URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

2. März 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 6 Abs. 3 und 4 – Rechtmäßigkeit der Verarbeitung – Vorlegung eines Dokuments mit personenbezogenen Daten im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens – Art. 23 Abs. 1 Buchst. f und j – Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und Schutz von Gerichtsverfahren – Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche – Zu erfüllende Anforderungen – Berücksichtigung des Interesses betroffener Personen – Abwägung der widerstreitenden Interessen – Art. 5 – Datenminimierung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 – Recht auf Schutz der Privatsphäre – Art. 8 – Recht auf Schutz personenbezogener Daten – Art. 47 – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑268/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Högsta domstol (Oberstes Gericht, Schweden) mit Entscheidung vom 15. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 23. April 2021, in dem Verfahren

Norra Stockholm Bygg AB

gegen

Per Nycander AB,

Beteiligte:

Entral AB,


erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juni 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Norra Stockholm Bygg AB, vertreten durch H. Täng Nilsson und E. Wassén, Advokater,

–        der Per Nycander AB, vertreten durch P. Degerfeldt und V. Hermansson, Advokater,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch C. Meyer-Seitz, H. Shev und O. Simonsson als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, M. Gustafsson und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 6. Oktober 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 und 4 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Norra Stockholm Bygg AB (im Folgenden: Fastec) und der Per Nycander AB (im Folgenden: Nycander) wegen eines Antrags auf Offenlegung des elektronischen Personalverzeichnisses von Fastec, die für Nycander Arbeiten durchgeführt hatte, um die Kosten der von Nycander zu zahlenden Arbeiten zu bestimmen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 1, 2, 4, 20, 26, 45 und 50 DSGVO heißt es:

„(1)      Der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ist ein Grundrecht. Gemäß Artikel 8 Absatz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden ‚Charta‘) sowie Artikel 16 Absatz 1 [AEUV] hat jede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.

(2)      Die Grundsätze und Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten sollten gewährleisten, dass ihre Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere ihr Recht auf Schutz personenbezogener Daten ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Aufenthaltsorts gewahrt bleiben. Diese Verordnung soll zur Vollendung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und einer Wirtschaftsunion, zum wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt, zur Stärkung und zum Zusammenwachsen der Volkswirtschaften innerhalb des Binnenmarkts sowie zum Wohlergehen natürlicher Personen beitragen.

(4)      Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen. Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. …

(20)      Diese Verordnung gilt zwar unter anderem für die Tätigkeiten der Gerichte und anderer Justizbehörden, doch könnte im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten festgelegt werden, wie die Verarbeitungsvorgänge und Verarbeitungsverfahren bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte und andere Justizbehörden im Einzelnen auszusehen haben. …

(26)      Die Grundsätze des Datenschutzes sollten für alle Informationen gelten, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen. Einer Pseudonymisierung unterzogene personenbezogene Daten, die durch Heranziehung zusätzlicher Informationen einer natürlichen Person zugeordnet werden könnten, sollten als Informationen über eine identifizierbare natürliche Person betrachtet werden. … Die Grundsätze des Datenschutzes sollten daher nicht für anonyme Informationen gelten, d. h. für Informationen, die sich nicht auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen, oder personenbezogene Daten, die in einer Weise anonymisiert worden sind, dass die betroffene Person nicht oder nicht mehr identifiziert werden kann. …

(45)      Erfolgt die Verarbeitung durch den Verantwortlichen aufgrund einer ihm obliegenden rechtlichen Verpflichtung oder ist die Verarbeitung zur Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erforderlich, muss hierfür eine Grundlage im Unionsrecht oder im Recht eines Mitgliedstaats bestehen. … Ein Gesetz als Grundlage für mehrere Verarbeitungsvorgänge kann ausreichend sein, wenn die Verarbeitung aufgrund einer dem Verantwortlichen obliegenden rechtlichen Verpflichtung erfolgt oder wenn die Verarbeitung zur Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erforderlich ist. Desgleichen sollte im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten geregelt werden, für welche Zwecke die Daten verarbeitet werden dürfen. …

