URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer)
13. Januar 1999 (1)
„Schadensersatzklage Außervertragliche Haftung Milch Zusatzabgabe
Referenzmenge Erzeuger, die Nichtvermarktungsverpflichtungen eingegangen
sind Freiwillige Nichtwiederaufnahme der Erzeugung nach Ende der
Verpflichtung Handlungen der nationalen Behörden“
In der Rechtssache T-1/96
Bernhard Böcker-Lensing und Ludger Schulze-Beiering, Landwirte und
Gesellschafter einer Gesellschaft des deutschen bürgerlichen Rechts, wohnhaft in
Borken (Deutschland), Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Bernd Meisterernst,
Mechtild Düsing, Dietrich Manstetten, Frank Schulze und Klaus Kettner, Münster,
Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte Dupong und Dupong, 4-6, rue la
Boucherie, Luxemburg,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch Rechtsberater Arthur Brautigam als
Bevollmächtigten, Beistand: Rechtsanwälte Hans-Jürgen Rabe, Georg M. Berrisch
und Marco Núñez-Müller, Hamburg und Brüssel, Zustellungsbevollmächtigter:
Generaldirektor Alessandro Morbilli, Direktion für Rechtsfragen der Europäischen
Investitionsbank, 100, boulevard Konrad Adenauer, Luxemburg,
und
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Hauptrechtsberater Dierk Booß und durch Michael Niejahr, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigte, Beistand: Rechtsanwälte Hans-Jürgen Rabe und Georg
M. Berrisch und Marco Núñez-Müller, Hamburg und Brüssel,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre
Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Ersatzes des Schadens gemäß den Artikeln 178 und 215 Absatz 2 EG-Vertrag, der den Klägern dadurch entstanden ist, daß sie aufgrund der Verordnung
(EWG) Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 über Grundregeln für die
Anwendung der Abgabe gemäß Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 im
Sektor Milch und Milcherzeugnisse (ABl. L 90, S. 13) in der durch die Verordnung
(EWG) Nr. 1371/84 der Kommission vom 16. Mai 1984 (ABl. L 132, S. 11)
ergänzten Fassung an der Vermarktung von Milch gehindert waren,
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten B. Vesterdorf sowie der Richter R. M. Moura
Ramos und P. Mengozzi,
Kanzler: H. Jung
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24.
September 1998,
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
- 1.
- Angesichts eines Überschusses bei der Milcherzeugung in der Gemeinschaft erließ
der Rat 1977 die Verordnung (EWG) Nr. 1078/77 vom 17. Mai 1977 zur
Einführung einer Prämienregelung für die Nichtvermarktung von Milch und
Milcherzeugnissen und die Umstellung der Milchkuhbestände (ABl. L 131, S. 1).
In dieser Verordnung wurde den Erzeugern die Möglichkeit geboten, gegen Erhalt
einer Prämie für einen Zeitraum von fünf Jahren eine Verpflichtung zur
Nichtvermarktung oder Umstellung der Bestände einzugehen.
- 2.
- Obwohl viele Erzeuger solche Verpflichtungen eingingen, kam es 1983 erneut zu
einer Überproduktion. Der Rat erließ daher die Verordnung (EWG) Nr. 856/84
vom 31. März 1984 (ABl. L 90, S. 10) zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr.
804/68 des Rates vom 27. Juni 1968 über die gemeinsame Marktorganisation für
Milch und Milcherzeugnisse (ABl. L 148, S. 13). Durch den neuen Artikel 5c der
Verordnung Nr. 804/68 wurde eine „Zusatzabgabe“ auf die von den Erzeugern
gelieferten Milchmengen eingeführt, die über eine „Referenzmenge“ hinausgehen.
- 3.
