URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

30. Mai 2013(*)

„Asyl – Verordnung (EG) Nr. 343/2003 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist – Art. 3 Abs. 2 – Ermessen der Mitgliedstaaten – Rolle des Amts des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge – Keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dieses Amt um Stellungnahme zu ersuchen“

In der Rechtssache C‑528/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Oktober 2011, in dem Verfahren

Zuheyr Frayeh Halaf

gegen

Darzhavna agentsia za bezhantsite pri Ministerskia savet

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter J. Malenovský, U. Lõhmus und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Urbani Neri, avvocato dello Stato,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer und C. Wissels als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Murrell als Bevollmächtigte im Beistand von R. Palmer, Barrister,

–        der Schweizer Regierung, vertreten durch D. Klingele als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und V. Savov als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1, im Folgenden: Verordnung) und der Art. 18, 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Halaf, einem irakischen Staatsangehörigen, und der Darzhavna agentsia za bezhantsite pri Ministerskia savet (Staatliche Agentur für Flüchtlinge beim Ministerrat, im Folgenden: DAB) über die Entscheidung dieser Agentur, die Einleitung eines Verfahrens zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abzulehnen und die Überstellung von Herrn Halaf nach Griechenland zu erlauben.

 Rechtlicher Rahmen

 Genfer Flüchtlingskonvention

3        Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) trat am 22. April 1954 in Kraft.

4        Alle Mitgliedstaaten sowie die Republik Island, das Fürstentum Liechtenstein, das Königreich Norwegen und die Schweizerische Eidgenossenschaft sind Vertragsparteien der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Europäische Union ist nicht Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention, aber in Art. 78 Abs. 1 AEUV und in Art. 18 der Charta wird auf diese Konvention Bezug genommen.

5        In der Präambel der Konvention wird anerkannt, dass dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) die Aufgabe obliegt, die Durchführung der internationalen Abkommen zum Schutz der Flüchtlinge zu überwachen, und dass eine wirksame Koordinierung der zur Lösung dieses Problems getroffenen Maßnahmen von der Zusammenarbeit der Staaten mit dem Amt des UNHCR abhängen wird.

6        In Art. 35 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention heißt es:

„Die vertragschließenden Staaten verpflichten sich zur Zusammenarbeit mit dem [Amt des UNHCR] oder jeder ihm etwa nachfolgenden anderen Stelle der Vereinten Nationen bei der Ausübung seiner Befugnisse, insbesondere zur Erleichterung seiner Aufgabe, die Durchführung der Bestimmungen dieses Abkommens zu überwachen.“

 Unionsrecht

 Verordnung

7        Nach dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung sind die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, gehalten, die Verpflichtungen der völkerrechtlichen Instrumente einzuhalten, bei denen sie Vertragsparteien sind und nach denen eine Diskriminierung verboten ist.

8        Art. 2 der Verordnung bestimmt u. a.:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

c)      ‚Asylantrag‘ den von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag, der als Ersuchen um internationalen Schutz eines Mitgliedstaats im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention angesehen werden kann. Jeder Antrag auf internationalen Schutz wird als Asylantrag angesehen, es sei denn, ein Drittstaatsangehöriger ersucht ausdrücklich um einen anderweitigen Schutz, der gesondert beantragt werden kann;

…“

9        In Art. 3 Abs. 1 und 2 der Verordnung heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)      Abweichend von Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. … “

10      Zur Bestimmung des „zuständigen Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung ist in deren Art. 6 bis 14, die zu Kapitel III gehören, eine Rangfolge objektiver Kriterien aufgeführt.

11      Art. 15 der Verordnung, der einzige Artikel ihres Kapitels IV („Humanitäre Klausel“), bestimmt:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat kann aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige zusammenführen, auch wenn er dafür nach den Kriterien dieser Verordnung nicht zuständig ist. …

(2)      In Fällen, in denen die betroffene Person wegen Schwangerschaft, eines neugeborenen Kindes, einer schweren Krankheit, einer ernsthaften Behinderung oder hohen Alters auf die Unterstützung der anderen Person angewiesen ist, entscheiden die Mitgliedstaaten im Regelfall, den Asylbewerber und den anderen Familienangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, nicht zu trennen bzw. sie zusammenführen, sofern die familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden hat.

