum 3. April 2019 nach freiem Ermessen über eine Erhöhung der Zahl der Stellen an diesem Gericht zu entscheiden, habe sie den Weg für eine grundlegende und sofortige Neubesetzung dieses Gerichts freigemacht und dadurch gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter als einer wesentlichen Garantie für deren Unabhängigkeit und somit gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen.

64      Zwar dürfe eine Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter nicht völlig ausgeschlossen werden, doch seien geeignete Maßnahmen, wie eine Übergangszeit oder eine Herabsetzung in Stufen, die es ermöglichten, zu verhindern, dass eine solche Herabsetzung zu dem kaschierten Zweck genutzt werde, die Besetzung der Gerichte zu ändern, in jedem Fall notwendig, um jeglichem Eindruck entgegenzuwirken, dass der wahre Grund für die Verkürzung der Amtszeit der Richter deren Tätigkeiten bei der aktiven Ausübung ihres Amts sei, und diesen Richtern nicht die Sicherheit zu nehmen, im Amt verbleiben zu können.

65      Nach Ansicht der Republik Polen erfordert Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bei einer Herabsetzung des Ruhestandsalters nicht zwingend eine Übergangszeit für amtierende Richter, um deren Unabhängigkeit zu gewährleisten. Da das betreffende Ruhestandsalter allgemein und automatisch für sämtliche betroffenen Richter gelte, sei es nämlich nicht geeignet, Druck auszuüben, der die Betroffenen bei der Ausübung ihres Richteramts beeinflussen könnte.

66      Im polnischen Rechtssystem werde die Unabhängigkeit der Justiz in erster Linie durch die Beständigkeit des Richteramts, die die Garantie der Unabsetzbarkeit einschließe, die Immunität, eine angemessene Besoldung, das Beratungsgeheimnis, die Unvereinbarkeit des Richteramts mit anderen öffentlichen Ämtern, die Pflicht zur politischen Neutralität und das Verbot der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit gewährleistet. Die Abberufung von Richtern sei nur bei Vorliegen schwerwiegendster disziplinarischer Verfehlungen oder im Fall einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung zulässig. Der Eintritt eines Richters in den Ruhestand stelle jedoch keine Abberufung dar, da der Betreffende den Titel eines Richters behalte, als solcher weiterhin Immunität genieße und Anspruch auf angemessene Bezüge habe und gleichzeitig verschiedene berufsständische Regeln für ihn fortgälten.

67      Ferner ergebe sich aus den Urteilen vom 21. Juli 2011, Fuchs und Köhler (C‑159/10 und C‑160/10, EU:C:2011:508), und vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), dass die Mitgliedstaaten befugt blieben, die für Richter geltenden Arbeitsbedingungen und damit deren Ruhestandsalter anzupassen, insbesondere um, wie im vorliegenden Fall, deren Ruhestandsalter dem Ruhestandsalter anzugleichen, das im allgemeinen Altersversorgungssystem vorgesehen sei, und gleichzeitig die Altersstruktur der Richterschaft des betreffenden Gerichts zu optimieren.

68      Sollte schließlich davon auszugehen sein, dass sich das Ruhestandsalter eines Richters nach der Rechtslage zum Zeitpunkt seines Amtsantritts bestimmen müsse, so wäre im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass das Ruhestandsalter für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) im Jahr 2002 geändert und wieder auf 70 Jahre erhöht worden sei, nachdem es zwischen 1990 und 2002 auf 65 Jahre festgesetzt gewesen sei. 17 der 27 an diesem Gericht tätigen Richter, die von der Herabsetzung des Ruhestandsalters infolge des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht betroffen seien, seien zwischen 1990 bis 2002 ernannt worden, so dass es bei ihnen zu keiner Verkürzung der ursprünglichen Dauer ihrer Amtszeit komme.

69      Ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) als Kriterium für die Bestimmung des Ruhestandsalters dieser Richter würde zudem die Gefahr einer Diskriminierung zwischen den Richtern dieses Gerichts mit sich bringen, da einige von ihnen, insbesondere diejenigen, die nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht ernannt würden, früher in den Ruhestand treten müssten als andere, die vor seinem Inkrafttreten zu einer Zeit ernannt worden seien, als das Ruhestandsalter bei 70 Jahren gelegen habe.