- In der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 über
Grundregeln für die Anwendung der Abgabe gemäß Artikel 5c der Verordnung
(EWG) Nr. 804/68 über die gemeinsame Marktorganisation für Milch und
Milcherzeugnisse (ABl. L 90, S. 13) wurde für jeden Erzeuger auf der Grundlage
der in einem Referenzjahr und zwar dem Kalenderjahr 1981, wobei die
Mitgliedstaaten die Möglichkeit hatten, statt dessen das Kalenderjahr 1982 oder das
Kalenderjahr 1983 zu wählen gelieferten Erzeugung die Referenzmenge
festgesetzt. Die Bundesrepublik Deutschland wählte das Kalenderjahr 1983 als
Referenzjahr.
- 4.
- Die von einigen Erzeugern im Rahmen der Verordnung Nr. 1078/77 eingegangenen
Nichtvermarktungsverpflichtungen galten auch während der gewählten
Referenzjahre. Da die Kläger während dieser Jahre keine Milch erzeugt hatten,
konnten sie keine Referenzmenge erhalten und infolgedessen auch keine von der
Zusatzabgabe freie Milchmenge vermarkten.
- 5.
- Mit Urteilen vom 28. April 1988 in den Rechtssachen 120/86 (Mulder, Slg. 1988,
2321; im folgenden: Urteil Mulder I) und 170/86 (Von Deetzen, Slg. 1988, 2355)
erklärte der Gerichtshof die Verordnung Nr. 857/84 in der durch die Verordnung
(EWG) Nr. 1371/84 der Kommission vom 16. Mai 1984 mit den
Durchführungsbestimmungen für die Zusatzabgabe nach Artikel 5c der Verordnung
(EWG) Nr. 804/68 (ABl. L 132, S. 11) ergänzten Fassung wegen Verletzung des
Grundsatzes des Vertrauensschutzes für ungültig.
- 6.
- Um den genannten Urteilen nachzukommen, erließ der Rat die Verordnung
(EWG) Nr. 764/89 vom 20. März 1989 zur Änderung der Verordnung Nr. 857/84
(ABl. L 84, S. 2). Nach dieser Änderungsverordnung erhielten die Erzeuger, die
Nichtvermarktungsverpflichtungen eingegangen waren, eine (auch „Quote“
genannte) „spezifische“ Referenzmenge.
- 7.
- Die Zuteilung einer spezifischen Referenzmenge war von mehreren
Voraussetzungen abhängig. Einige dieser Voraussetzungen, die sich insbesondere
auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Nichtvermarktungsverpflichtung bezogen,
wurden vom Gerichtshof mit Urteilen vom 11. Dezember 1990 in den Rechtssachen
C-189/89 (Spagl, Slg. 1990, I-4539) und C-217/89 (Pastätter, Slg. 1990, I-4585) für
ungültig erklärt.
- 8.
- Im Anschluß an diese Urteile erließ der Rat die Verordnung (EWG) Nr. 1639/91
vom 13. Juni 1991 zur Änderung der Verordnung Nr. 857/84 (ABl. L 150, S. 35),
nach der den betroffenen Erzeugern durch Abschaffung der für ungültig erklärten
Voraussetzungen eine spezifische Referenzmenge zugeteilt werden konnte.
- 9.
- Mit Urteil vom 19. Mai 1992 in den verbundenen Rechtssachen C-104/89 und
C-37/90 (Mulder u. a./Rat und Kommission, Slg. 1992, I-3061; im folgenden: Urteil
Mulder II) entschied der Gerichtshof, daß die Gemeinschaft für die Schäden haftet,
die bestimmte Milcherzeuger, die durch die Anwendung der Verordnung Nr. 857/84
an der Vermarktung von Milch gehindert waren, erlitten hatten, weil sie
Verpflichtungen gemäß der Verordnung Nr. 1078/77 eingegangen waren.
- 10.
- Im Anschluß an dieses Urteil veröffentlichten der Rat und die Kommission am 5.
