URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

18. Januar 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 und 21 AEUV – Anwendungsbereich – Aufgabe der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, um die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats entsprechend dessen Zusicherung der Einbürgerung des Betroffenen zu erwerben – Widerruf dieser Zusicherung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Staatenlosigkeit“

In der Rechtssache C‑118/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 13. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 3. März 2020, in dem Verfahren

JY

gegen

Wiener Landesregierung

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), S. Rodin und I. Jarukaitis, der Richter F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Piçarra sowie der Richterin L. S. Rossi,


Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. März 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von JY, vertreten durch Rechtsanwälte G. Klammer und E. Daigneault,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, D. Hudsky, J. Schmoll und E. Samoilova als Bevollmächtigte,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères, N. Vincent und D. Dubois als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch J. M. Hoogveld als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und E. Montaguti als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Juli 2021

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft im Wesentlichen die Auslegung von Art. 20 AEUV.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen JY und der Wiener Landesregierung (Österreich) wegen deren Entscheidung, die Zusicherung der Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an JY zu widerrufen und ihr Ansuchen auf Verleihung dieser Staatsbürgerschaft abzuweisen.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

 Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit

3        Art. 7 Abs. 2 des am 30. August 1961 in New York geschlossenen und am 13. Dezember 1975 in Kraft getretenen Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Verminderung der Staatenlosigkeit (im Folgenden: Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit) sieht vor:

„Ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats, der in einem ausländischen Staat die Einbürgerung anstrebt, verliert seine Staatsangehörigkeit nur dann, wenn er die ausländische Staatsangehörigkeit erwirbt oder die Zusicherung des ausländischen Staates für die Verleihung der Staatsangehörigkeit erhalten hat.“

 Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit

4        Das am 6. November 1997 im Rahmen des Europarats geschlossene Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit ist am 1. März 2000 in Kraft getreten und gilt seit diesem Datum für die Republik Österreich.

5        In Art. 4 („Grundsätze“) dieses Übereinkommens heißt es:

„Die Bestimmungen betreffend die Staatsangehörigkeit jedes Vertragsstaates müssen auf den folgenden Grundsätzen beruhen:

a)      Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit;

b)      Staatenlosigkeit ist zu vermeiden;

…“

6        Art. 7 („Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf Veranlassung eines Vertragsstaates“) des Übereinkommens bestimmt:

„(1)      Ein Vertragsstaat darf mit Ausnahme der folgenden Fälle in seinem innerstaatlichen Recht nicht den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf Veranlassung des Vertragsstaates vorsehen:

a)      freiwilliger Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit;


b)      Erwerb der Staatsangehörigkeit des Vertragsstaates durch arglistiges Verhalten, falsche Angaben oder die Verschleierung erheblicher Tatsachen, wenn diese dem Antragsteller zuzurechnen sind;

d)      Verhalten, das den lebenswichtigen Interessen des Vertragsstaates schwerwiegend abträglich ist;

(3)      Ein Vertragsstaat darf mit Ausnahme der in Absatz 1 lit. b genannten Fälle in seinem innerstaatlichen Recht den Verlust der Staatsangehörigkeit nach den Absätzen 1 und 2 nicht vorsehen, wenn der Betreffende dadurch staatenlos würde.“

7        Art. 8 („Verlust der Staatsangehörigkeit auf Veranlassung der Person“) Abs. 1 des Übereinkommens lautet:

„Jeder Vertragsstaat gestattet die Aufgabe seiner Staatsangehörigkeit, wenn die Betreffenden dadurch nicht staatenlos werden.“

8        Art. 15 („Andere mögliche Fälle mehrfacher Staatsangehörigkeit“) des Übereinkommens sieht vor:

„Die Bestimmungen dieses Übereinkommens beschränken nicht das Recht eines Vertragsstaates, in seinem innerstaatlichen Recht zu bestimmen, ob:

a)      seine Staatsangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates erwerben oder besitzen, seine Staatsangehörigkeit behalten oder verlieren;

b)      der Erwerb oder die Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit von der Aufgabe oder dem Verlust einer anderen Staatsangehörigkeit abhängt.“

9        Art. 16 („Beibehaltung der bisherigen Staatsangehörigkeit“) des Übereinkommens bestimmt:

„Ein Vertragsstaat darf den Erwerb oder die Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit nicht von der Aufgabe oder dem Verlust einer anderen Staatsangehörigkeit abhängig machen, wenn die Aufgabe oder der Verlust unmöglich oder unzumutbar ist.“


 Unionsrecht

10      In Art. 20 AEUV heißt es:

„(1)      Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt diese aber nicht.