(50)      Die Verarbeitung personenbezogener Daten für andere Zwecke als die, für die die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, sollte nur zulässig sein, wenn die Verarbeitung mit den Zwecken, für die die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, vereinbar ist. In diesem Fall ist keine andere gesonderte Rechtsgrundlage erforderlich als diejenige für die Erhebung der personenbezogenen Daten. Ist die Verarbeitung für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, so können im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten die Aufgaben und Zwecke bestimmt und konkretisiert werden, für die eine Weiterverarbeitung als vereinbar und rechtmäßig erachtet wird. … Die im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten vorgesehene Rechtsgrundlage für die Verarbeitung personenbezogener Daten kann auch als Rechtsgrundlage für eine Weiterverarbeitung dienen. …

Hat die betroffene Person ihre Einwilligung erteilt oder beruht die Verarbeitung auf Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten, was in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz insbesondere wichtiger Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses darstellt, so sollte der Verantwortliche die personenbezogenen Daten ungeachtet der Vereinbarkeit der Zwecke weiterverarbeiten dürfen. In jedem Fall sollte gewährleistet sein, dass die in dieser Verordnung niedergelegten Grundsätze angewandt werden und insbesondere die betroffene Person über diese anderen Zwecke und über ihre Rechte einschließlich des Widerspruchsrechts unterrichtet wird. …“

4        Art. 2 („Sachlicher Anwendungsbereich“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Diese Verordnung gilt für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.

(2)      Diese Verordnung findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten

a)      im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt,

b)      durch die Mitgliedstaaten im Rahmen von Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich von Titel V Kapitel 2 EUV fallen,

c)      durch natürliche Personen zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten,

d)      durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit.

(3)      Für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der Union gilt die Verordnung (EG) Nr. 45/2001 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr (ABl. 2001, L 8, S. 1)]. Die Verordnung … Nr. 45/2001 und sonstige Rechtsakte der Union, die diese Verarbeitung personenbezogener Daten regeln, werden im Einklang mit Artikel 98 an die Grundsätze und Vorschriften der vorliegenden Verordnung angepasst.“

5        Art. 4 der Verordnung sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

2.      ‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung;

5.      ‚Pseudonymisierung‘ die Verarbeitung personenbezogener Daten in einer Weise, dass die personenbezogenen Daten ohne Hinzuziehung zusätzlicher Informationen nicht mehr einer spezifischen betroffenen Person zugeordnet werden können, sofern diese zusätzlichen Informationen gesondert aufbewahrt werden und technischen und organisatorischen Maßnahmen unterliegen, die gewährleisten, dass die personenbezogenen Daten nicht einer identifizierten oder identifizierbaren natürlichen Person zugewiesen werden;

…“

6        Art. 5 („Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Personenbezogene Daten müssen

a)      auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden (‚Rechtmäßigkeit, Verarbeitung nach Treu und Glauben, Transparenz‘);

b)      für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden … („Zweckbindung“);

c)      dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein (‚Datenminimierung‘);

d)      sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sein; es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit personenbezogene Daten, die im Hinblick auf die Zwecke ihrer Verarbeitung unrichtig sind, unverzüglich gelöscht oder berichtigt werden (‚Richtigkeit‘);

…“

7        Art. 6 („Rechtmäßigkeit der Verarbeitung“) DSGVO sieht vor:

„(1)      Die Verarbeitung ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt ist:

a)      Die betroffene Person hat ihre Einwilligung zu der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten für einen oder mehrere bestimmte Zwecke gegeben;

c)      die Verarbeitung ist zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich, der der Verantwortliche unterliegt;

e)      die Verarbeitung ist für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde;

(3)      Die Rechtsgrundlage für die Verarbeitungen gemäß Absatz 1 Buchstaben c und e wird festgelegt durch

a)      Unionsrecht oder

b)      das Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt.

Der Zweck der Verarbeitung muss in dieser Rechtsgrundlage festgelegt oder hinsichtlich der Verarbeitung gemäß Absatz 1 Buchstabe e für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich sein, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. … Das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten müssen ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen.