August 1992 die Mitteilung 92/C 198/04 (ABl. C 198, S. 4). Unter Hinweis auf die
Auswirkungen des Urteils Mulder II und um dessen volle Wirksamkeit zu
gewährleisten, brachten die Organe ihren Willen zum Ausdruck, die praktischen
Modalitäten für die Entschädigung der betroffenen Erzeuger zu erlassen. Sie
verpflichteten sich, bis zum Erlaß dieser Modalitäten gegenüber allen
entschädigungsberechtigten Erzeugern von der Geltendmachung der Verjährung
gemäß Artikel 43 der EWG-Satzung des Gerichtshofes abzusehen, soweit der
Entschädigungsanspruch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Mitteilung oder
zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Erzeuger an eines der Organe wandte, noch
nicht verjährt war.
- 11.
- Später erließ der Rat die Verordnung (EWG) Nr. 2187/93 vom 22. Juli 1993 über
das Angebot einer Entschädigung an bestimmte Erzeuger von Milch oder
Milcherzeugnissen, die vorübergehend an der Ausübung ihrer Tätigkeit gehindert
waren (ABl. L 196, S. 6). Mit dieser Verordnung wird den Erzeugern, denen unter
bestimmten Voraussetzungen aufgrund der Anwendung der im Urteil Mulder II
genannten Regelung ein Schaden entstanden ist, eine pauschale Entschädigung
angeboten.
Sachverhalt
- 12.
- Der Kläger Böcker-Lensing, Landwirt in Borken (Deutschland), ging im Rahmen
der Verordnung Nr. 1078/77 eine Nichtvermarktungsverpflichtung ein. Die
Verpflichtung endete am 18. März 1983. Der Kläger nahm die Milcherzeugung
nach Ende dieser Verpflichtung nicht wieder auf.
- 13.
- Durch Vertrag vom 13. September 1988 gründete er zusammen mit dem Landwirt
Schulze-Beiering zum 15. September 1988 eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts
(GbR), deren Zweck die Bewirtschaftung eines landwirtschaftlichen Betriebes war.
In diese Gesellschaft brachte er die landwirtschaftliche Nutzfläche ein, für die er
die Nichtvermarktungsverpflichtung eingegangen war.
- 14.
- Mit Schreiben vom 28. Juni 1989 beantragte er bei den nationalen Behörden die
Zuteilung einer Referenzmenge.
- 15.
- Mit Schreiben vom 21. Dezember 1990 an den Rat und die Kommission forderte
er Ersatz der entstandenen Schäden. In ihren Antwortschreiben vom 11. Januar
1991 und vom 19. Februar 1991 erklärten sich die Organe bereit, die Einrede der
Verjährung bis zum Ablauf von drei Monaten nach Veröffentlichung des Urteils
Mulder II im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften nicht geltend zu machen,
sofern seine Ansprüche nicht bereits verjährt seien.
- 16.
- Nach Erlaß der Verordnung Nr. 1639/91 lehnten die nationalen Behörden die
Zuteilung einer Referenzmenge an den Kläger Böcker-Lensing mit der Begründung
ab, er sei infolge der Einbringung des Nichtvermarktungsbetriebs in die GbR nicht
mehr als „Erzeuger“ im Sinne des Artikels 12 Buchstabe c der Verordnung Nr.
857/84 anzusehen.
- 17.
- Nach Erlaß der Verordnung Nr. 2187/93 vom 22. Juli 1993 beantragte der Kläger
Böcker-Lensing, ihm die darin vorgesehene Entschädigung anzubieten. Dieser
Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, daß entgegen dem Erfordernis in der
Verordnung keinem der Kläger eine endgültige Referenzmenge zugeteilt worden
sei.
- 18.
- Nach Erlaß des Urteils des Gerichtshofes vom 27. Januar 1994 in der Rechtssache
C-98/91 (Herbrink, Slg. 1994, I-223), in dem der Anspruch einer GbR auf eine
spezifische Referenzmenge anerkannt wurde, teilten die nationalen Behörden der
Gesellschaft Böcker-Beiering am 10. April 1995 eine vorläufige spezifische
Referenzmenge zu, die am 5. Juli 1996 endgültig wurde.
- 19.
- Mit Schreiben vom 5. April 1995 erhoben die Kläger bei der Kommission Anspruch
auf Schadensersatz. Mit Schreiben vom 30. Mai 1995 antwortete die Kommission,
es werde zur Zeit geprüft, in welchem Umfang ihnen Schadensersatz geleistet
werden könne. Daraufhin erfolgte nichts mehr.