(2)      Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem

a)      das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten;

…“

 Österreichisches Recht

11      § 10 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (BGBl. Nr. 311/1985) in der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Fassung (im Folgenden: StbG oder Staatsbürgerschaftsgesetz) bestimmt:

„(1)      Die Staatsbürgerschaft darf einem Fremden, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, nur verliehen werden, wenn

6.      er nach seinem bisherigen Verhalten Gewähr dafür bietet, dass er zur Republik bejahend eingestellt ist und weder eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstellt noch andere in Art. 8 Abs. 2 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten] genannte öffentliche Interessen gefährdet;

(2)      Die Staatsbürgerschaft darf einem Fremden nicht verliehen werden, wenn

2.      er mehr als einmal wegen einer schwerwiegenden Verwaltungsübertretung mit besonderem Unrechtsgehalt … rechtskräftig bestraft worden ist; …

(3)      Einem Fremden, der eine fremde Staatsangehörigkeit besitzt, darf die Staatsbürgerschaft nicht verliehen werden, wenn er

1.      die für das Ausscheiden aus seinem bisherigen Staatsverband erforderlichen Handlungen unterlässt, obwohl ihm diese möglich und zumutbar sind …

…“

12      § 20 Abs. 1 bis 3 StbG sieht vor:

„(1)      Die Verleihung der Staatsbürgerschaft ist einem Fremden zunächst für den Fall zuzusichern, dass er binnen zwei Jahren das Ausscheiden aus dem Verband seines bisherigen Heimatstaates nachweist, wenn

1.      er nicht staatenlos ist;

2.      … und

3.      ihm durch die Zusicherung das Ausscheiden aus dem Verband seines bisherigen Heimatstaates ermöglicht wird oder erleichtert werden könnte.

(2)      Die Zusicherung ist zu widerrufen, wenn der Fremde mit Ausnahme von § 10 Abs. 1 Z 7 auch nur eine der für die Verleihung der Staatsbürgerschaft erforderlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt.

(3)      Die Staatsbürgerschaft, deren Verleihung zugesichert wurde, ist zu verleihen, sobald der Fremde

1.      aus dem Verband seines bisherigen Heimatstaates ausgeschieden ist oder

2.      nachweist, dass ihm die für das Ausscheiden aus seinem bisherigen Staatsverband erforderlichen Handlungen nicht möglich oder nicht zumutbar waren.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

13      Mit Schreiben vom 15. Dezember 2008 beantragte JY, die damals estnische Staatsangehörige war, die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft.

14      Mit Bescheid vom 11. März 2014 sicherte die Niederösterreichische Landesregierung (Österreich) JY u. a. gemäß § 20 StbG die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft für den Fall zu, dass sie binnen zwei Jahren das Ausscheiden aus dem Verband der Republik Estland nachweise.

15      JY, die in der Zwischenzeit ihren Hauptwohnsitz nach Wien (Österreich) verlegt hatte, legte innerhalb von zwei Jahren die Bestätigung seitens der Republik Estland vor, dass sie mit Bescheid der estnischen Regierung vom 27. August 2015 aus dem Verband dieses Mitgliedstaats entlassen worden sei. Seit der Entlassung aus dem estnischen Staatsverband ist JY staatenlos.

16      Mit Bescheid vom 6. Juli 2017 widerrief die für das Ansuchen von JY zuständig gewordene Wiener Landesregierung (Österreich) den Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 11. März 2014 gemäß § 20 Abs. 2 StbG und wies das Ansuchen von JY um Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG ab.

17      Zur Begründung ihres Bescheids führte die Wiener Landesregierung aus, dass sich JY, nachdem ihr die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft zugesichert worden sei, mit der Nichtanbringung der Begutachtungsplakette an ihrem Fahrzeug und dem Lenken eines Kraftfahrzeugs in alkoholisiertem Zustand zwei schwerwiegende Verwaltungsübertretungen zuschulden kommen lassen habe und darüber hinaus acht Verwaltungsübertretungen zu vertreten habe, die zwischen 2007 und 2013 – also vor Erteilung der Zusicherung ihr gegenüber – begangen worden seien. Daher erfülle JY nicht mehr die in § 10 Abs. 1 Z 6 StbG vorgesehenen Voraussetzungen für die Verleihung der Staatsbürgerschaft.