…“

12      Zu Kapitel V („Aufnahme und Wiederaufnahme“) der Verordnung gehört u. a. Art. 16, in dessen Abs. 1 es heißt:

„Der Mitgliedstaat, der nach der vorliegenden Verordnung zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, ist gehalten:

c)      einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrags unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen;

…“

13      Art. 20 der Verordnung sieht vor:

„(1)      Gemäß Artikel 4 Absatz 5 und Artikel 16 Absatz 1 Buchstaben c), d) und e) wird ein Asylbewerber nach folgenden Modalitäten wieder aufgenommen:

b)      der Mitgliedstaat, der um Wiederaufnahme des Asylbewerbers ersucht wird, muss die erforderlichen Überprüfungen vornehmen und den Antrag so rasch wie möglich und unter keinen Umständen später als einen Monat, nachdem er damit befasst wurde, beantworten. Stützt sich der Antrag auf Angaben aus dem Eurodac-System, verkürzt sich diese Frist auf zwei Wochen;

c)      erteilt der ersuchte Mitgliedstaat innerhalb der Frist von einem Monat bzw. der Frist von zwei Wochen gemäß Buchstabe b) keine Antwort, so wird davon ausgegangen, dass er die Wiederaufnahme des Asylbewerbers akzeptiert;

…“

 Richtlinie 2005/85/EG

14      Nach dem 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13) betrifft diese Richtlinie nicht die Verfahren im Rahmen der Verordnung.

15      Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Asylantrag nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass

b)      genaue und aktuelle Informationen verschiedener Quellen gesammelt werden, wie etwa des [UNHCR], über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Asylbewerber und gegebenenfalls in den Staaten, durch die sie gereist sind, und den für die Prüfung der Anträge und die Entscheidungen zuständigen Bediensteten zur Verfügung stehen;

…“

16      Art. 21 („Rolle des UNHCR“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten gewähren dem UNHCR:

c)      die Möglichkeit zur Stellungnahme zu Einzelanträgen in jedem Verfahrensabschnitt bei jeder zuständigen Behörde in Ausübung der Überwachungsbefugnisse nach Artikel 35 der Genfer Flüchtlingskonvention.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17      Herr Halaf ist ein irakischer Staatsangehöriger, der am 1. Juni 2010 in Bulgarien einen Asylantrag stellte.

18      Nachdem bei einer Abfrage im Eurodac-System festgestellt worden war, dass er bereits am 6. August 2008 in Griechenland einen Asylantrag gestellt hatte, ersuchte die DAB am 6. Juli 2010 die griechischen Behörden, ihn gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung wieder aufzunehmen.

19      Da auf dieses Gesuch innerhalb der Frist von zwei Wochen nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. b Satz 2 der Verordnung keine Antwort erteilt wurde, ging die DAB auf der Grundlage des Art. 20 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung davon aus, dass die Hellenische Republik die Wiederaufnahme von Herrn Halaf akzeptiert habe.

20      Mit Entscheidung vom 21. Juli 2010 lehnte die DAB deshalb die Einleitung eines Verfahrens zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Herrn Halaf ab und erlaubte seine Überstellung nach Griechenland.

21      Am 1. Dezember 2010 erhob Herr Halaf beim vorlegenden Gericht Klage mit dem Antrag, diese Entscheidung der DAB aufzuheben und diese anzuweisen, ein Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einzuleiten. Zur Begründung dieser Klage führte er insbesondere den Umstand an, dass der UNHCR die europäischen Regierungen aufgefordert habe, Asylbewerber nicht mehr nach Griechenland zurückzuschicken.

22      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob in diesem Kontext in Anbetracht dessen, dass im Fall von Herrn Halaf keine Umstände vorliegen, die die Anwendung von Art. 15 der Verordnung zulassen, Art. 3 Abs. 2 der Verordnung angewendet werden kann.

23      Deshalb hat der Administrativen sad Sofia-grad mit Entscheidung vom 12. Oktober 2011 beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof sechs Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

24      Mit Schreiben vom 21. Dezember 2011 hat die Kanzlei des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht das Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, Slg. 2011, I-13905), übersandt und es gebeten, ihr mitzuteilen, ob es im Licht dieses Urteils sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle.

25      Mit Beschluss vom 24. Januar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Januar 2012, hat der Administrativen sad Sofia-grad seine erste und seine dritte Frage zurückgezogen und nur die folgenden vier Vorlagefragen aufrechterhalten:

1.      Ist Art. 3 Abs. 2 der Verordnung dahin auszulegen, dass er zulässt, dass ein Mitgliedstaat die Verantwortlichkeit für die Prüfung eines Asylantrags übernimmt, wenn beim Asylbewerber keine persönlichen Umstände vorliegen, die die Anwendbarkeit der humanitären Klausel des Art. 15 der Verordnung begründen, und wenn der gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung zuständige Mitgliedstaat ein Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 20 Abs. 1 der Verordnung nicht beantwortet hat, wobei die Verordnung keine Bestimmungen über die Einhaltung des Grundsatzes der Solidarität gemäß Art. 80 AEUV enthält?

2.      Welchen Inhalt hat das Recht auf Asyl gemäß Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 53 der Charta sowie in Verbindung mit der Definition des Art. 2 Buchst. c und dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung?