- 20.
- Mit Vertrag vom 27. Juni 1996 trat der Kläger Böcker-Lensing seine
Schadensersatzansprüche gegen die Gemeinschaft an die GbR ab.
Verfahren und Anträge der Parteien
- 21.
- Die Kläger haben mit Klageschrift, die am 2. Januar 1996 bei der Kanzlei des
Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben. Zusätzlich zu den
nachstehend angeführten Anträgen haben sie die Aussetzung des Verfahrens
beantragt.
- 22.
- Mit am 5. Februar 1996 eingegangenem Schriftsatz haben der Rat und die
Kommission dem Aussetzungsantrag widersprochen. Mit Beschluß vom 27. Februar
1996 hat der Präsident der Ersten Kammer des Gerichts diesen Antrag
zurückgewiesen.
- 23.
- Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Erste Kammer) beschlossen, das
mündliche Verfahren ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen. Das Gericht hat
die Parteien jedoch aufgefordert, einige Fragen schriftlich zu beantworten.
- 24.
- Die Kläger beantragen,
die Beklagten zu verurteilen, an sie eine Entschädigung für die Zeit vom 2.
April 1984 bis zum 13. Juni 1991 in Höhe von 118 436,52 DM sowie 8 %
Zinsen für den Zeitraum ab 19. Mai 1992 zu zahlen;
die Beklagten zur Übernahme der Kosten des Verfahrens sowie der
Gutachterkosten in Höhe von 1 961,90 DM zu verpflichten.
- 25.
- Die Beklagten beantragen,
die Klage als unzulässig abzuweisen;
hilfsweise, die Klage als unbegründet abzuweisen;
den Klägern die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Entscheidungsgründe
- 26.
- Die Kläger machen geltend, daß die Voraussetzungen für den Eintritt der Haftung
der Gemeinschaft für die Schäden, die ihnen entstanden seien, vorlägen. Die
Beklagten bestreiten das Vorliegen dieser Voraussetzungen und machen geltend,
daß die Klage unzulässig sei, weil sie nicht den Anforderungen des Artikels 44 § 1
Buchstabe c der Verfahrensordnung genüge und die erhobenen Ansprüche verjährt
seien.
Zur Zulässigkeit
- 27.
- Nach Auffassung der Beklagten entspricht die Klageschrift nicht den
Anforderungen des Artikels 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung. In ihr sei
nicht dargelegt, wie der Kläger Böcker-Lensing seine geltend gemachten
Schadensersatzansprüche in die GbR eingebracht habe.
- 28.
- Ferner seien diese Ansprüche verjährt. Die Schreiben des Klägers Böcker-Lensing
vom 21. Dezember 1990 an den Rat und die Kommission hätten die Verjährung
nicht unterbrechen können, da die Kläger es versäumt hätten, innerhalb der in
Artikel 173 EG-Vertrag vorgesehenen Frist von zwei Monaten, auf die Artikel 43
Satz 3 der Satzung des Gerichtshofes verweise, Klage zu erheben. Daher seien bei
Klageerhebung am 2. Januar 1996 alle vor diesem Zeitpunkt entstandenen
Ansprüche verjährt gewesen.
- 29.
- Gemäß Artikel 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung muß die Klageschrift
den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten.
- 30.
- In der vorliegenden Rechtssache wird die Abtretung der Schadensersatzansprüche
des Klägers Böcker-Lensing an die Gesellschaft durch den am 27. Juni 1996
zwischen den beiden Parteien geschlossenen Vertrag nachgewiesen, den die Kläger
mit der Erwiderung zu den Akten gegeben haben. Aus diesem Schriftstück geht
hervor, daß der Kläger Böcker-Lensing die Schadensersatzansprüche, die ihm vor
Gründung der Gesellschaft zustanden, an diese abgetreten hat.
- 31.