18      Mit Erkenntnis vom 23. Januar 2018 wies das Verwaltungsgericht Wien (Österreich) die Beschwerde von JY gegen diesen Bescheid ab. Es stellte zunächst fest, dass die Zusicherung der österreichischen Staatsbürgerschaft auch dann gemäß § 20 Abs. 2 StbG widerrufen werden könne, wenn wie im vorliegenden Fall ein Versagungsgrund nach Erbringung des Nachweises über das Ausscheiden aus dem bisherigen Staatsverband eintrete, und wies sodann darauf hin, dass die erste schwerwiegende Verwaltungsübertretung von JY geeignet sei, den Schutz der öffentlichen Verkehrssicherheit zu gefährden, und dass die zweite schwerwiegende Verwaltungsübertretung von JY geeignet sei, die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer in besonderem Maß zu gefährden. Diese beiden schwerwiegenden Verwaltungsübertretungen ließen somit in Zusammenschau mit den acht zwischen 2007 und 2013 begangenen Verwaltungsübertretungen eine positive Zukunftsprognose im Sinne des §10 Abs. 1 Z 6 StbG in Bezug auf JY nicht mehr zu. Der lange Aufenthalt von JY in Österreich sowie ihre dortige berufliche und persönliche Integration könnten dieses Ergebnis nicht in Frage stellen.

19      Außerdem befand das Verwaltungsgericht Wien, dass der Bescheid, um den es im Ausgangsverfahren geht, angesichts des Vorliegens dieser Straftaten im Hinblick auf das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit verhältnismäßig sei. Des Weiteren fällt seiner Ansicht nach die Rechtssache, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, nicht unter das Unionsrecht.

20      Gegen dieses Erkenntnis erhob JY Revision an den Verwaltungsgerichtshof (Österreich).

21      Dieser erläutert, dass dem österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht u. a. die Ordnungsvorstellung zugrunde liege, mehrfache Staatsangehörigkeiten nach Möglichkeit zu vermeiden. Im Übrigen ließen verschiedene ausländische Rechtsordnungen zur Vermeidung von Staatenlosigkeit ein Ausscheiden aus ihrem Staatsverband zunächst nicht zu, verlangten aber nicht erst den Erwerb der anderen (hier der österreichischen) Staatsbürgerschaft, sondern begnügten sich schon mit deren Zusicherung.

22      Die Zusicherung nach § 20 Abs. 1 StbG begründe einen nur durch den Nachweis des Ausscheidens aus dem fremden Staatsverband bedingten Rechtsanspruch auf Verleihung der Staatsbürgerschaft. Gemäß § 20 Abs. 2 StbG sei diese Zusicherung jedoch zu widerrufen, wenn der Fremde eine für die Verleihung der Staatsbürgerschaft erforderliche Voraussetzung nicht mehr erfülle.

23      Im vorliegenden Fall seien aber nach österreichischem Recht unter Berücksichtigung der von JY vor und nach der Zusicherung der österreichischen Staatsbürgerschaft begangenen Verwaltungsübertretungen die Voraussetzungen für den Widerruf dieser Zusicherung im Sinne von § 20 Abs. 2 StbG gegeben, da die Betroffene eine der Voraussetzungen für die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft, nämlich jene des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG, nicht mehr erfülle.

24      Es stelle sich jedoch die Frage, ob die Situation, in der sich JY befinde, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht falle und die zuständige Verwaltungsbehörde beim Erlass des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheids das Unionsrecht habe beachten müssen, insbesondere den darin verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

25      Wie das Verwaltungsgericht Wien in seinem Erkenntnis ist das vorlegende Gericht insoweit der Ansicht, dass eine solche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst werde.

26      Zu dem für die Prüfung der Begründetheit des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichts Wien maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Widerrufsbescheids habe JY nämlich nicht mehr den Status einer Unionsbürgerin gehabt. Deshalb sei der Verlust der Unionsbürgerschaft nicht Ausfluss dieses Bescheids gewesen, so dass es sich anders verhalte als in den Situationen, die den Urteilen vom 2. März 2010, Rottmann (C‑135/08, EU:C:2010:104), und vom 12. März 2019, Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2019:189), zugrunde lägen. Vielmehr habe JY durch den Widerruf der Zusicherung der österreichischen Staatsbürgerschaft in Verbindung mit der Ablehnung ihres Ansuchens auf Verleihung dieser Staatsbürgerschaft den bedingt erworbenen Rechtsanspruch auf Wiedererlangung der Unionsbürgerschaft, die sie zuvor von sich aus bereits aufgegeben habe, verloren.

27      Sollte jedoch ein Fall wie derjenige von JY unter das Unionsrecht fallen, sieht sich das vorlegende Gericht vor die Frage gestellt, ob die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs prüfen müssen, ob der Widerruf der Zusicherung der betreffenden Staatsbürgerschaft, der die Wiedererlangung der Unionsbürgerschaft verhindert, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der betroffenen Person aus unionsrechtlicher Sicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Das vorlegende Gericht sieht es in diesem Fall als naheliegend an, dass eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich ist, und hält es vorliegend für fraglich, ob es insoweit alleine ausschlaggebend sein kann, dass JY ihre Unionsbürgerschaft aufgegeben hat, indem sie von sich aus das zwischen ihr und Estland bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die im Verhältnis zu diesem Mitgliedstaat bestehende Gegenseitigkeit der dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegenden Rechte und Pflichten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 33) aufgelöst hat.