(4)      Beruht die Verarbeitung zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem die personenbezogenen Daten erhoben wurden, nicht auf der Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer Rechtsvorschrift der Union oder der Mitgliedstaaten, die in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der in Artikel 23 Absatz 1 genannten Ziele darstellt, so berücksichtigt der Verantwortliche – um festzustellen, ob die Verarbeitung zu einem anderen Zweck mit demjenigen, zu dem die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, vereinbar ist – unter anderem

a)      jede Verbindung zwischen den Zwecken, für die die personenbezogenen Daten erhoben wurden, und den Zwecken der beabsichtigten Weiterverarbeitung,

…“

8        Art. 23 („Beschränkungen“) der Verordnung bestimmt:

„(1)      Durch Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten, denen der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter unterliegt, können die Pflichten und Rechte gemäß den Artikeln 12 bis 22 und Artikel 34 sowie Artikel 5, insofern dessen Bestimmungen den in den Artikeln 12 bis 22 vorgesehenen Rechten und Pflichten entsprechen, im Wege von Gesetzgebungsmaßnahmen beschränkt werden, sofern eine solche Beschränkung den Wesensgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten achtet und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellt, die Folgendes sicherstellt:

f)      den Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und den Schutz von Gerichtsverfahren;

j)      die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche.

…“

 Schwedisches Recht

 Prozessordnung

9        Die Bestimmungen betreffend den Urkundenbeweis sind in Kap. 38 des Rättegångsbalk (Prozessordnung, im Folgenden: RB) enthalten.

10      Gemäß Kap. 38 § 2 Abs. 1 RB muss, wer ein Dokument besitzt, das als Beweis in Betracht kommt, dieses vorlegen.

11      Eine Ausnahme von dieser Vorlegungspflicht ist u. a. in Kap. 38 § 2 RB vorgesehen. Die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben befreit von der genannten Vorlegungspflicht, wenn sich vermuten lässt, dass der Besitzer des Dokuments zu dessen Inhalt nicht als Zeuge vernommen werden dürfte. Diese Ausnahme betrifft Rechtsanwälte, Ärzte, Psychologen, Priester und andere, denen Informationen unter dem Siegel der Verschwiegenheit im Zusammenhang mit der Wahrnehmung ihrer Aufgaben oder unter vergleichbaren Umständen anvertraut wurden. Der Umfang der Vorlegungspflicht entspricht daher der Aussagepflicht als Zeuge in einem Gerichtsverfahren.

12      Besteht eine Pflicht zur Vorlegung eines Dokuments als Beweis, darf das Gericht von der betreffenden Person nach Kap. 38 § 4 RB die Vorlegung des Schriftstücks verlangen.

 Steuerverfahrensgesetz

13      Wer Baumaßnahmen ausführt, hat gemäß Kap. 39 §§ 11a bis 11c Skatteförfarandelagen (2011:1244) (Steuerverfahrensgesetz [2011:1244]) in einigen Fällen ein elektronisches Personalverzeichnis zu führen. Darin sind alle Angaben festzuhalten, die zur Identifizierung derjenigen Personen erforderlich sind, die an der wirtschaftlichen Tätigkeit beteiligt sind. Diese Verpflichtung obliegt dem Bauherrn, der jedoch einen selbständigen Unternehmer damit betrauen kann. Nach Kap. 39 § 12 des Steuerverfahrensgesetzes ist der schwedischen Finanzverwaltung Zugang zum Personalverzeichnis zu gewähren.

14      Aus Kap. 9 § 5 Skatteförfarandeförordningen (2011:1261) (Steuerverfahrensordnung [2011:1261]) geht hervor, welche Angaben das Personalverzeichnis enthalten muss. Dabei handelt es sich u. a. um die Identität und um die nationale Identifikationsnummer jedweder Personen, die an der wirtschaftlichen Tätigkeit beteiligt ist, sowie Beginn und Ende ihrer jeweiligen Arbeitszeit.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15      Fastec errichtete für Nycander ein Bürogebäude. Die auf der betreffenden Baustelle arbeitenden Personen erfassten ihre Anwesenheitszeiten in einem elektronischen Personalverzeichnis. Das Personalverzeichnis wurde von der durch Fastec beauftragten Entral AB bereitgestellt.

16      Fastec erhob beim Tingsrätt (Gericht erster Instanz, Schweden) Klage auf Bezahlung der ausgeführten Arbeiten. Im Rahmen dieser Klage begehrte Fastec von Nycander die Zahlung eines Betrags, der nach Ansicht von Fastec dem von Nycander geschuldeten Restbetrag entspricht. Nycander trat dem Antrag von Fastec entgegen und machte unter anderem geltend, die Zahl der vom Personal von Fastec geleisteten Stunden sei niedriger als die in diesem Antrag angegebene.