- Was die Verjährung anbelangt, so kann sich daraus im vorliegenden Fall eine
Beschränkung des von den Klägern geltend gemachten Schadensersatzanspruchs
ergeben. Es ist daher angebracht, zuerst zu prüfen, ob die Voraussetzungen für den
Eintritt der Haftung der Gemeinschaft nach Artikel 215 EG-Vertrag vorliegen.
- 32.
- Nach alledem ist die Klage zulässig.
Zur Haftung der Gemeinschaft
Vorbringen der Parteien
- 33.
- Die Kläger behaupten, daß ihnen durch die Nichtzuteilung einer Referenzmenge
durch die Verordnung Nr. 857/84, deren Rechtswidrigkeit vom Gerichtshof
festgestellt worden sei, ein Schaden entstanden sei. Sie machen unter Berufung auf
das Urteil Mulder II geltend, daß die Organe diesen Schaden zu ersetzen hätten.
- 34.
- Die Hinderung an der Milcherzeugung habe bis zu dem Zeitpunkt gedauert, zu
dem den Klägern im Jahr 1995 im Anschluß an das Urteil Herbrink eine vorläufige
Referenzmenge zugeteilt worden sei. Jedoch liege seit Erlaß der Verordnung Nr.
1639/91, durch die Erzeugern in einer entsprechenden Lage eine Referenzmenge
gewährt worden sei, die Haftung für die Vorenthaltung dieser Referenzmenge bei
den nationalen Behörden. Folglich erstrecke sich der zu entschädigende Zeitraum
nur bis zum 13. Juni 1991, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung
Nr. 1639/91.
- 35.
- Dem Vorbringen der Beklagten zum angeblich fehlenden Kausalzusammenhang
zwischen dem Schaden und der Gemeinschaftshandlung halten die Kläger entgegen,
daß der Gerichtshof in seinen Urteilen Spagl und Pastätter festgestellt habe, daß
von Erzeugern, die eine Nichtvermarktungsverpflichtung eingegangen seien, nicht
habe verlangt werden können, daß sie ihre Milcherzeugung sofort nach Ablauf des
Nichtvermarktungszeitraums wiederaufnahmen. Daher habe jeder Landwirt, dessen
Nichtvermarktungsverpflichtung 1983 abgelaufen sei, vor Wiederaufnahme der
Erzeugung Zeit zur Modernisierung seiner Anlagen und zur Nachzucht haben
müssen.
- 36.
- Die Kläger tragen vor, sie hätten beabsichtigt, die Erzeugung nach erfolgter
Nachzucht wiederaufzunehmen, hätten dies aber wegen der Verordnung Nr. 857/84
nicht tun können. Jedenfalls gehe aus dem Urteil des Gerichtshofes vom 22.
Oktober 1992 in der Rechtssache C-85/90 (Dowling, Slg. 1992, I-5305) hervor, daß
den Erzeugern für die Wiederaufnahme der Milcherzeugung zumindest die Zeit
vom 1. Januar 1983 bis zum Inkrafttreten der Verordnung Nr. 857/84 im Jahr 1984
zur Verfügung habe stehen müssen.
- 37.
- Zu der von den Beklagten bestrittenen Erzeugereigenschaft tragen die Kläger vor,
daß ihnen die nationalen Behörden eine endgültige Referenzmenge zugeteilt und
damit ihre Erzeugereigenschaft anerkannt hätten. Diese Anerkennung sei für die
Gemeinschaftsorgane verbindlich.
- 38.
- Die Beklagten bestreiten, daß die Gemeinschaft gegenüber den Klägern hafte.
Erstens habe der Kläger Böcker-Lensing am Ende seiner
Nichtvermarktungsverpflichtung im Jahr 1983 freiwillig beschlossen, die
Milcherzeugung nicht wiederaufzunehmen. Die Gründe für die Entscheidung, die
Milcherzeugung aufzugeben, hätten folglich mit der Verpflichtung oder ihren
Auswirkungen nichts zu tun, so daß nicht behauptet werden könne, es sei gegen
den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen worden. Zwischen dem
behaupteten Einkommensverlust und der Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft
bestehe kein Kausalzusammenhang.