28      Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Fällt die Situation einer natürlichen Person, die, wie die Revisionswerberin des Ausgangsverfahrens, auf ihre Staatsangehörigkeit zu einem einzigen Mitgliedstaat der Europäischen Union und somit auf ihre Unionsbürgerschaft verzichtet hat, um die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats entsprechend der Zusicherung der von ihr beantragten Verleihung der Staatsangehörigkeit des anderen Mitgliedstaats zu erlangen, und deren Möglichkeit, die Unionsbürgerschaft wiederzuerlangen, nachfolgend durch den Widerruf dieser Zusicherung beseitigt wird, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht, so dass beim Widerruf der Zusicherung der Verleihung das Unionsrecht zu beachten ist?

Falls die erste Frage bejaht wird:

2.      Haben die zuständigen nationalen Behörden einschließlich gegebenenfalls der nationalen Gerichte im Rahmen der Entscheidung über den Widerruf der Zusicherung der Verleihung der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats festzustellen, ob der Widerruf der Zusicherung, der die Wiedererlangung der Unionsbürgerschaft beseitigt, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der betroffenen Person aus unionsrechtlicher Sicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

29      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Situation einer Person, die die Staatsangehörigkeit nur eines Mitgliedstaats besitzt und diese mit der Folge des Verlusts ihres Unionsbürgerstatus zwecks Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats aufgibt, nachdem ihr die Behörden dieses Mitgliedstaats die Verleihung von dessen Staatsbürgerschaft zugesichert haben, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt, wenn diese Zusicherung widerrufen wird und die betroffene Person infolgedessen daran gehindert wird, den Unionsbürgerstatus wiederzuerlangen.

30      Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass nach § 20 Abs. 1 StbG ein Fremder, der die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt, die Zusicherung erhält, dass ihm die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen wird, wenn er binnen zwei Jahren das Ausscheiden aus dem Verband seines Heimatstaats nachweist. Daraus folgt, dass es im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens zur Vorbedingung für die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an diesen Fremden infolge einer solchen Zusicherung gemacht wird, dass er seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgibt.

31      Folglich ergibt sich in einem ersten Schritt der – zumindest vorläufige – Verlust des Unionsbürgerstatus einer Person wie JY, die nur die Staatsangehörigkeit ihres Herkunftsmitgliedstaats besitzt und ein Einbürgerungsverfahren zwecks des Erwerbs der österreichischen Staatsangehörigkeit anstrengt, unmittelbar daraus, dass die Regierung des Herkunftsmitgliedstaats auf Antrag dieser Person das Staatsangehörigkeitsband zu ihr aufgelöst hat.

32      Erst in einem zweiten Schritt führt die Entscheidung der zuständigen österreichischen Behörden, die Zusicherung der Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft zu widerrufen, zum endgültigen Verlust des Unionsbürgerstatus einer solchen Person.

33      Daher war JY zu dem Zeitpunkt, der nach den Angaben des vorlegenden Gerichts für die Prüfung der Begründetheit des bei ihm anhängigen Rechtsmittels maßgeblich ist, d. h. dem Zeitpunkt des Bescheids über den Widerruf der Zusicherung der österreichischen Staatsbürgerschaft, bereits staatenlos geworden und hatte mithin ihren Unionsbürgerstatus verloren.

34      Das vorlegende Gericht und die österreichische Regierung schließen daraus, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle, und weisen insoweit darauf hin, dass sich diese Situation von den Situationen unterscheide, die den Urteilen vom 2. März 2010, Rottmann (C‑135/08, EU:C:2010:104), und vom 12. März 2019, Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2019:189), zugrunde lägen.

35      Es ist jedoch erstens darauf hinzuweisen, dass sich in einer Situation wie derjenigen von JY der Verlust des Unionsbürgerstatus zwar daraus ergibt, dass der Herkunftsmitgliedstaat dieser Person das Staatsangehörigkeitsband zu ihr auf ihren Antrag aufgelöst hat, dieser Antrag aber im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens mit dem Ziel des Erwerbs der österreichischen Staatsbürgerschaft gestellt wurde und die Folge dessen ist, dass diese Person unter Berücksichtigung der ihr erteilten Zusicherung der Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft den Anforderungen sowohl des Staatsbürgerschaftsgesetzes als auch des Zusicherungsbescheids nachgekommen ist.