17      Vor dem genannten Gericht beantragte Nycander, Entral die Vorlegung des ungeschwärzten Personalverzeichnisses von Fastec für den Zeitraum vom 1. August 2016 bis zum 30. November 2017 aufzugeben, hilfsweise die Vorlegung einer Fassung mit unkenntlich gemachten nationalen Identifikationsnummern der betreffenden Personen. Nycander begründete diesen Antrag damit, dass Entral Besitzerin des Personalverzeichnisses sei und dieses als wichtiger Beweis für die Entscheidung über die Klage von Fastec in Betracht komme, da die in diesem Personalverzeichnis gespeicherten Daten den Nachweis der vom Personal von Fastec geleisteten Stunden ermöglichen würden.

18      Fastec trat diesem Antrag entgegen und machte vor allem geltend, dass er gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. b DSGVO verstoße. Das Personalverzeichnis von Fastec enthalte personenbezogene Daten, die erhoben worden seien, damit die schwedische Finanzverwaltung die Tätigkeit dieser Gesellschaft kontrollieren könne, und mit diesem Zweck sei es unvereinbar, diese Daten vor Gericht offenzulegen.

19      Das Tingsrätt (Gericht erster Instanz) verurteilte Entral zur Vorlegung einer ungeschwärzten Fassung des Personalverzeichnisses von Fastec für das Personal, das am im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bau im maßgeblichen Zeitraum tätig war. Die Entscheidung des Tingsrätt (Gericht erster Instanz) wurde vom Svea Hovrätt (Berufungsgericht für Svealand, Schweden) bestätigt.

20      Fastec legte gegen die Entscheidung des Svea Hovrätt (Berufungsgericht für Svealand) beim vorlegenden Gericht, dem Högsta domstol (Oberstes Gericht, Schweden), ein Rechtsmittel ein und beantragte, den in Rn. 17 des vorliegenden Urteils genannten Antrag von Nycander zurückzuweisen.

21      Das vorlegende Gericht fragt sich, ob und gegebenenfalls wie die Bestimmungen der DSGVO im Rahmen des Ausgangsverfahrens anzuwenden sind.

22      Zur Dokumente betreffenden Vorlegungspflicht weist dieses Gericht darauf hin, dass sich aus seiner eigenen Rechtsprechung zur Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der RB ergebe, dass zwischen der Erheblichkeit der fraglichen Beweismittel und dem Interesse der Gegenpartei, diese nicht offenzulegen, abzuwägen sei. Bei dieser Abwägung werde, abgesehen von den ausdrücklich in den Rechtsvorschriften vorgesehenen Ausnahmen, grundsätzlich nicht berücksichtigt, ob die in dem betreffenden Dokument enthaltenen Informationen privater Natur seien oder ob andere Personen ein Interesse am Zugang zum Inhalt dieses Dokuments hätten.

23      Mit der in der RB vorgesehenen Pflicht zur Vorlegung eines Dokuments solle vor allem denjenigen, die ein Dokument als Beweis benötigten, Zugang zu ihm verschafft werden. Letztlich gehe es darum, sicherzustellen, dass diejenigen, die ein „berechtigtes Beweisinteresse“ hätten, ihre Rechte geltend machen können.

24      Unter diesen Umständen hat der Högsta domstol (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 6 Abs. 3 und Abs. 4 DSGVO auch Anforderungen an das nationale Verfahrensrecht in Bezug auf die Vorlegungspflicht zu entnehmen?

2.      Falls Frage 1 zu bejahen ist: Sind nach der DSGVO auch die Interessen der betroffenen Personen zu berücksichtigen, wenn über die Vorlegung von Unterlagen mit personenbezogenen Daten entschieden wird? Enthält das Unionsrecht in einem solchen Fall Vorgaben dafür, wie im Einzelnen diese Entscheidung zu treffen ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

25      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 3 und 4 DSGVO dahin auszulegen ist, dass diese Vorschrift im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens auf die Vorlegung eines Personalverzeichnisses als Beweismittel anwendbar ist, das personenbezogene Daten Dritter enthält, die hauptsächlich zum Zwecke der Steuerprüfung erhoben wurden.

