Rechtssache T‑42/06
Bruno Gollnisch
gegen
Europäisches Parlament
„Vorrechte und Befreiungen – Mitglied des Europäischen Parlaments – Beschluss, die Vorrechte und Befreiungen nicht zu schützen – Nichtigkeitsklage – Wegfall des Rechtsschutzinteresses – Erledigung – Schadensersatzklage – Dem Parlament vorgeworfenes Verhalten – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Kausalzusammenhang“
Leitsätze des Urteils
1. Nichtigkeitsklage – Rechtsschutzinteresse – Ereignis, das nach Klageerhebung eingetreten ist und zum Wegfall des Rechtsschutzinteresses führen kann
(Art. 230 EG)
2. Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften – Mitglieder des Europäischen Parlaments – Immunität für die in Ausübung ihres Amtes geäußerten Meinungen und abgegebenen Stimmen – Immunität während der Sitzungsperiode
(Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften, Art. 9 und 10)
3. Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Antrag auf Verteidigung der Immunität eines Parlamentsmitglieds, um die Aussetzung der Strafverfolgung gegen ihn zu erreichen
(Art. 288 Abs. 2 EG; Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften, Art. 10 Abs. 1 Buchst. a)
1. Über einen Antrag auf Nichtigerklärung ist nicht zu entscheiden, wenn die klagende Partei wegen eines im Laufe des Verfahrens eingetretenen Ereignisses ihr Interesse an der Nichtigerklärung des angefochtenen Rechtsakts verloren hat und dieses Ereignis zur Folge hat, dass die Nichtigerklärung des Rechtsakts nicht mehr als solche Rechtswirkungen haben kann.
Die klagende Partei behält jedoch ein Interesse daran, die Nichtigerklärung einer Handlung eines Organs zu beantragen, wenn sich der behauptete Rechtsverstoß unabhängig von den Umständen der Rechtssache, die zur Klageerhebung geführt haben, in Zukunft wiederholen kann.
(vgl. Randnrn. 61, 68)
2. Auch wenn die Vorrechte und Befreiungen, die durch das sie betreffende, dem Vertrag beigefügte Protokoll den Europäischen Gemeinschaften eingeräumt werden, insofern funktionalen Charakter haben, als durch sie eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der Gemeinschaften verhindert werden soll, sind sie jedoch ausdrücklich den Mitgliedern des Parlaments sowie den Beamten und sonstigen Bediensteten der Organe der Gemeinschaft zuerkannt worden. Dass die Vorrechte und Befreiungen den öffentlichen Interessen der Gemeinschaft dienen sollen, rechtfertigt die den Organen verliehene Befugnis, die Immunität gegebenenfalls aufzuheben, bedeutet aber nicht, dass diese Vorrechte und Befreiungen ausschließlich der Gemeinschaft und nicht auch ihren Beamten, ihren sonstigen Bediensteten und den Mitgliedern des Parlaments gewährt worden wären. Das Protokoll verleiht mithin den darin bezeichneten Personen ein subjektives Recht, dessen Schutz durch das vom Vertrag geschaffene Rechtsschutzsystem gewährleistet wird.
Insoweit ist dem Parlament zwar bei der Frage, woran es seine Entscheidung über einen Antrag, der darauf gerichtet ist, dass es gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls die Aussetzung der Strafverfolgung verlangt, orientieren möchte, ein weites Ermessen einzuräumen. Doch steht es nicht in seinem Ermessen, ob die Entscheidung auf der Grundlage von Art. 9 oder von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls zu treffen ist.
(vgl. Randnrn. 94, 96, 101-102)
3. Da Art. 10 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften, der in Verbindung mit den Bestimmungen des nationalen Rechts, auf die er verweist, bezweckt, eine Regelung über die Unverletzlichkeit zu schaffen, die den Parlamentsmitgliedern während der Dauer der Sitzungsperiode des Parlaments im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates zusteht, den darin bezeichneten Personen ein subjektives Recht verleiht und somit eine Rechtsnorm ist, die bezweckt, den Mitgliedern des Parlaments, denen sie zugute kommt, Rechte zu verleihen, verletzt das Parlament, wenn es sich nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung zu einem Antrag äußert, dessen Ziel es ausdrücklich ist, die Aussetzung der Strafverfolgung gemäß dieser Bestimmung zu erreichen, in hinreichend qualifizierter Weise eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen.
Die Entscheidung, die Aussetzung der Strafverfolgung zu verlangen, ist jedoch angesichts des weiten Ermessens, das dem Parlament in dieser Frage einzuräumen ist, nicht die notwendige Folge eines darauf gerichteten Antrags beim Parlament. Es kann nämlich sowohl entscheiden, die Aussetzung der Strafverfolgung zu verlangen, als auch, sie nicht zu verlangen. Dass das Parlament die Ablehnung des Antrags, die Aussetzung der Strafverfolgung zu verlangen, auf die falsche Rechtsgrundlage stützt, kann daher für einen behaupteten Schaden – sein Vorliegen unterstellt – nicht die unmittelbare und ausschlaggebende Ursache sein.
(vgl. Randnrn. 108, 115-117)