Würdigung durch das Gericht
- 39.
- Die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft für einen durch ihre Organe
verursachten Schaden setzt nach Artikel 215 Absatz 2 EG-Vertrag voraus, daß ein
Tatbestand erfüllt ist, dessen Merkmale die Rechtswidrigkeit des dem
Gemeinschaftsorgan zur Last gelegten Verhaltens, das Vorliegen eines Schadens
und das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und
dem geltend gemachten Schaden sind (Urteile des Gerichtshofes vom 17.
Dezember 1981 in den verbundenen Rechtssachen 197/80, 198/80, 199/80, 200/80,
243/80, 245/80 und 247/80, Ludwigshafener Walzmühle u. a./Rat und Kommission,
Slg. 1981, 3211, Randnr. 18, und des Gerichts vom 13. Dezember 1995 in den
verbundenen Rechtssachen T-481/93 und T-484/93, Exporteurs in Levende Varkens
u. a./Kommission, Slg. 1995, II-2941, Randnr. 80).
- 40.
- Was die Lage der Milcherzeuger angeht, die eine Nichtvermarktungsverpflichtung
eingegangen waren, so haftet die Gemeinschaft gegenüber jedem Erzeuger, der
dadurch einen ersetzbaren Schaden erlitten hat, daß er durch Anwendung der
Verordnung Nr. 857/84 an der Lieferung von Milch gehindert war (Urteil
Mulder II, Randnr. 22).
- 41.
- Diese Haftung beruht auf der Verletzung des berechtigten Vertrauens, das die
Erzeuger, die durch eine Handlung der Gemeinschaft dazu veranlaßt worden sind,
die Vermarktung von Milch im Allgemeininteresse und gegen Zahlung einer
Prämie für eine begrenzte Zeit einzustellen, in die Begrenztheit ihrer
Nichtvermarktungsverpflichtung setzen durften (Urteile Mulder I, Randnr. 24, und
Von Deetzen, Randnr. 13). Der Grundsatz des Vertrauensschutzes verbietet es
jedoch nicht, einen Erzeuger nach einer Regelung wie der über die Zusatzabgabe
deswegen Beschränkungen zu unterwerfen, weil er in einem bestimmten Zeitraum
vor dem Inkrafttreten dieser Regelung aus Gründen, die mit seiner
Nichtvermarktungsverpflichtung nichts zu tun haben, keine Milch vermarktet hat.
- 42.
- Die Kläger machen gelten, ihnen sei vom 2. April 1984 bis zum 13. Juni 1991
rechtswidrig eine Referenzmenge vorenthalten worden, und dies sei eine Folge der
Anwendung der Verordnung Nr. 857/84. Dadurch sei das Vertrauen des Klägers
Böcker-Lensing, die Milcherzeugung nach Ende seines Nichtvermarktungszeitraums
wiederaufnehmen zu können, enttäuscht worden.
- 43.
- Unter den hier gegebenen Umständen ist zunächst das Vorbringen der Kläger zur
Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Organe und zum Vorliegen des behaupteten
Schadens zu prüfen.
- 44.
- Der Kläger Böcker-Lensing hat die Milcherzeugung nicht zum Ende seines
Nichtvermarktungszeitraums im März 1983 wiederaufgenommen und auch nicht die
Absicht zum Ausdruck gebracht, sie einige Jahre später wiederaufzunehmen. Wie
die Kommission zu Recht hervorhebt, ergibt sich aus dem von den Klägern
vorgelegten Gutachten, daß der Kuhstall zwischen dem Beginn und dem Ende der
Verpflichtung unverändert bestehen geblieben ist. Der Landwirt hätte also die
Erzeugung 1983 wiederaufnehmen und damit bei Inkrafttreten der
Zusatzabgabenregelung im Jahr 1984 eine Referenzmenge erhalten können.
- 45.