26      Zur Beantwortung dieser Frage ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass die DSGVO nach ihrem Art. 2 Abs. 1 „für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen“, gilt, ohne danach zu unterscheiden, wer der Urheber der betreffenden Verarbeitung ist. Daraus folgt, dass die DSGVO vorbehaltlich der in ihrem Art. 2 Abs. 2 und 3 genannten Fälle sowohl für Verarbeitungsvorgänge gilt, die von Privatpersonen vorgenommen werden, als auch für Verarbeitungsvorgänge, die durch Behörden erfolgen, einschließlich – wie aus dem 20. Erwägungsgrund der Verordnung hervorgeht – Justizbehörden wie Gerichten (Urteil vom 24. März 2022, Autoriteit Persoonsgegevens, C‑245/20, EU:C:2022:216, Rn. 25).

27      Als Zweites fällt nach Art. 4 Nr. 2 dieser Verordnung u. a. jeder mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführte Vorgang im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten unter die Definition des Begriffs „Verarbeitung“ personenbezogener Daten, wie etwa das Erheben, das Erfassen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, die Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung.

28      Daraus folgt, dass nicht nur die Erstellung und Führung des elektronischen Personalregisters eine Verarbeitung personenbezogener Daten darstellt, die in den sachlichen Anwendungsbereich der DSGVO fällt (vgl. entsprechend Urteil vom 30. Mai 2013, Worten, C‑342/12, EU:C:2013:355, Rn. 19), sondern auch die von einem Gericht im Rahmen eines Gerichtsverfahrens angeordnete Vorlegung eines digitalen oder physischen Dokuments mit personenbezogenen Daten Dritter als Beweismittel (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Inspektor v Inspektorata Kam Visshia Sadeben Savet [Zwecke der Verarbeitung personenbezogener Daten – Strafrechtliche Ermittlungen], C‑180/21, EU:C:2022:967, Rn. 72).

29      Als Drittes muss jede Verarbeitung personenbezogener Daten, einschließlich der Verarbeitung durch Behörden wie Gerichte, die in Art. 6 DSGVO festgelegten Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit erfüllen.

30      Hierzu ist erstens festzustellen, dass nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. e DSGVO die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig ist, wenn sie für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde.

31      Nach Art. 6 Abs. 3 in Verbindung mit dem 45. Erwägungsgrund DSGVO wird die Rechtsgrundlage für die Verarbeitung gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. e dieser Verordnung durch das Unionsrecht oder das Recht des Mitgliedstaats, dem der Verantwortliche unterliegt, festgelegt. Das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten müssen ferner ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen.

32      Den Vorgaben von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e DSGVO in Verbindung mit Art. 6 Abs. 3 DSGVO wird daher entsprochen, wenn insbesondere eine nationale Rechtsgrundlage vorliegt, die als Grundlage für die Verarbeitung personenbezogener Daten dient, wobei diese Verarbeitung durch Verantwortliche erfolgt, die in Wahrnehmung einer Aufgabe tätig werden, die im öffentlichen Interesse liegt, oder einer Aufgabe, die in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt. Hierzu zählen etwa die Aufgaben, die Gerichte im Rahmen ihrer Rechtsprechungsbefugnisse wahrnehmen.

33      Erfolgt die Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem diese Daten erhoben wurden, ergibt sich zweitens aus Art. 6 Abs. 4 in Verbindung mit dem 50. Erwägungsgrund DSGVO, dass eine solche Verarbeitung insbesondere dann zulässig ist, wenn sie auf dem Recht eines Mitgliedstaats beruht und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz eines der in Art. 23 Abs. 1 DSGVO genannten Ziele darstellt. Wie es im 50. Erwägungsgrund heißt, ist der Verantwortliche zum Schutz dieser wichtigen Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses somit berechtigt, die personenbezogenen Daten ungeachtet dessen weiterzuverarbeiten, ob sich die Verarbeitung mit den Zwecken, für die die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, vereinbaren ließ.