70      Nach Ansicht Ungarns hat die Kommission nicht dargetan, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und die sich daraus ergebende Versetzung einiger Richter dieses Gerichts in den Ruhestand die Fähigkeit dieses Gerichts beeinträchtigen könnten, einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten.

 Würdigung durch den Gerichtshof

71      Das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit, deren Wahrung die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wie in den Rn. 42 bis 59 des vorliegenden Urteils ausgeführt, in Bezug auf die nationalen Gerichte sicherstellen müssen, die – wie der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) – über Fragen zu entscheiden haben, die mit der Auslegung und der Anwendung des Unionsrechts verknüpft sind, umfasst zwei Aspekte.

72      Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

73      Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

74      Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

75      Speziell erfordert diese unerlässliche Freiheit der Richter von jeglichen Interventionen oder jeglichem Druck von außen – wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat – bestimmte Garantien, die geeignet sind, die mit der Aufgabe des Richtens Betrauten in ihrer Person zu schützen, wie z. B. die Unabsetzbarkeit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

76      Der Grundsatz der Unabsetzbarkeit erfordert insbesondere, dass die Richter im Amt bleiben dürfen, bis sie das obligatorische Ruhestandsalter erreicht haben oder ihre Amtszeit, sofern diese befristet ist, abgelaufen ist. Dieser Grundsatz beansprucht zwar nicht völlig absolute Geltung, doch dürfen Ausnahmen von ihm nur unter der Voraussetzung gemacht werden, dass dies durch legitime und zwingende Gründe gerechtfertigt ist und dabei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird. So ist allgemein anerkannt, dass Richter abberufen werden können, wenn sie wegen Dienstunfähigkeit oder einer schweren Verfehlung nicht mehr zur Ausübung ihres Amtes geeignet sind, wobei angemessene Verfahren einzuhalten sind.

77      Insoweit ergibt sich speziell aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das Unabhängigkeitserfordernis verlangt, dass die Vorschriften, die für Disziplinarmaßnahmen und damit für die eventuelle Abberufung derjenigen gelten, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, die erforderlichen Garantien aufweisen, um jegliche Gefahr zu verhindern, dass solche Maßnahmen als System zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt werden. Somit bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Instanz gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 67).

78      Im vorliegenden Fall hat die beanstandete Reform, nach der die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf bereits an diesem Gericht amtierende Richter Anwendung findet, zur Folge, dass diese ihre richterliche Tätigkeit vorzeitig beenden, und kann somit berechtigte Bedenken begründen, ob der Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter eingehalten wird.

79      Unter diesen Umständen und in Anbetracht der in den Rn. 75 bis 77 des vorliegenden Urteils dargestellten grundlegenden Bedeutung dieses Grundsatzes ist eine solche Anwendung nur dann statthaft, wenn sie durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt und im Hinblick auf dieses Ziel verhältnismäßig ist und sofern sie nicht geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit des betreffenden Gerichts für äußere Faktoren und an seiner Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen.

80      Im vorliegenden Fall macht die Republik Polen geltend, die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf das 65. Lebensjahr sei Ausdruck des Willens, dieses Ruhestandsalter an das allgemeine Ruhestandsalter anzugleichen, das für alle Berufstätigen in Polen gelte, und damit die Altersstruktur der Richterschaft dieses Gerichts zu optimieren.

81      Hierzu ist als Erstes zu bemerken, dass der Gerichtshof zwar anerkannt hat, dass Ziele aus dem Bereich der Beschäftigungspolitik, wie z. B. die Vereinheitlichung der Altersgrenzen für das zwingende Ausscheiden aus dem Dienst im Rahmen der zum öffentlichen Dienst gehörenden Berufe oder das Bemühen um die Herstellung einer ausgewogeneren Altersstruktur, um jungen Menschen den Zugang u. a. zum Richterberuf zu erleichtern, legitim sein können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juli 2011, Fuchs und Köhler, C‑159/10 und C‑160/10, EU:C:2011:508‚ Rn. 50, und vom 6. November 2012, Kommission/Ungarn, C‑286/12, EU:C:2012:687‚ Rn. 61 und 62).