36      Unter diesen Umständen kann nicht angenommen werden, dass eine Person wie JY den Unionsbürgerstatus aus freien Stücken aufgegeben hat. Vielmehr soll ihr, nachdem sie seitens des Aufnahmemitgliedstaats die Zusicherung der Verleihung von dessen Staatsbürgerschaft erhalten hat, der Antrag auf Auflösung des Staatsangehörigkeitsbands zu dem Mitgliedstaat, dessen Angehörige sie ist, ermöglichen, eine Voraussetzung für den Erwerb der besagten Staatsbürgerschaft zu erfüllen und nach deren Verleihung weiterhin den Unionsbürgerstatus und die damit verbundenen Rechte in Anspruch zu nehmen.

37      Zweitens ist daran zu erinnern, dass die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit nach dem Völkerrecht in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten fällt und die betreffenden nationalen Vorschriften in Situationen, die unter das Unionsrecht fallen, dieses Recht beachten müssen (Urteil vom 14. Dezember 2021, V.М.А., C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Außerdem verleiht Art. 20 Abs. 1 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteil vom 15. Juli 2021, A [Öffentliche Gesundheitsversorgung], C‑535/19, EU:C:2021:595, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Wenn aber die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens die Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft dieses Staates widerrufen, befindet sich die betroffene Person, die Staatsangehörige nur eines anderen Mitgliedstaats war und ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit aufgegeben hat, um den mit diesem Verfahren verbundenen Anforderungen nachzukommen, in einer Situation, in der es ihr unmöglich ist, die sich aus ihrem Unionsbürgerstatus ergebenden Rechte weiterhin geltend zu machen.

40      Folglich berührt ein solches Verfahren insgesamt, selbst wenn eine Verwaltungsentscheidung eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, dessen Staatsangehörigkeit beantragt wird, zwischengeschaltet ist, den Status, der den Angehörigen der Mitgliedstaaten mit Art. 20 AEUV verliehen wird, da es dazu führen kann, dass einer Person, die sich in einer Situation wie derjenigen von JY befindet, sämtliche mit diesem Status verbundenen Rechte verloren gehen, obwohl diese Person bei Beginn des Einbürgerungsverfahrens die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besaß und damit den Unionsbürgerstatus innehatte.

41      Drittens steht fest, dass JY als estnische Staatsangehörige von ihrer Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV Gebrauch gemacht hat, als sie sich in Österreich niederließ, wo sie seit mehreren Jahren wohnt.

42      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sollen aber die Rechte eines Unionsbürgers aus Art. 21 Abs. 1 AEUV u. a. die schrittweise Integration des betreffenden Unionsbürgers in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats fördern (Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 56).

43      Nach der Logik der mit dieser Bestimmung des AEU-Vertrags geförderten schrittweisen Integration muss mithin die Situation eines Unionsbürgers, dem in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit innerhalb der Union aus dieser Bestimmung Rechte erwachsen sind und der dem Verlust nicht nur dieser Rechte, sondern auch ebendieser Eigenschaft als Unionsbürger ausgesetzt ist, obwohl er sich im Wege der Einbürgerung im Aufnahmemitgliedstaat um eine verstärkte Eingliederung in dessen Gesellschaft bemüht hat, in den Anwendungsbereich der Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft fallen.

44      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Situation einer Person, die die Staatsangehörigkeit nur eines Mitgliedstaats besitzt und diese mit der Folge des Verlusts ihres Unionsbürgerstatus zwecks Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats aufgibt, nachdem ihr die Behörden dieses Mitgliedstaats die Verleihung von dessen Staatsbürgerschaft zugesichert haben, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt, wenn diese Zusicherung widerrufen wird und die betroffene Person infolgedessen daran gehindert wird, den Unionsbürgerstatus wiederzuerlangen.

 Zur zweiten Frage

45      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass die zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats zu prüfen haben, ob der Widerruf der Zusicherung der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, durch den der Verlust des Unionsbürgerstatus für die betreffende Person endgültig wird, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation dieser Person mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

46      Wie oben in Rn. 38 ausgeführt, ist der Unionsbürgerstatus, der jeder Person mit der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats durch Art. 20 Abs. 1 AEUV verliehen wird, dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein. Insoweit sieht Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV vor, dass die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten haben, darunter das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

47      Wenn aber im Rahmen eines in einem Mitgliedstaat eingeleiteten Einbürgerungsverfahrens dieser Mitgliedstaat aufgrund seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit von einem Unionsbürger verlangt, dass er die Staatsangehörigkeit seines Herkunftsmitgliedstaats aufgibt, erfordern die Ausübung und die praktische Wirksamkeit der Rechte, die diesem Unionsbürger nach Art. 20 AEUV zustehen, dass er zu keinem Zeitpunkt Gefahr laufen darf, seinen grundlegenden Status als Unionsbürger allein deshalb zu verlieren, weil dieses Verfahren betrieben wird.

48      Jeder auch nur vorübergehende Verlust dieses Status bedeutet nämlich, dass der betroffenen Person die Möglichkeit des Genusses aller mit diesem Status verliehenen Rechte für unbestimmte Zeit genommen wird.