34      Im vorliegenden Fall beruht die Verarbeitung personenbezogener Daten auf der Rechtsgrundlage der einschlägigen Bestimmungen des Kap. 38 RB. Diese Bestimmungen sehen die Verpflichtung zur Vorlegung eines Dokuments als Beweismittel vor und eröffnen den nationalen Gerichten die Möglichkeit, die Vorlegung eines solchen Dokuments anzuordnen. Zwar stellen diese Bestimmungen grundsätzlich eine ausreichende Rechtsgrundlage dar, um eine solche Verarbeitung zu gestatten, doch ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass sich diese Rechtsgrundlage von der des Steuerverfahrensgesetzes unterscheidet, auf dessen Grundlage das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Personalverzeichnis zum Zwecke der Steuerprüfung erstellt wurde. Darüber hinaus zielt die in diesen Bestimmungen der RB vorgesehene Vorlegungspflicht nach Ansicht des vorlegenden Gerichts darauf ab, denjenigen, die das Dokument als Beweis benötigen, Zugang zu ihm zu verschaffen. Es solle sichergestellt werden, dass bei Vorliegen eines „berechtigten Beweisinteresses“ die Rechtsuchenden ihre Rechte geltend machen können.

35      Dem vorlegenden Gericht zufolge geht aus den Vorarbeiten des Gesetzgebers zum Steuerverfahrensgesetz hervor, dass die Bediensteten der schwedischen Finanzverwaltung anhand der personenbezogenen Daten im Personalverzeichnis in die Lage versetzt werden sollen, bei einem Kontrollbesuch vor Ort einen Abgleich vorzunehmen. Damit solle vor allem die Schwarzarbeit bekämpft und sollten gesündere Wettbewerbsverhältnisse geschaffen werden. Die Verarbeitung der personenbezogenen Daten finde ihre Rechtfertigung darin, dass der Verantwortliche einer ihm obliegenden Rechtspflicht nachkommen müsse, nämlich der Verpflichtung, ein Personalverzeichnis zu führen.

36      Daher ist davon auszugehen, dass die Verarbeitung dieser Daten im Rahmen eines Gerichtsverfahrens wie dem des im Ausgangsverfahrens eine Verarbeitung zu einem anderen Zweck als demjenigen ist, zu dem die personenbezogenen Daten erhoben wurden, nämlich zum Zwecke der Steuerprüfung, wobei dieser Zweck nicht auf der Einwilligung der betroffenen Personen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. a DSGVO beruht.

37      Unter diesen Umständen muss die Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als demjenigen, zu dem diese Daten erhoben wurden, nicht nur auf nationalem Recht wie den Bestimmungen von Kap. 38 RB beruhen, sondern auch eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige und verhältnismäßige Maßnahme im Sinne von Art. 6 Abs. 4 DSGVO darstellen und eines der in Art. 23 Abs. 1 DSGVO genannten Ziele sicherstellen.

38      Zu diesen Zielen gehören nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. f DSGVO der „Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und der Schutz von Gerichtsverfahren“, wobei dieses Ziel, wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, dahin zu verstehen ist, dass es auf den Schutz der Rechtspflege vor internen oder externen Eingriffen, aber auch auf eine ordnungsgemäße Rechtspflege abzielt. Darüber hinaus stellt nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. j DSGVO die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche ebenfalls ein Ziel dar, das eine Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als demjenigen, zu dem sie erhoben wurden, rechtfertigen kann. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass sich die Verarbeitung personenbezogener Daten Dritter im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens auf solche Ziele stützen kann.

39      Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob zum einen die einschlägigen Bestimmungen des Kap. 38 RB das eine und/oder andere dieser Ziele verfolgen sowie zum anderen notwendig sind und zu den genannten Zielen in einem angemessenen Verhältnis stehen, so dass sie unter die nach Art. 6 Abs. 3 und 4 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Buchst. f und j DSGVO als rechtmäßig angesehenen Fälle der Verarbeitung personenbezogener Daten fallen können.

40      Insoweit ist es unerheblich, ob die Verarbeitung personenbezogener Daten auf einer materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Bestimmung des nationalen Rechts beruht, da die Bestimmungen in Art. 6 Abs. 3 Buchst. b und Abs. 4 DSGVO nicht zwischen diesen beiden Arten von Bestimmungen unterscheiden.

41      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 3 und 4 DSGVO dahin auszulegen ist, dass diese Vorschrift im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens auf die Vorlegung eines Personalverzeichnisses als Beweismittel anwendbar ist, das personenbezogene Daten Dritter enthält, die hauptsächlich zum Zwecke der Steuerprüfung erhoben wurden.