82      Allerdings ist erstens festzustellen, dass – wie die Kommission betont und auch die Europäische Kommission für Demokratie und Recht (die sogenannte Venedig-Kommission) in den Nrn. 33 und 47 ihrer Stellungnahme 904/2017 (CDL‑AD[2017]031) bereits ausgeführt hat – die Begründung des Entwurfs für das neue Gesetz über das Oberste Gericht Anhaltspunkte enthält, die ernsthafte Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Reform des Ruhestandsalters für amtierende Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) von solchen Zielen geleitet war und nicht von der Absicht, eine bestimmte Gruppe von Richtern dieses Gerichts aus dem Amt zu entfernen.

83      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht im Amt waren, im vorliegenden Fall mit der Einführung eines neuen Verfahrens einhergeht, das es dem Präsidenten der Republik ermöglicht, nach freiem Ermessen zu entscheiden, die auf diese Weise verkürzte Amtszeit eines Richters zu verlängern, und zwar für zwei aufeinander folgende Zeiträume von drei Jahren.

84      Zum einen lässt die Einführung einer solchen Möglichkeit, die Amtszeit eines Richters um sechs Jahre zu verlängern, die gleichzeitig mit der Herabsetzung des Ruhestandsalters um fünf Jahre für die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht amtierenden Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) erfolgt, Zweifel daran aufkommen, dass mit der eingeleiteten Reform tatsächlich bezweckt wird, das Ruhestandsalter für diese Richter dem für alle Berufstätigen geltenden Ruhestandsalter anzugleichen und die Altersstruktur der Richterschaft dieses Gerichts zu optimieren.

85      Zum anderen ist die Kombination dieser beiden Maßnahmen auch geeignet, den Eindruck zu verstärken, dass es in Wirklichkeit darum gegangen sein könnte, einen vorher festgelegten Teil der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) aus dem Amt zu entfernen, da es nämlich, unbeschadet dessen, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters auf sämtliche Richter dieses Gerichts Anwendung findet, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht im Amt waren, weiterhin im freien Ermessen des Präsidenten der Republik steht, einen Teil der Betroffenen im Amt zu belassen.

86      Drittens ist festzustellen, dass von der Herabsetzung des Ruhestandsalters um fünf Jahre für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht im Amt waren, und der sich daraus ergebenden Verkürzung der Amtszeit dieser Richter fast ein Drittel der amtierenden Mitglieder dieses Gerichts mit sofortiger Wirkung betroffen waren, darunter auch dessen Erste Präsidentin, deren durch die Verfassung garantierte Amtszeit von sechs Jahren dadurch ebenfalls verkürzt wurde. Wie die Kommission geltend macht, belegt diese Feststellung die potenziell erheblichen Auswirkungen der fraglichen Reform auf die Zusammensetzung und die funktionale Kontinuität des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht). Wie der Generalanwalt in Nr. 76 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann eine derart weitgehende Umgestaltung der Zusammensetzung eines Obersten Gerichts infolge einer Reform, die spezifisch dieses Gericht betrifft, ihrerseits Zweifel hervorrufen, was die Echtheit einer solchen Reform und die Ziele betrifft, die mit ihr tatsächlich verfolgt werden.

87      Die Zweifel, die somit hinsichtlich der wahren Ziele der beanstandeten Reform bestehen und die sich aus der Gesamtheit der in den Rn. 82 bis 86 des vorliegenden Urteils dargestellten Erwägungen ergeben, lassen sich durch die von der Republik Polen vorgebrachten Argumente nicht ausräumen, wonach zum einen einige der amtierenden und von dieser Reform betroffenen Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu einer Zeit in dieses Amt berufen worden seien, zu der das Ruhestandsalter für Richter dieses Gerichts auf 65 Jahre festgesetzt gewesen sei, und zum anderen ein solcher Richter, wenn er in den Ruhestand versetzt werde, unbeschadet dessen seinen Titel als Richter behalte, weiterhin Anspruch auf Immunität und Bezüge habe und bestimmte berufsständische Regeln für ihn fortgälten.

88      Diese Umstände vermögen nämlich, ihr Vorliegen als zutreffend unterstellt, nicht die Tatsache in Frage zu stellen, dass die Versetzung der betroffenen Richter in den Ruhestand mit der sofortigen und – im Vergleich zu dem, was vor der Verabschiedung der beanstandeten Reform vorgesehen war – vorzeitigen Beendigung ihrer richterlichen Tätigkeiten einhergeht.

