SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NIILO JÄÄSKINEN

vom 13. Dezember 2012(1)

Rechtssache C‑412/11

Europäische Kommission

gegen

Großherzogtum Luxemburg

„Vertragsverletzungsklage – Richtlinie 91/440/EWG – Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft – Richtlinie 2001/14/EG – Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn – Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440 – Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 – Betreiber der Infrastruktur – Unabhängigkeit in Bezug auf Organisation und Entscheidungen – Unabhängigkeit in den wesentlichen Funktionen“






I –    Einleitung

1.        Mit der vorliegenden Vertragsverletzungsklage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass das Großherzogtum Luxemburg gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440/EWG(2) in der durch die Richtlinie 2001/12/EG(3) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 91/440) sowie aus Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14/EG(4) verstoßen hat. Das Großherzogtum Luxemburg beantragt, die Klage der Kommission abzuweisen.

2.        Die vorliegende Rechtssache gehört zu einer Reihe von Vertragsverletzungsklagen(5) der Kommission aus den Jahren 2010 und 2011, die die Anwendung der Richtlinien 91/440 und 2001/14, deren Hauptziel es ist, einen gerechten und nichtdiskriminierenden Zugang der Eisenbahnunternehmen zur Infrastruktur, d. h. zum Schienennetz, zu gewährleisten, durch die Mitgliedstaaten betreffen. Diese Klagen sind neuartig, weil sie dem Gerichtshof erstmals Gelegenheit geben, die Liberalisierung der Eisenbahnen in der Europäischen Union zu prüfen und insbesondere das sogenannte „erste Eisenbahnpaket“ auszulegen.

3.        Bereits am 6. September 2012 habe ich meine Schlussanträge in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Portugal ergangen ist, sowie in den Rechtssachen Kommission/Ungarn, Kommission/Spanien, Kommission/Österreich und Kommission/Deutschland vorgelegt. Neben den vorliegenden Schlussanträgen lege ich heute meine Schlussanträge in den Rechtssachen Kommission/Polen, Kommission/Tschechische Republik, Kommission/Frankreich und Kommission/Slowenien vor. Soweit die vorliegende Rechtssache Beschwerdepunkte betrifft, die denen entsprechen, zu deren Püfung ich bereits in den vorstehend genannten Schlussanträgen Gelegenheit hatte, werde ich mich darauf beschränken, auf die einschlägigen Nummern dieser Schlussanträge Bezug zu nehmen, ohne jedoch die darin enthaltene Argumentation vollständig zu wiederholen.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.       Richtlinie 91/440

4.        Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Funktionen nach Anhang II, die für einen gerechten und nichtdiskriminierenden Zugang zur Infrastruktur ausschlaggebend sind, an Stellen oder Unternehmen übertragen werden, die selbst keine Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen. Ungeachtet der Organisationsstrukturen ist der Nachweis zu erbringen, dass dieses Ziel erreicht worden ist.

Die Mitgliedstaaten können jedoch Eisenbahnunternehmen oder jeder anderen Stelle die Erhebung von Entgelten und die Verantwortung für die Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur übertragen, wozu Investitionen, Wartung und Finanzierung gehören.“

5.        In Anhang II der Richtlinie 91/440 sind die „wesentlichen Funktionen“ im Sinne ihres Art. 6 Abs. 3 aufgeführt.

„…

–        Entscheidungen über die Trassenzuweisung, einschließlich sowohl der Bestimmung als auch der Beurteilung der Verfügbarkeit und der Zuweisung von einzelnen Zugtrassen,

…“

2.       Richtlinie 2001/14

6.        Art. 14 Abs.1 und 2 der Richtlinie 2001/14 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können eine Rahmenregelung für die Zuweisung von Fahrwegkapazität schaffen, sofern dabei die Unabhängigkeit der Geschäftsführung gemäß Artikel 4 der Richtlinie 91/440/EWG gewahrt wird. Es werden spezifische Regeln für die Zuweisung von Fahrwegkapazität festgelegt. Der Betreiber der Infrastruktur führt die Verfahren zur Zuweisung von Fahrwegkapazität durch. Insbesondere gewährleistet der Betreiber der Infrastruktur, dass die Fahrwegkapazität auf gerechte und nichtdiskriminierende Weise unter Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zugewiesen wird.

(2)      Ist der Betreiber der Infrastruktur rechtlich, organisatorisch oder in seinen Entscheidungen nicht von Eisenbahnunternehmen unabhängig, so werden die in Absatz 1 genannten und in diesem Kapitel im Weiteren dargelegten Aufgaben von einer Zuweisungsstelle wahrgenommen, die rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist.“

B –    Luxemburgisches Recht

7.        Das Gesetz vom 22. Juli 2009 über die Eisenbahnsicherheit (Loi du 22 juillet 2009 sur la sécurité ferroviaire)(6) sieht vor, dass die neu gegründete Eisenbahnverwaltung (Administration des Chemins de Fer, im Folgenden: ACF) für die wesentlichen Funktionen der Zuweisung der Kapazitäten (Trassenzuweisung) und der Entgelterhebung verantwortlich ist.