49      In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Grundsätze zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Staatsangehörigkeit und zu ihrer Verpflichtung, diese Zuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts auszuüben, sowohl für den Aufnahmemitgliedstaat als auch für den Mitgliedstaat der ursprünglichen Staatsangehörigkeit gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 62).

50      Beantragt ein Angehöriger eines Mitgliedstaats die Entlassung aus seiner Staatsangehörigkeit, um die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats erwerben und damit weiterhin den Unionsbürgerstatus genießen zu können, sollte der Herkunftsmitgliedstaat deshalb nicht auf der Grundlage einer Zusicherung dieses anderen Mitgliedstaats, dass dessen Staatsangehörigkeit dem Betroffenen verliehen werde, eine endgültige Entscheidung über das Erlöschen der Staatsangehörigkeit erlassen, ohne sicherzustellen, dass diese Entscheidung erst in Kraft tritt, wenn die neue Staatsangehörigkeit tatsächlich erworben wurde.

51      Davon abgesehen trifft in einer Situation, in der der Unionsbürgerstatus bereits vorläufig verloren wurde, weil der Herkunftsmitgliedstaat die betreffende Person im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens aus seiner Staatsangehörigkeit entlassen hat, bevor diese Person tatsächlich die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erworben hat, die Verpflichtung zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit von Art. 20 AEUV in erster Linie den letztgenannten Mitgliedstaat. Diese Verpflichtung besteht insbesondere dann, wenn dieser Mitgliedstaat beschließt, die der betreffenden Person zuvor erteilte Zusicherung der Verleihung der Staatsangehörigkeit zu widerrufen, da diese Entscheidung zur Folge haben kann, dass der Verlust des Unionsbürgerstatus endgültig wird. Eine solche Entscheidung kann daher nur aus legitimen Gründen und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit getroffen werden.

52      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es legitim ist, dass ein Mitgliedstaat das zwischen ihm und seinen Staatsbürgern bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen, schützen will (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 51, und vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 33).

53      Im vorliegenden Fall soll das Staatsbürgerschaftsgesetz, wie die österreichische Regierung ausgeführt hat und wie sich aus § 10 Abs. 3 StbG ergibt, namentlich verhindern, dass ein und dieselbe Person mehrere Staatsangehörigkeiten besitzt. § 20 Abs. 1 StbG gehört zu den Bestimmungen, mit denen ebendieses Ziel erreicht werden soll.

54      Hierzu ist zum einen festzustellen, dass es legitim ist, dass ein Mitgliedstaat wie die Republik Österreich in Ausübung seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust seiner Staatsangehörigkeit davon ausgeht, dass unerwünschte Wirkungen des Besitzes mehrerer Staatsangehörigkeiten zu vermeiden sind.

55      Die grundsätzliche Legitimität dieses Ziels wird durch Art. 15 Buchst. b des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit bestätigt, wonach die Bestimmungen dieses Übereinkommens nicht das Recht eines Vertragsstaats beschränken, in seinem innerstaatlichen Recht zu bestimmen, ob der Erwerb oder die Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit von der Aufgabe oder dem Verlust einer anderen Staatsangehörigkeit abhängt. Wie vom Generalanwalt in Nr. 92 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt, findet diese Legitimität weitere Bekräftigung in Art. 7 Abs. 2 des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit, wonach ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats, der in einem ausländischen Staat die Einbürgerung anstrebt, seine Staatsangehörigkeit nur dann verliert, wenn er die ausländische Staatsangehörigkeit erwirbt oder die Zusicherung des ausländischen Staates für die Verleihung der Staatsangehörigkeit erhalten hat.

56      Zum anderen sieht § 20 Abs. 2 StbG den Widerruf der Zusicherung der Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft vor, wenn der Betroffene auch nur eine der für die Verleihung der Staatsbürgerschaft erforderlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt. Zu diesen Voraussetzungen zählt die des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG, wonach der Betroffene nach seinem bisherigen Verhalten Gewähr dafür bieten muss, dass er zur Republik Österreich bejahend eingestellt ist und weder eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstellt noch andere in Art. 8 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten genannte öffentliche Interessen gefährdet.

57      Die Entscheidung, die Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft mit der Begründung zu widerrufen, dass der Betroffene keine bejahende Einstellung zu dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er erwerben möchte, habe und sein Verhalten geeignet sei, die öffentliche Ordnung und Sicherheit dieses Mitgliedstaats zu gefährden, beruht auf einem im Allgemeininteresse liegenden Grund (vgl. entsprechend Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 51).