89      Als Zweites ist festzustellen, dass, wie die Republik Polen in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, das allgemeine Ruhestandsalter für Berufstätige, an das dieser Mitgliedstaat nach seiner Aussage das Ruhestandsalter für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) angleichen wollte, für die betroffenen Berufstätigen nicht mit einer automatischen Versetzung in den Ruhestand verbunden ist, sondern nur mit dem Recht, nicht aber der Pflicht, ihre berufliche Tätigkeit zu beenden und in diesem Fall Ruhestandsbezüge in Anspruch zu nehmen.

90      Unter diesen Umständen hat die Republik Polen nicht dargetan, dass die beanstandete Maßnahme ein angemessenes Mittel ist, um die Unterschiede zwischen den Altersgrenzen für die zwingende Beendigung der Tätigkeit für sämtliche betroffenen Berufe zu verringern. Insbesondere hat sie keinen sachlichen Grund dafür angeführt, dass es für die Angleichung des Ruhestandsalters der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) an das für alle Berufstätigen in Polen geltende Ruhestandsalter erforderlich war, vorzusehen, dass diese Richter automatisch in den Ruhestand versetzt werden, sofern sie nicht aufgrund einer in das freie Ermessen des Präsidenten der Republik gestellten Entscheidung ihr Amt weiter ausüben dürfen, während für die übrigen Berufstätigen der Eintritt in den Ruhestand bei Erreichen des gesetzlich hierfür vorgesehenen Alters fakultativ ist.

91      Als Drittes ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf das Ziel einer Vereinheitlichung des Ruhestandsalters bereits entschieden hat, dass nationale Rechtsvorschriften, mit denen die Altersgrenze für das zwingende Ausscheiden aus dem Richterdienst plötzlich und erheblich gesenkt wird, ohne Übergangsmaßnahmen vorzusehen, die geeignet sind, das berechtigte Vertrauen der Betroffenen, die bei Inkrafttreten dieser Vorschriften im Amt waren, zu schützen, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht wahren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2012, Kommission/Ungarn, C‑286/12, EU:C:2012:687, Rn. 68 und 80).

92      Was das Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117) betrifft, auf das sich die Republik Polen ebenfalls berufen hat, um die Rechtmäßigkeit der von der Kommission im Rahmen ihrer ersten Rüge beanstandeten nationalen Maßnahme zu rechtfertigen, ist darauf hinzuweisen, dass es in diesem Urteil um eine Kürzung der Bezüge von Richtern ging. In diesem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass diese Kürzung der Bezüge sowohl betragsmäßig begrenzt als auch vorübergehend war und sich nicht speziell gegen die Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof, Portugal) richtete, sondern es sich vielmehr um eine allgemein geltende Maßnahme handelte, und entschieden, dass Art. 19 EUV dahin auszulegen ist, dass die Anwendung einer solchen Maßnahme mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar ist.

93      Unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der richterlichen Unabhängigkeit sind die Wirkungen einer solchen begrenzten und vorübergehenden Kürzung der Bezüge jedoch in keiner Weise mit den Wirkungen einer Maßnahme vergleichbar, die in einer Herabsetzung des Ruhestandsalters für amtierende Richter besteht, die wiederum zur Folge hat, dass die richterliche Laufbahn der Betroffenen vorzeitig und endgültig beendet wird.

94      Als Viertes ist zu bemerken, dass die sofortige Anwendung der beanstandeten Reform auf die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht im Amt waren, auch nicht mit dem von der Republik Polen geltend gemachten Bestreben gerechtfertigt werden kann, eine eventuelle Diskriminierung hinsichtlich Dauer der Ausübung des Richteramtes zwischen diesen Richtern und denen, die nach diesem Zeitpunkt an dieses Gericht berufen werden, zu vermeiden.