8.        Das Gesetz vom 11. Juni 1999 über die Eisenbahninfrastruktur (Loi du 11 juin 1999 relative à l’infrastructure ferroviaire) in der durch das Gesetz vom 3. August 2010(7) geänderten Fassung bestimmt:

„Die Aufgabe der Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn wird einer Zuweisungsstelle übertragen, deren Funktion von der Administration des Chemins de Fer wahrgenommen wird.“

III – Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

9.        Am 26. Juni 2008 mahnte die Kommission das Großherzogtum Luxemburg, den Richtlinien des ersten Eisenbahnpakets nachzukommen. Das Großherzogtum Luxemburg antwortete auf diese Mahnung mit Schreiben vom 27. August 2008.

10.      Am 9. Oktober 2009 übersandte die Kommission dem Großherzogtum Luxemburg eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie darauf hinwies, dass die zur Umsetzung der Richtlinien 91/440 und 2001/14 erlassenen Maßnahmen unzureichend seien. Nach einem erneuten Schriftwechsel richtete die Kommission am 25. November 2010 eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme an das Großherzogtum Luxemburg, mit der sie das Verfahren angesichts der Entwicklung des nationalen Regelungsrahmens auf nur einen, die Unabhängigkeit der wesentlichen Funktionen betreffenden Beschwerdepunkt begrenzte.

11.      Am 3. Februar 2011 beantwortete das Großherzogtum Luxemburg die ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme.

12.      Da die Kommission von der Antwort des Großherzogtums Luxemburg und den von diesem gemachten Angaben nicht überzeugt war, hat sie am 8. August 2011 die vorliegende Klage erhoben.

IV – Vorbringen der Parteien

13.      Die Kommission macht geltend, dass nach der Richtlinie 91/440 u. a. die Funktionen der Zuweisung von Fahrwegkapazität von unabhängigen Stellen wahrgenommen werden müssten. In Anhang II dieser Richtlinie würden nämlich „Entscheidungen über die Trassenzuweisung, einschließlich sowohl der Bestimmung als auch der Beurteilung der Verfügbarkeit und der Zuweisung von einzelnen Zugtrassen“ als „wesentliche Funktion“ eingestuft.

14.      Zwar sei die für die Zuteilung der Trassen zuständige ACF durchaus eine von der Luxemburgischen Eisenbahn (Chemins de fer luxembourgeois, im Folgenden: CFL) unabhängige Stelle, doch erfüllten die CFL bestimmte wesentliche Funktionen bei der Trassenzuweisung.

15.      Anhand der Angaben der luxemburgischen Regierung geht die Kommission davon aus, dass im Fall von Verkehrsstörungen die CFL für die Trassenzuteilung zuständig blieben, und zwar ihre für die Verwaltung des Schienennetzes zuständige Abteilung, die nicht von den Bereichen der CFL unabhängig sei, die die Eisenbahnverkehrsleistungen verwalteten.

16.      Bei Verkehrsstörungen könne der von der ACF aufgestellte normale Fahrplan nicht mehr eingehalten werden, da die darin festgelegten Zeiten bereits überschritten seien und eine Neuzuteilung der Zeiten für die wartenden Betreiber notwendig werde. Eine solche Neuzuteilung stelle zwangsläufig eine Trassenzuweisung dar. Nach der luxemburgischen Regelung könne diese jedoch ausschließlich von der Verkehrsleitstelle, die von den CFL betrieben werde, vorgenommen werden, wodurch den CFL eine Rolle bei der Zuweisung der Fahrwegkapazität zukomme, die den Vorgaben der Richtlinie 2001/14 zuwiderlaufe.

17.      Die Ausübung der wesentlichen Funktion der Trassenzuweisung erfordere es, dass die CFL den Anforderungen des ersten Eisenbahnpakets hinsichtlich der Unabhängigkeit nachkämen. Innerhalb der CFL seien jedoch keine Maßnahmen zur Gewährleistung dieser Unabhängigkeit getroffen worden, um die Bereiche, die die wesentlichen Funktionen wahrnähmen, rechtlich, organisatorisch und in Bezug auf ihre Entscheidungen von den Bereichen zu trennen, die die Eisenbahnverkehrsleistungen betrieben.

18.      In ihrer Erwiderung macht die Kommission geltend, dass die Änderungen, die durch die Nutzungsbedingungen eingeführt worden seien, die die luxemburgischen Behörden nach Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist erlassen hätten, nicht ausreichten, um die Vertragsverletzung zu beenden.

19.      Die luxemburgische Regierung trägt in ihrer Klagebeantwortung vor, dass die geltende nationale Regelung, obwohl sie mit dem Wortlaut und dem Sinn der Richtlinie 2001/14 im Einklang gestanden habe, nach der Einreichung der vorliegenden Klage dennoch angepasst worden sei, um nicht den geringsten Zweifel daran bestehen zu lassen, dass sie mit dem Unionsrecht im Einklang stehe. So seien die Nutzungsbedingungen dahin geändert worden, dass die Trassenzuweisung im Fall von Störungen ebenfalls auf die ACF übertragen werde(8). In ihrer Gegenerwiderung macht die luxemburgische Regierung geltend, dass die Nutzungsbedingungen (mit Wirkung vom 1. Januar 2012) erneut geändert worden seien und dass sie nunmehr den von der Kommission gestellten Anforderungen entsprächen, da sie vorsähen, dass die neuen Trassen im Fall unvorhergesehener Störungen von der ACF zugewiesen würden(9).