- Außerdem hatten die Gründe für die Nichtwiederaufnahme der Milcherzeugung
nach Ablauf der Nichtvermarktungsverpflichtung nichts damit zu tun, daß eine
Verpflichtung gemäß der Verordnung Nr. 1078/77 eingegangen worden war. Wie
nämlich der Anwalt der Kläger in der Sitzung ausgeführt hat, wollte der Kläger
Böcker-Lensing eine gewisse Zeit abwarten, um das für die Modernisierung des
Kuhstalls erforderliche Kapital zu bilden.
- 46.
- Anders als die Kläger in den Rechtssachen, die zu den Urteilen Spagl und Pastätter
führten, hat der Kläger Böcker-Lensing seine Absicht, die Erzeugung nach Ende
des Nichtvermarktungszeitraums wiederaufzunehmen, durch nichts belegt.
- 47.
- Da er die Milcherzeugung freiwillig nicht wiederaufgenommen hat, kann er nicht
geltend machen, er habe darauf vertraut, sie irgendwann in der Zukunft
wiederaufnehmen zu können. Die Marktbürger dürfen nämlich auf dem Gebiet der
gemeinsamen Marktorganisationen, deren Zweck eine ständige Anpassung an die
Veränderung der wirtschaftlichen Lage mit sich bringt, nicht darauf vertrauen, daß
sie nicht Beschränkungen unterworfen werden, die sich aus markt- oder
strukturpolitischen Bestimmungen ergeben (vgl. sinngemäß Urteile des
Gerichtshofes vom 17. Juni 1987 in den verbundenen Rechtssachen, 424/85 und
425/85, Frico, Slg. 1987, 2755, Randnr. 33, Mulder I, Randnr. 23, und Von Deetzen,
Randnr. 12).
- 48.
- Unter diesen Umständen gehörte der Kläger Böcker-Lensing nicht zu den
Erzeugern, auf die die Verordnung Nr. 764/89 vom 20. März 1989 und die
Verordnung Nr. 1639/91 anwendbar waren, da diese nur dazu dienten, dem
Ausschluß derjenigen Erzeuger von der Zuteilung einer solchen Referenzmenge ein
Ende zu setzen, die bei Auslaufen der von ihnen eingegangenen Verpflichtung an
der Wiederaufnahme der Vermarktung gehindert waren.
- 49.
- Nach alledem haftet die Gemeinschaft gegenüber den Klägern nicht aufgrund der
Anwendung der Verordnung Nr. 857/84.
- 50.
- Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, daß den Klägern am 10. April 1995 von den
nationalen Behörden eine Referenzmenge zugeteilt wurde. Da das Verhalten der
nationalen Behörden die Gemeinschaft nicht bindet, ist die Zuteilung einer
Referenzmenge für die Frage, ob ein Schadensersatzanspruch nach Artikel 215
Absatz 2 EG-Vertrag besteht, ohne Belang.
- 51.
- Überdies können die Kläger nicht geltend machen, sie seien während des
Zeitraums vom 2. April 1984 bis zum 28. Juni 1989 dadurch geschädigt worden, daß
sie an der Wiederaufnahme der Milcherzeugung gehindert gewesen seien. Der
Kläger Böcker-Lensing hat nämlich erst am 28. Juni 1989 die Zuteilung einer
Referenzmenge beantragt.
- 52.
- Da dem geltend gemachten Schaden kein rechtswidriges Handeln der Beklagten
zugrunde liegt, ist eine Haftung der Gemeinschaft nicht gegeben. Folglich braucht
nicht geprüft zu werden, ob die übrigen Voraussetzungen für eine solche Haftung
erfüllt sind.
- 53.
- Daher erübrigt es sich auch, die Frage der Verjährung zu prüfen.
- 54.
- Nach alledem ist die Klage abzuweisen.
Kosten
- 55.
- Gemäß Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kläger mit ihrem
Vorbringen unterlegen sind und der Rat und die Kommission beantragt haben,
ihnen die Kosten aufzuerlegen, haben die Kläger die Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Erste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
VesterdorfMoura Ramos
Mengozzi
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. Januar 1999.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
B. Vesterdorf