95      Diese beiden Kategorien von Richtern befinden sich nämlich – wie die Kommission geltend macht – nicht in einer vergleichbaren Situation, denn nur bei Ersteren verkürzt sich die Karriere, während sie am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) tätig sind; bei Letzteren hingegen ist vorgesehen, dass sie unter der Geltung der neuen Rechtsvorschriften, die ein gesetzliches Ruhestandsalter von 65 Jahren vorsehen, an dieses Gericht berufen werden. Außerdem ist, soweit die Republik Polen auch geltend macht, dass den bereits am Sąd Najwyższy (Oberster Gericht) amtierenden Richtern im Gegensatz zu ihren Kollegen, die nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes über das oberste Gericht ernannt worden seien, nicht die Möglichkeit eingeräumt werde, in den Genuss des mit diesem Gesetz eingeführten neuen Ruhestandsalters zu kommen, zu bemerken, dass es – wie die Kommission ausgeführt hat – zulässig gewesen wäre, für die Betroffenen eine Möglichkeit vorzusehen, auf freiwilliger Grundlage auf die Ausübung ihres Amtes zu verzichten, wenn sie das neue gesetzliche Ruhestandsalter erreichen, und sie somit nicht dazu zu zwingen.

96      Nach alledem ist festzustellen, dass die Anwendung der Herabsetzung des Ruhestandsalters auf Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die dort im Amt sind, nicht durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Folglich beeinträchtigt diese Anwendung den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter, der untrennbar mit ihrer Unabhängigkeit verknüpft ist.

97      Demzufolge ist der ersten Rüge der Kommission, mit der ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geltend gemacht wird, stattzugeben.

 Zur zweiten Rüge

 Vorbringen der Parteien

98      Mit ihrer zweiten Rüge wirft die Kommission der Republik Polen vor, dadurch gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen zu haben, dass sie den Präsidenten der Republik mit dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht ermächtigt habe, die aktive Dienstzeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nach freiem Ermessen über das mit diesem Gesetz neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus, zweimal für jeweils drei Jahre, zu verlängern.

99      Da es weder verbindliche Kriterien für die Entscheidung über die Gewährung oder Ablehnung einer solchen Verlängerung der richterlichen Amtszeit gebe noch eine Pflicht zur Begründung derartiger Entscheidungen bestehe und ihre gerichtliche Überprüfung nicht möglich sei, könne der Präsident der Republik auf die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) Einfluss ausüben. Durch die Aussicht, sich an den Präsidenten der Republik wenden zu müssen, um solche Verlängerungen zu beantragen, und das sich an die Einreichung solcher Anträge anschließende Zuwarten auf dessen Entscheidung könnte nämlich für den betreffenden Richter Druck entstehen, der ihn dazu veranlassen könnte, eventuellen Wünschen des Präsidenten der Republik nachzukommen, was die Rechtssachen betrifft, mit denen er befasst ist, und zwar auch bei Rechtssachen, in denen er Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen und anzuwenden hat.

100    Die Pflicht des Präsidenten der Republik zur Einholung einer Stellungnahme des Landesjustizrats, die in Art. 37 §§ 1a und 1b sowie in Art. 111a des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht und in Art. 5 des Änderungsgesetzes vom 10. Mai 2018 vorgesehen sei, ändere an der vorstehenden Feststellung nichts. Die Kriterien, die dem Landesjustizrat für seine Stellungnahme vorgegeben seien, seien nämlich zu allgemein, und der Präsident der Republik sei nicht an diese Stellungnahme gebunden. Außerdem würden die 15 aus der Mitte der Richter zu wählenden Mitglieder der insgesamt 27 Mitglieder des Landesjustizrats infolge der Reform der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa (Gesetz über den Landesjustizrat) vom 12. Mai 2011 (Dz. U. 2011, Pos. 714), die mit der Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 3) vorgenommen worden sei, nicht wie bislang von der Richterschaft, sondern nunmehr vom Sejm gewählt, so dass ihre Unabhängigkeit angezweifelt werden könne.

101    Schließlich macht die Kommission geltend, dass hinsichtlich der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die ihr 65. Lebensjahr nach dem 3. Juli 2018 vollendeten, keine Frist festgelegt worden sei, innerhalb deren der Präsident der Republik die Stellungnahme des Landesjustizrats einholen müsse, was sich dahin auswirken könne, dass der effektive Zeitraum, in dem der Verbleib des betreffenden Richters im Amt im freien Ermessen des Präsidenten der Republik stehe, ausgedehnt werde.