58      Gleichwohl ist es in Anbetracht der Bedeutung, die das Primärrecht dem Unionsbürgerstatus beimisst, der, wie oben in den Rn. 38 und 46 ausgeführt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten ist, Sache der zuständigen nationalen Behörden und der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob mit der Entscheidung, die Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft zu widerrufen, wenn sie zum Verlust des Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte führt, hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen und gegebenenfalls seiner Familienangehörigen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird (vgl. entsprechend Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 55 und 56, und vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 40).

59      Die Prüfung, ob der im Unionsrecht verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet ist, erfordert eine Beurteilung der individuellen Situation der betroffenen Person sowie gegebenenfalls derjenigen ihrer Familie, um zu bestimmen, ob die Entscheidung, die Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft zu widerrufen, wenn sie zum Verlust des Unionsbürgerstatus führt, Folgen hat, die die normale Entwicklung des Familien- und Berufslebens dieser Person gemessen an dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Ziel aus unionsrechtlicher Sicht unverhältnismäßig beeinträchtigen. Dabei darf es sich nicht um hypothetische oder potenzielle Folgen handeln (vgl. entsprechend Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 44).

60      In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu prüfen, ob diese Entscheidung im Verhältnis zur Schwere des von der betroffenen Person begangenen Verstoßes und gemessen an deren Möglichkeit, ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen, gerechtfertigt ist (vgl. entsprechend Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 56).

61      Außerdem müssen sich die zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung Gewissheit darüber verschaffen, dass eine solche Entscheidung mit den Grundrechten in Einklang steht, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, deren Beachtung der Gerichtshof sicherstellt, verbürgt sind, insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, wie es in Art. 7 dieser Charta niedergelegt ist, gegebenenfalls in Verbindung mit der Verpflichtung, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62      Was im vorliegenden Fall erstens die Möglichkeit für JY betrifft, die estnische Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen, wird das vorlegende Gericht berücksichtigen müssen, dass das estnische Recht nach Auskunft der estnischen Regierung in der mündlichen Verhandlung von der aus dem Staatsverband der Republik Estland ausgeschiedenen Person u. a. eine achtjährige Ansässigkeit in diesem Mitgliedstaat verlangt, um dessen Staatsangehörigkeit wiedererlangen zu können.

63      Allerdings kann ein Mitgliedstaat am Widerruf der Zusicherung seiner Staatsangehörigkeit nicht allein deshalb gehindert sein, weil die betroffene Person, die die Voraussetzungen für den Erwerb dieser Staatsangehörigkeit nicht mehr erfüllt, die Staatsangehörigkeit ihres Herkunftsmitgliedstaats nur schwer wiedererlangen können wird (vgl. entsprechend Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 57).

64      Was zweitens die Schwere der von JY begangenen Verstöße anbelangt, ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass ihr zwei nach Zusicherung der Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft begangene schwerwiegende Verwaltungsübertretungen, nämlich die Nichtanbringung der Begutachtungsplakette an ihrem Fahrzeug und das Lenken eines Kraftfahrzeugs in alkoholisiertem Zustand, sowie acht vor Erteilung dieser Zusicherung begangene Verwaltungsübertretungen aus der Zeit von 2007 bis 2013 zur Last gelegt wurden.

65      Die letztgenannten acht Verwaltungsübertretungen waren bei Erteilung der Zusicherung bekannt und standen dieser nicht entgegen. Daher können sie keine Berücksichtigung mehr finden, um die Entscheidung über den Widerruf ebendieser Zusicherung zu tragen.

66      Bei den beiden Verwaltungsübertretungen von JY nach Zusicherung der Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft ging das Verwaltungsgericht Wien davon aus, dass sie „den Schutz der öffentlichen Verkehrssicherheit gefährden“ bzw. „die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer im besonderen Maß gefährden“. Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts liegt im letzten Fall ein „gravierender Verstoß gegen [der] Ordnung und [der] Sicherheit des Straßenverkehrs dienende[…] Schutznormen“ vor, der für sich „allein … die Nichterfüllung der Verleihungsvoraussetzung nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG begründen kann, ohne dass es auf den Grad der Alkoholisierung entscheidend ankommt“.

67      Die österreichische Regierung hat in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hingewiesen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs im Rahmen des Vorgehens nach § 20 Abs. 2 in Verbindung mit § 10 Abs. 1 Z 6 StbG auf das Gesamtverhalten des Staatsbürgerschaftswerbers, insbesondere auch auf von ihm begangene Straftaten, Bedacht zu nehmen sei. Maßgebend sei dabei, ob es sich um Rechtsbrüche handle, die den Schluss rechtfertigten, dass der Staatsbürgerschaftswerber auch in Zukunft wesentliche Vorschriften missachten werde, die zum Schutz vor Gefahren für das Leben, die Gesundheit, die Sicherheit oder die öffentliche Ruhe und Ordnung oder zum Schutz anderer in Art. 8 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten genannter Rechtsgüter erlassen worden seien.