3.      Ist Art. 3 Abs. 2 der Verordnung in Verbindung mit der nach Art. 78 Abs. 1 AEUV bestehenden Verpflichtung zur Einhaltung völkerrechtlicher Instrumente im Asylbereich dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, im Verfahren zur Bestimmung des gemäß der Verordnung zuständigen Mitgliedstaats das Amt des UNHCR um Stellungnahme zu ersuchen, wenn in den Akten dieses Amts Tatsachen und Schlussfolgerungen angeführt werden, denen zufolge der gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung zuständige Mitgliedstaat gegen Rechtsvorschriften der Europäischen Union im Asylbereich verstößt?

4.      Für den Fall, dass diese dritte Frage bejaht wird: Wird, wenn eine solche Stellungnahme des Amts des UNHCR nicht eingeholt wird, dadurch das Verfahren zur Bestimmung des gemäß Art. 3 der Verordnung zuständigen Mitgliedstaats wesentlich verletzt und werden dadurch das Recht auf eine gute Verwaltung und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß den Art. 41 und 47 der Charta verletzt, und zwar auch angesichts von Art. 21 der Richtlinie 2005/85, der das Recht dieses Amts vorsieht, bei der Prüfung von Einzelanträgen eine Stellungnahme abzugeben?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zulässigkeit

26      Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht, ohne ausdrücklich die Einrede der Unzulässigkeit zu erheben, geltend, die Vorlagefragen hätten theoretischen Charakter.

27      Sie ist nämlich der Ansicht, aus dem Urteil N. S. u. a. ergebe sich, dass die Überstellung eines Asylbewerbers nach Griechenland zur tatsächlichen Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 der Charta führe und die zuständigen bulgarischen Behörden den für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat daher nunmehr auf der Grundlage dieses Urteils bestimmen können müssten.

28      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung ausschließlich Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, das die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung zu übernehmen hat, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls sowohl zu beurteilen, ob eine Vorabentscheidung erforderlich ist, damit es sein Urteil erlassen kann, als auch, ob die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen erheblich sind. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteile vom 10. März 2009, Hartlauer, C‑169/07, Slg. 2009, I‑1721, Randnr. 24, und vom 19. Juli 2012, Garkalns, C‑470/11, Randnr. 17).

29      Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 1. Juni 2010, Blanco Pérez und Chao Gómez, C‑570/07 und C‑571/07, Slg. 2010, I‑4629, Randnr. 36, sowie vom 5. Juli 2012, Geistbeck, C‑509/10, Randnr. 48).

30      Das vorlegende Gericht stellt Fragen zur Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften. Allein der Umstand, dass der Gerichtshof im Urteil N. S. u. a. einige dieser Vorschriften bereits ausgelegt hat, bedeutet nicht, dass diese Fragen nunmehr theoretischen oder hypothetischen Charakter hätten.

31      Deshalb ist es nicht offensichtlich, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde. Das von der Regierung des Vereinigten Königreichs vorgebrachte Argument genügt daher nicht, um die in Randnr. 29 des vorliegenden Urteils genannte Vermutung der Entscheidungserheblichkeit zu widerlegen.

32      Die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen sind deshalb für zulässig zu erklären.

 Zur ersten Frage

33      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 2 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass er einem Mitgliedstaat, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung nicht als zuständiger Staat bestimmt wird, erlaubt, einen Asylantrag zu prüfen, obwohl keine Umstände vorliegen, die die Anwendbarkeit der in Art. 15 der Verordnung enthaltenen humanitären Klausel begründen, da der nach den genannten Kriterien zuständige Mitgliedstaat ein Gesuch auf Wiederaufnahme des betreffenden Asylbewerbers nicht beantwortet hat.

34      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung ein Asylantrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird.

35      Art. 3 Abs. 2 der Verordnung sieht jedoch ausdrücklich vor, dass jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen kann, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

36      Somit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung eindeutig, dass die Ausübung dieser Befugnis an keine besondere Bedingung geknüpft ist.

37      Dieses Ergebnis wird darüber hinaus durch die Vorarbeiten zur Verordnung bestätigt. In dem Vorschlag der Kommission, der zum Erlass der Verordnung geführt hat (KOM[2001] 447 endgültig), wird erläutert, dass die in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung enthaltene Bestimmung eingeführt wurde, damit sich jeder Mitgliedstaat aus politischen, humanitären oder praktischen Erwägungen bereit erklären kann, einen Asylantrag zu prüfen, auch wenn er hierfür nach den in der Verordnung vorgesehenen Kriterien nicht zuständig ist.

38      In Anbetracht des Umfangs des damit jedem Mitgliedstaat eingeräumten Ermessens ist die Frage, ob der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung zuständige Mitgliedstaat ein Gesuch auf Wiederaufnahme eines Asylbewerbers beantwortet hat oder nicht, für die Möglichkeit eines anderen Mitgliedstaats, einen Asylantrag auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung zu prüfen, ohne Bedeutung.