102    Diese verschiedenen Faktoren könnten zu einer Situation führen, in der dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) abgesprochen werde, die Gewähr dafür zu bieten, unter allen Umständen unparteiisch und unabhängig zu handeln.

103    Die Republik Polen macht geltend, die dem Präsidenten der Republik übertragene Zuständigkeit für die Entscheidung, ob die Amtszeit von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die das Ruhestandsalter erreicht hätten, gegebenenfalls verlängert werde, leite sich von der diesem durch die Verfassung übertragenen Befugnis zur Ernennung der Richter ab. Diese Befugnis, die gerade darauf abziele, die rechtsprechende Gewalt vor Einmischung sowohl der gesetzgebenden als auch der vollziehenden Gewalt zu schützen, müsse vom Präsidenten der Republik persönlich ausgeübt werden, wobei er allein die Verfassungsnormen und ‑grundsätze zu beachten habe, und es sei ständige Rechtsprechung, dass dessen Entscheidungen, mit denen die Ernennung eines Bewerbers auf eine Richterstelle abgelehnt werde, keine Verwaltungssachen seien und nicht mit einer Klage vor Gericht angefochten werden könnten.

104    Allerdings berücksichtigten die Stellungnahmen, die dem Präsidenten der Republik vom Landesjustizrat übermittelt würden, wie sich aus Art. 37 § 1b des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht ergebe, das Interesse der Rechtspflege oder ein wichtiges öffentliches Interesse, insbesondere die rationelle Nutzung der Personalressourcen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder den Bedarf, der sich aus der Arbeitsbelastung einzelner Kammern dieses Gerichts ergebe. Zudem könnten diese Stellungnahmen für den Präsidenten der Republik zwar nicht bindend sein, da anderenfalls in dessen in der vorstehenden Randnummer erwähnte verfassungsrechtliche Befugnisse eingegriffen werde; es sei jedoch offensichtlich, dass dieser in der Praxis die betreffenden Stellungnahmen berücksichtige. Ebenso klar sei, dass der Präsident der Republik, obschon das einschlägige Gesetz hierfür keine Frist vorsehe, die Stellungnahme des Landesjustizrats anfordere, sobald er den Antrag eines Richters des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf Verlängerung seiner Amtszeit in Händen halte.

105    In Bezug auf die Zusammensetzung des Landesjustizrats weist die Republik Polen darauf hin, dass sie die Befürchtungen der Kommission nicht teile. Außerdem seien diese Befürchtungen für die Beurteilung der vorliegenden Rechtssache ohne Bedeutung, da ihr die Kommission im Wesentlichen vorwerfe, dass sie die Entscheidung, die Verlängerung der Amtszeit eines Richters des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über das gesetzliche Ruhestandsalter hinaus zu genehmigen oder nicht, in das freie Ermessen des Präsidenten der Republik gestellt habe, ohne dass gegen diese Entscheidung die Möglichkeit einer Klage bei einem Gericht gegeben sei, und dass die Stellungnahme des Landesjustizrats unter keinen Umständen für den Präsidenten der Republik bindend sei.

106    Schließlich ließen sich die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in der Praxis nicht durch den Präsidenten der Republik beeinflussen, nur um ihre Amtszeit zu verlängern, anstatt mit Anspruch auf eine hohe Pension in den Ruhestand zu treten, zumal das Beratungsgeheimnis verhindere, dass der Präsident der Republik erfahre, wie der einzelne Richter abgestimmt habe. Im Übrigen sei die Frist, innerhalb deren der Präsident der Republik über den Antrag eines Richters auf Verbleib im Amt zu entscheiden habe, nämlich etwa vier Monate, recht kurz.

107    Vergleichbare Modelle für die Verlängerung der Amtszeit eines Richters über das Regelruhestandsalter hinaus gebe es im Übrigen in anderen Mitgliedstaaten als der Republik Polen, und auch die Wiederernennung eines Richters an den Gerichtshof der Europäischen Union stehe im freien Ermessen der Regierung des Mitgliedstaats, dem der Betreffende angehöre.