 Zur zweiten Frage

42      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 5 und 6 DSGVO dahin auszulegen sind, dass das nationale Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens die Vorlegung eines Dokuments mit personenbezogenen Daten anzuordnen ist, verpflichtet ist, die Interessen der betroffenen Personen zu berücksichtigen. Für den Fall, dass dies zu bejahen ist, möchte das vorlegende Gericht darüber hinaus wissen, ob das Unionsrecht und insbesondere die DSGVO besondere Anforderungen an die Modalitäten dieser Beurteilung stellt.

43      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass bei jeder Verarbeitung personenbezogener Daten, vorbehaltlich der nach Art. 23 DSGVO zulässigen Ausnahmen, die in ihrem Kapitel II aufgestellten Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten sowie die in ihrem Kapitel III geregelten Rechte der betroffenen Person beachtet werden müssen. Insbesondere muss jede Verarbeitung personenbezogener Daten zum einen mit den in Art. 5 der Verordnung aufgestellten Grundsätzen im Einklang stehen und zum anderen die in Art. 6 der Verordnung aufgezählten Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 208 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach den einschlägigen Bestimmungen des Kap. 38 RB bei der Beurteilung der Frage, ob die Vorlegung eines Dokuments mit personenbezogenen Daten anzuordnen sei, nicht ausdrücklich die Berücksichtigung der Interessen der Personen erforderlich sei, deren personenbezogene Daten in Rede stünden. Nach einer nationalen Rechtsprechung verlangten diese Bestimmungen lediglich eine Abwägung zwischen der Erheblichkeit des Beweises und dem Interesse der Gegenpartei daran, die in Rede stehenden Informationen nicht offenzulegen.

45      Wie in Rn. 39 des vorliegenden Urteils festgestellt, können diese Bestimmungen des nationalen Rechts, da sie auf die Vorlegung eines Dokuments als Beweismittel abzielen, unter die Fälle der Verarbeitung personenbezogener Daten fallen, die nach Art. 6 Abs. 3 und 4 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Buchst. f und j DSGVO als rechtmäßig angesehen werden. Dies trifft insofern zu, als diese Bestimmungen zum einen den Zweck haben, den ordnungsgemäßen Ablauf des Gerichtsverfahrens zu gewährleisten, indem sie sicherstellen, dass der Rechtsuchende seine Rechte geltend machen kann, wenn ein „berechtigtes Beweisinteresse“ besteht, und sie zum anderen notwendig sind sowie zu diesem Ziel in einem angemessenen Verhältnis stehen.

46      Aus Art. 6 Abs. 4 DSGVO ergibt sich nämlich, dass solche Verarbeitungen personenbezogener Daten rechtmäßig sind, sofern sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendige und verhältnismäßige Maßnahmen zum Schutz der in Art. 23 genannten Ziele darstellen. Daraus folgt, dass ein nationales Gericht, um diese Anforderungen zu prüfen, verpflichtet ist, die in Rede stehenden widerstreitenden Interessen zu berücksichtigen, wenn es beurteilt, ob es zweckmäßig ist, die Vorlegung eines Dokuments mit personenbezogenen Daten Dritter anzuordnen.

47      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Ergebnis der vom nationalen Gericht vorzunehmenden Abwägung sowohl nach den Umständen des Einzelfalls als auch nach der Art des betreffenden Verfahrens unterschiedlich ausfallen kann.

48      Was die betroffenen Interessen im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens betrifft, muss das nationale Gericht, wie sich u. a. aus den ersten beiden Erwägungsgründen der DSGVO ergibt, den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten gewährleisten, bei dem es sich um ein Grundrecht handelt, das in Art. 8 Abs. 1 der Charta und in Art. 16 AEUV verankert ist. Dieses Gericht muss auch das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens gewährleisten, das in engem Zusammenhang mit dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten steht.

49      Wie im vierten Erwägungsgrund der DSGVO ausgeführt, ist das Recht auf Schutz personenbezogener Daten jedoch kein uneingeschränktes Recht, sondern muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte wie das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz abgewogen werden.

50      Die Vorlegung eines Dokuments mit personenbezogenen Daten Dritter im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens trägt, wie die Generalanwältin in Nr. 61 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen festgestellt hat, indessen zur Wahrung dieses Rechts auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz bei.

51      Da Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entspricht, hat er insoweit nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie in Art. 6 Abs. 1 der genannten Konvention verliehen wird.