39      Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass er einem Mitgliedstaat, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung nicht als zuständiger Staat bestimmt wird, erlaubt, einen Asylantrag zu prüfen, auch wenn keine Umstände vorliegen, die die Anwendbarkeit der in Art. 15 der Verordnung enthaltenen humanitären Klausel begründen. Diese Möglichkeit ist nicht davon abhängig, dass der nach den genannten Kriterien zuständige Mitgliedstaat ein Gesuch auf Wiederaufnahme des betreffenden Asylbewerbers nicht beantwortet hat.

 Zur zweiten Frage

40      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, welchen Inhalt das Recht auf Asyl gemäß Art. 18 der Charta in Verbindung mit deren Art. 53 sowie in Verbindung mit der Definition des Art. 2 Buchst. c und dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung hat.

41      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass dieser zweiten Frage die Annahme zugrunde liegt, dass ein Mitgliedstaat, wenn die Anwendung der in Art. 15 der Verordnung enthaltenen humanitären Klausel ausgeschlossen ist, einen Asylantrag auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung nur dann prüfen könnte, wenn nachgewiesen wird, dass der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung zuständige Mitgliedstaat das Recht, das Asylbewerbern durch Art. 18 der Charta gewährleistet wird, nicht beachtet.

42      Da sich bereits aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, dass die Ausübung der den Mitgliedstaaten durch Art. 3 Abs. 2 der Verordnung eingeräumten Befugnis an keine besondere Bedingung geknüpft ist, ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 Zur dritten Frage

43      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, verpflichtet ist, im Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats das Amt des UNHCR um Stellungnahme zu ersuchen, wenn aus den Dokumenten dieses Amts hervorgeht, dass der Mitgliedstaat, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird, gegen unionsrechtliche Asylvorschriften verstößt.

44      Zunächst ist zu beachten, dass die vom Amt des UNHCR herausgegebenen Dokumente zu den Instrumenten gehören, die geeignet sind, die Mitgliedstaaten in die Lage zu versetzen, das Funktionieren des Asylsystems in dem Mitgliedstaat, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird, zu beurteilen und damit die tatsächlichen Risiken für einen Asylbewerber im Fall seiner Überstellung in diesen Mitgliedstaat zu bewerten (vgl. in diesem Sinne Urteil N. S. u. a., Randnrn. 90 und 91). Im Rahmen dieser Beurteilung sind die genannten Dokumente angesichts der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, die bei der Auslegung der unionsrechtlichen Asylvorschriften zu beachten ist, besonders relevant (vgl. in diesem Sinne Urteile N. S. u. a., Randnr. 75, sowie vom 19. Dezember 2012, Abed El Karem El Kott u. a., C‑364/11, Randnr. 43).

45      Zwar sehen Art. 8 Abs. 2 Buchst. b und Art. 21 der Richtlinie 2005/85 verschiedene Formen der Zusammenarbeit zwischen dem Amt des UNHCR und den Mitgliedstaaten vor, wenn Letztere einen Asylantrag prüfen, doch sind diese Vorschriften, wie im 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 klargestellt wird, im Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß der Verordnung nicht anzuwenden.

46      Insoweit ist ein Mitgliedstaat durch nichts daran gehindert, das Amt des UNHCR um Stellungnahme zu ersuchen, wenn er es für zweckmäßig hält, insbesondere in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens.

47      Demnach ist auf die dritte Frage zu antworten, dass der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, nicht verpflichtet ist, im Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats das Amt des UNHCR um Stellungnahme zu ersuchen, wenn aus den Dokumenten dieses Amts hervorgeht, dass der Mitgliedstaat, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird, gegen unionsrechtliche Asylvorschriften verstößt.

 Zur vierten Frage

48      Angesichts der Antwort auf die dritte Frage ist die vierte Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

49      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass er einem Mitgliedstaat, der nach den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung nicht als zuständiger Staat bestimmt wird, erlaubt, einen Asylantrag zu prüfen, auch wenn keine Umstände vorliegen, die die Anwendbarkeit der in Art. 15 der Verordnung enthaltenen humanitären Klausel begründen. Diese Möglichkeit ist nicht davon abhängig, dass der nach den genannten Kriterien zuständige Mitgliedstaat ein Gesuch auf Wiederaufnahme des betreffenden Asylbewerbers nicht beantwortet hat.

2.      Der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, ist nicht verpflichtet, im Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge um Stellungnahme zu ersuchen, wenn aus den Dokumenten dieses Amts hervorgeht, dass der Mitgliedstaat, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Staat bestimmt wird, gegen unionsrechtliche Asylvorschriften verstößt.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Bulgarisch.