V –    Prüfung der Vertragsverletzungsklage

20.      Das Großherzogtum Luxemburg tritt dem Beschwerdepunkt der Kommission entgegen, indem es sich auf Vorschriften beruft, die nach Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist erlassen wurden, nämlich die Änderungen der Nutzungsbedingungen, die nach Ablauf dieser Frist vorgenommen wurden.

21.      Hierzu genügt der Hinweis, dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde, und dass später eingetretene Veränderungen vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden können(10). Bei der Prüfung der vorliegenden Klage ist daher auf die Regelung abzustellen, die bei Ablauf der in der ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 25. November 2010 gesetzten Frist von zwei Monaten in Kraft war.

22.      Die Klage der Kommission stützt sich auf zwei Gesichtspunkte, zu deren Prüfung ich bereits in meinen Schlussanträgen in den Rechtssachen Kommission/Ungarn (C‑473/10), Kommission/Frankreich (C‑625/10) und Kommission/Slowenien (C‑627/10) Gelegenheit hatte.

23.      Zu den Gründen, aus denen ein historischer Betreiber wie das Eisenbahnunternehmen CFL, eine Dienststelle, die nicht unabhängig von diesem Unternehmen ist, oder ein Infrastrukturbetreiber, der nicht unabhängig von einem solchen Unternehmen ist, nicht an der Ausübung wesentlicher Funktionen wie der Trassenzuweisung beteiligt werden darf, genügt daher der Hinweis auf meine Schlussanträge in den Rechtssachen Kommission/Frankreich (C‑625/10, Nrn. 31 bis 47) und Kommission/Slowenien (C‑627/10, Nrn. 30 bis 46).

24.      Ebenso erscheint es aus den Gründen, die ich in meinen Schlussanträgen in den Rechtssachen Kommission/Ungarn (C‑473/10, Nrn. 49 bis 70) und Kommission/Slowenien (C‑627/10, Nrn. 38 bis 46) dargelegt habe, ausgeschlossen, einem historischen Betreiber wie dem Eisenbahnunternehmen CFL die Befugnis zu übertragen, im Fall von Störungen über die Neuzuweisung und nicht nur die Sperrung von Trassen zu entscheiden.

25.      Infolgedessen ist der Klage der Kommission stattzugeben.

VI – Kosten

26.      Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

27.      Da die Kommission beantragt hat, dem Großherzogtum Luxemburg die Kosten aufzuerlegen, und dieses mit seinen Verteidigungsgründen unterlegen ist, ist diesem Antrag stattzugeben.

VII – Ergebnis

28.      Angesichts der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Das Großherzogtum Luxemburg hat gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft in der durch die Richtlinie 2001/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 geänderten Fassung sowie aus Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung verstoßen, soweit eine Dienststelle eines Eisenbahnunternehmens an der Ausübung wesentlicher Funktionen wie der Trassenzuweisung beteiligt ist.

2.      Das Großherzogtum Luxemburg trägt die Kosten.


1 – Originalsprache: Französisch.


2–      Richtlinie des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (ABl. L 237, S. 25).


3–      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 (ABl. L 75, S. 1).


4–      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung (ABl. L 75, S. 29).


5 – Zu nennen sind insoweit die Urteile vom 25. Oktober 2012, Kommission/Portugal (C‑557/10), und vom 8. November 2012, Kommission/Griechenland (C‑528/10), sowie die beim Gerichtshof anhängigen Rechtssachen Kommission/Ungarn (C‑473/10), Kommission/Spanien (C‑483/10), Kommission/Polen (C‑512/10), Kommission/Tschechische Republik (C‑545/10), Kommission/Österreich (C‑555/10), Kommission/Deutschland (C‑556/10), Kommission/Frankreich (C‑625/10), Kommission/Slowenien (C‑627/10) und Kommission/Italien (C‑369/11).


6 – Mémorial 2009, A-Nr. 169, S. 2465.


7 – Mémorial 2010, A-Nr. 135, S. 2194.


8 – Der Verweis auf die Fassung 3.0 der Ausgabe 2011 der Schienennetz-Nutzungsbedingungen wurde im Mémorial 2011, B-Nr. 84, S. 1657, veröffentlicht.


9 – Der Verweis auf die Fassung 2.0 der Ausgabe 2012 der Schienennetz-Nutzungsbedingungen wurde im Mémorial 2011, B-Nr. 103, S. 1985, veröffentlicht.


10 – Vgl. u. a. Urteile vom 19. Juni 2008, Kommission/Luxemburg (C‑319/06, Slg. 2008, I‑4323, Randnr. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 4. März 2010, Kommission/Frankreich (C‑241/08, Slg. 2010, I‑1697, Randnr. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 3. März 2011, Kommission/Irland (C‑50/09, Slg. 2011, I‑873, Randnr. 102).