 Würdigung durch den Gerichtshof

108    Wie in den Rn. 72 bis 74 des vorliegenden Urteils ausgeführt, erfordern die Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte, dass die betreffende Einrichtung ihre Aufgaben in völliger Autonomie wahrnimmt, so dass sie vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und ihre Entscheidungen beeinflussen könnten, und dabei Sachlichkeit obwalten lässt und keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat. Die Regeln, die diese Unabhängigkeit und diese Unparteilichkeit gewährleisten sollen, müssen so beschaffen sein, dass sie ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen.

109    Im vorliegenden Fall ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich die nationale Rechtsvorschrift, die die Kommission mit ihrer zweiten Rüge beanstandet, nicht auf das Verfahren zur Ernennung von Bewerbern auf ein Richteramt bezieht, sondern auf die Möglichkeit für amtierende Richter, denen somit die Garantien zugutekommen, die mit der Ausübung des Richteramtes untrennbar verknüpft sind, ihr Amt über das normale Ruhestandsalter hinaus weiter auszuüben, und diese Rechtsvorschrift somit die Bedingungen für den Verlauf und die Beendigung ihrer Berufslaufbahn betrifft.

110    Im Übrigen ist es zwar allein Sache der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, ob sie eine solche Verlängerung der Amtszeit eines Richters über das Regelruhestandsalter hinaus zulassen; unbeschadet dessen müssen sie aber, wenn sie sich für ein solches Verfahren entscheiden, dafür Sorge tragen, dass die Voraussetzungen für eine Verlängerung und deren Modalitäten nicht so beschaffen sind, dass sie den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit beeinträchtigen.

111    Der Umstand, dass einem Organ wie dem Präsidenten der Republik die Befugnis eingeräumt wird, zu entscheiden, ob eine solche mögliche Verlängerung genehmigt wird oder nicht, genügt für sich allein genommen sicher nicht für die Feststellung, dass dieser Grundsatz beeinträchtigt ist. Es muss jedoch sichergestellt sein, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten, die für den Erlass solcher Entscheidungen gelten, so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keine berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betroffenen Richter für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen.

112    Zu diesem Zweck müssen u. a. diese Voraussetzungen und Modalitäten so ausgestaltet werden, dass die betroffenen Richter vor möglichen Versuchungen geschützt sind, Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, nachzugeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2013, D. und A., C‑175/11, EU:C:2013:45, Rn. 103). Die betreffenden Modalitäten müssen somit insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen auszuschließen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten (vgl. entsprechend Urteile vom 16. Oktober 2012, Kommission/Österreich, C‑614/10, EU:C:2012:631, Rn. 43, und vom 8. April 2014, Kommission/Ungarn, C‑288/12, EU:C:2014:237, Rn. 51).

113    Im vorliegenden Fall werden die Voraussetzungen und Verfahrensmodalitäten, von denen das neue Gesetz über das Oberste Gericht die mögliche Verlängerung der Amtszeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über das normale Ruhestandsalter hinaus abhängig macht, diesen Anforderungen nicht gerecht.

114    Hierzu ist erstens festzustellen, dass eine solche Verlängerung nach dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht nunmehr von einer Entscheidung des Präsidenten der Republik abhängt, die in dessen freiem Ermessen steht, da für ihren Erlass als solchen keine objektiven und nachprüfbaren Kriterien gelten, und die nicht begründet werden muss. Außerdem kann eine solche Entscheidung nicht Gegenstand einer Klage bei einem Gericht sein.

115    Was zweitens die Tatsache betrifft, dass der Landesjustizrat nach dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht dem Präsidenten der Republik eine Stellungnahme übermitteln soll, bevor dieser seine Entscheidung trifft, so kann zwar die Einschaltung einer solchen Stelle in den Prozess zur Verlängerung der Amtszeit eines Richters über das Regelruhestandsalter hinaus grundsätzlich zur Objektivierung dieses Prozesses beitragen.

116    Dies gilt jedoch nur insoweit, als bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind und insbesondere diese Stelle selbst von der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt und dem Organ, dem sie eine Stellungnahme übermitteln soll, unabhängig ist und die betreffende Stellungnahme auf der Grundlage objektiver und einschlägiger Kriterien verfasst und in gebotener Weise begründet ist, so dass sie geeignet ist, diesem Organ objektive Anhaltspunkte für seine Entscheidungsfindung zu liefern.