68      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die „öffentliche Ordnung“ und die „öffentliche Sicherheit“ als Rechtfertigung für eine Entscheidung, die zum Verlust des den Angehörigen der Mitgliedstaaten mit Art. 20 AEUV verliehenen Unionsbürgerstatus führt, begrifflich eng auszulegen sind und ihre Tragweite im Übrigen nicht einseitig von den Mitgliedstaaten ohne Kontrolle durch die Organe der Union bestimmt werden darf (vgl. entsprechend Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 82).

69      Dabei hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff „öffentliche Ordnung“ jedenfalls voraussetzt, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum Begriff „öffentliche Sicherheit“ geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass er sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst, so dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie die Gefährdung des Überlebens der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70      Im vorliegenden Fall ist unter Berücksichtigung der Art und Schwere der beiden oben in Rn. 66 genannten Verwaltungsübertretungen sowie des Erfordernisses einer engen Auslegung der Begriffe „öffentliche Ordnung“ und „öffentliche Sicherheit“ nicht ersichtlich, dass von JY eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, oder eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich ausgeht. In diesen Übertretungen liegt zwar ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung, der die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigt, doch ergibt sich sowohl aus den schriftlichen Erklärungen von JY als auch aus der Antwort der österreichischen Regierung auf eine Frage des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung, dass diese beiden Verwaltungsübertretungen, die im Übrigen relativ geringe Geldstrafen von 112 Euro bzw. 300 Euro nach sich zogen, nicht so geartet waren, dass JY der Führerschein entzogen worden wäre und ihr damit verboten gewesen wäre, ein Kraftfahrzeug auf öffentlichen Straßen zu führen.

71      Mit bloßen Verwaltungsgeldstrafen ahndbare Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung können nicht als für den Nachweis geeignet angesehen werden, dass die für diese Verstöße verantwortliche Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, die es rechtfertigen kann, dass der Verlust ihres Unionsbürgerstatus endgültig wird. Dies gilt umso mehr, als diese Verstöße im vorliegenden Fall geringe Geldstrafen nach sich zogen und nicht den Verlust der Berechtigung von JY, weiterhin ein Kraftfahrzeug auf öffentlichen Straßen zu führen.

72      Im Übrigen können solche Verstöße, falls das vorlegende Gericht feststellen sollte, dass der Betroffenen die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß deren Zusicherung bereits verliehen worden wäre, für sich genommen nicht zu einer Rücknahme der Einbürgerung führen.

73      In Anbetracht der erheblichen Folgen für die Situation von JY, insbesondere hinsichtlich der normalen Entwicklung ihres Familien- und Berufslebens, die mit dem Bescheid über den Widerruf der Zusicherung der österreichischen Staatsangehörigkeit, durch den der Verlust des Unionsbürgerstatus endgültig wird, einhergehen, ist somit nicht ersichtlich, dass dieser Bescheid in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der von dieser Person begangenen Verstöße steht.

74      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass die zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats zu prüfen haben, ob der Widerruf der Zusicherung der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, durch den der Verlust des Unionsbürgerstatus für die betreffende Person endgültig wird, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation dieser Person mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Diesem Erfordernis der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht Genüge getan, wenn der Widerruf mit straßenverkehrsrechtlichen Verwaltungsübertretungen begründet wird, die nach dem anwendbaren nationalen Recht rein finanziell geahndet werden.

 Kosten

75      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Situation einer Person, die die Staatsangehörigkeit nur eines Mitgliedstaats besitzt und diese mit der Folge des Verlusts ihres Unionsbürgerstatus zwecks Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats aufgibt, nachdem ihr die Behörden dieses Mitgliedstaats die Verleihung von dessen Staatsbürgerschaft zugesichert haben, fällt ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht, wenn diese Zusicherung widerrufen wird und die betroffene Person infolgedessen daran gehindert wird, den Unionsbürgerstatus wiederzuerlangen.

2.      Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats zu prüfen haben, ob der Widerruf der Zusicherung der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, durch den der Verlust des Unionsbürgerstatus für die betreffende Person endgültig wird, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation dieser Person mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Diesem Erfordernis der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht Genüge getan, wenn der Widerruf mit straßenverkehrsrechtlichen Verwaltungsübertretungen begründet wird, die nach dem anwendbaren nationalen Recht rein finanziell geahndet werden.

Lenaerts

Arabadjiev

Prechal

Jürimäe

Lycourgos

Rodin

Jarukaitis

Biltgen

Xuereb

Piçarra

 

      Rossi

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 18. Januar 2022.

Der Kanzler

 

Der Präsident

A. Calot Escobar

 

K. Lenaerts


*      Verfahrenssprache: Deutsch.