117    Insoweit genügt die Feststellung, dass sich der Landesjustizrat, wenn er gegenüber dem Präsidenten der Republik solche Stellungnahmen abzugeben hat, – wie die Republik Polen in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat – im Allgemeinen und in Ermangelung einer Vorschrift, wonach er diese begründen muss, darauf beschränkt hat, Stellungnahmen abzugeben, die, gleich, ob sie befürwortend oder ablehnend ausfallen, entweder überhaupt nicht begründet sind oder eine rein formelle Begründung enthalten, in der lediglich allgemein auf den Wortlaut der Kriterien verwiesen wird, die in Art. 37 § 1b des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht festgelegt sind. Unter diesen Umständen ist, ohne dass geprüft werden müsste, ob Kriterien wie die in dieser Vorschrift genannten hinreichend transparent, objektiv und überprüfbar sind, festzustellen, dass solche Stellungnahmen nicht dazu beitragen können, dem Präsidenten der Republik für die Ausübung der ihm verliehenen Befugnis, einem Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), nachdem dieser das Regelruhestandsalter erreicht hat, die weitere Ausübung seines Amts zu genehmigen oder zu verweigern, objektive Anhaltspunkte zu liefern.

118    Nach alledem ist festzustellen, dass die dem Präsidenten der Republik eingeräumte Befugnis, nach freiem Ermessen zu entscheiden, ob er einem Richter eines obersten nationalen Gerichts wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) im Alter zwischen 65 und 71 Jahren zweimal für jeweils drei Jahre die weitere Ausübung seines Richteramts genehmigt, geeignet ist, u. a. bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der betroffenen Richter für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen.

119    Schließlich kann auch dem Vorbringen der Republik Polen, wonach die vorliegend beanstandeten nationalen Rechtsvorschriften den Verfahren ähneln sollen, die in anderen Mitgliedstaaten oder für die etwaige Wiederernennung eines Richters an den Gerichtshof der Europäischen Union gelten würden, kein Erfolg beschieden sein.

120    Denn auch wenn zum einen anzunehmen wäre, dass ein in einem anderen Mitgliedstaat vorgesehenes Verfahren im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Mängel aufweist, die denen entsprechen, die bei den in der vorliegenden Rechtssache streitigen nationalen Rechtsvorschriften festgestellt worden sind, was nicht dargetan worden ist, ändert dies nichts daran, dass ein Mitgliedstaat nicht einen möglichen Unionsrechtsverstoß durch einen anderen Mitgliedstaat geltend machen kann, um seine eigene Vertragsverletzung zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juni 1996, Kommission/Italien, C‑101/94, EU:C:1996:221, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

121    Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass im Unterschied zu nationalen Richtern, die bis zum Erreichen des gesetzlichen Ruhestandsalters ernannt sind, die Ernennung der Richter an den Gerichtshof gemäß Art. 253 AEUV befristet für die Dauer von sechs Jahren erfolgt. Ferner erfordert die Wiederernennung eines ausscheidenden Richters nach diesem Artikel – ebenso wie dessen erstmalige Ernennung – gegenseitiges Einvernehmen der Regierungen der Mitgliedstaaten, nachdem der in Art. 255 AEUV vorgesehene Ausschuss seine Stellungnahme abgegeben hat.

122    Die somit in den Verträgen festgelegten Bedingungen können den Umfang der Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einhalten müssen, nicht ändern.

123    Folglich ist der zweiten Rüge der Kommission, mit der ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geltend gemacht wird, und damit der Klage insgesamt stattzugeben.

124    Nach alledem ist festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie zum einen vorgesehen hat, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf amtierende Richter Anwendung findet, die vor dem 3. April 2018 an dieses Gericht berufen worden waren, und zum anderen dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen hat, den aktiven Dienst der Richter dieses Gerichts über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern.

 Kosten

125    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Republik Polen mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

126    Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung trägt Ungarn seine eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen, dass sie zum einen vorgesehen hat, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) auf amtierende Richter Anwendung findet, die vor dem 3. April 2018 an dieses Gericht berufen worden waren, und zum anderen dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen hat, den aktiven Dienst der Richter dieses Gerichts über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern.

2.      Die Republik Polen trägt die Kosten.

3.      Ungarn trägt seine eigenen Kosten.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.