52      Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist es angesichts des hohen Ranges, den das Recht auf ein faires Verfahren in einer demokratischen Gesellschaft einnimmt, wesentlich, dass der Rechtsuchende die Möglichkeit hat, sein Anliegen vor einem Gericht sachgerecht zu verteidigen, und dass zwischen den Parteien Waffengleichheit besteht (vgl. in diesem Sinne EGMR, 24. Juni 2022, Zayidov/Aserbaidschan (Nr. 2), CE:ECHR:2022:0324JUD000538610, § 87 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus ergibt sich insbesondere, dass dem Rechtsuchenden ein kontradiktorisches Verfahren zur Verfügung stehen muss und er in den verschiedenen Phasen dieses Verfahrens die Argumente vorbringen können muss, die er für die Verteidigung seiner Sache für erheblich hält (EGMR, 21. Januar 1999, García Ruiz/Spanien, CE:ECHR:1999:0121JUD003054496, § 29).

53      Um zu gewährleisten, dass von den Rechtsuchenden ein Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und insbesondere auf ein faires Verfahren im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Charta wahrgenommen werden kann, ist daher davon auszugehen, dass die Parteien eines Zivilgerichtsverfahrens in der Lage sein müssen, Zugang zu denjenigen Beweisen zu erhalten, die erforderlich sind, um ihr Vorbringen hinreichend zu begründen, und die möglicherweise auch personenbezogene Daten von Parteien oder Dritten enthalten können.

54      Vor diesem Hintergrund fügt sich, wie in Rn. 46 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Berücksichtigung der in Rede stehenden Interessen in den Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme nach Art. 6 Abs. 3 und 4 DSGVO ein, die Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten sind. In diesem Zusammenhang ist mithin Art. 5 Abs. 1 DSGVO ebenfalls zu berücksichtigen, und zwar insbesondere der Grundsatz der „Datenminimierung“ in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c DSGVO, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Ausdruck verleiht. Nach diesem Grundsatz der Datenminimierung müssen die personenbezogenen Daten dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Das nationale Gericht hat daher festzustellen, ob die Offenlegung personenbezogener Daten angemessen und erheblich ist, um das mit den anwendbaren Bestimmungen des nationalen Rechts verfolgte Ziel zu erreichen, und ob dieses Ziel nicht durch die Verwendung von Beweismitteln erreicht werden kann, die weniger in den Schutz der personenbezogenen Daten einer großen Zahl von Dritten eingreifen, wie etwa die Vernehmung ausgewählter Zeugen.

56      Für den Fall, dass sich die Vorlegung des Dokuments mit personenbezogenen Daten als gerechtfertigt erweist, folgt aus diesem Grundsatz ferner, dass das nationale Gericht, wenn offenbar nur ein Teil dieser Daten für Beweiszwecke erforderlich ist, die Ergreifung zusätzlicher Datenschutzmaßnahmen in Betracht ziehen muss, wie die in Art. 4 Nr. 5 DSGVO definierte Pseudonymisierung der Namen der betroffenen Personen oder jede andere Maßnahme, die dazu bestimmt ist, die Beeinträchtigung des Rechts auf Schutz der personenbezogenen Daten, die die Vorlegung eines solchen Dokuments darstellt, zu minimieren. Zu solchen Maßnahmen können insbesondere die Beschränkung des Zugangs der Öffentlichkeit zu den Akten oder eine Anordnung an die Parteien, denen die Dokumente mit personenbezogenen Daten zugänglich gemacht wurden, gehören, diese Daten nicht zu einem anderen Zweck als zur Beweisführung in dem betreffenden Gerichtsverfahren zu verwenden.

57      Insoweit ergibt sich aus Art. 4 Nr. 5 in Verbindung mit dem 26. Erwägungsgrund der DSGVO, dass einer Pseudonymisierung unterzogene personenbezogene Daten, die durch Heranziehung zusätzlicher Informationen einer natürlichen Person zugeordnet werden könnten, als Informationen über eine identifizierbare natürliche Person betrachtet werden sollten, für die die Grundsätze des Datenschutzes gelten. Demgegenüber ergibt sich aus diesem Erwägungsgrund, dass diese Grundsätze des Datenschutzes nicht „für anonyme Informationen gelten, d. h. für Informationen, die sich nicht auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen, oder personenbezogene Daten, die in einer Weise anonymisiert worden sind, dass die betroffene Person nicht oder nicht mehr identifiziert werden kann“.

58      Daraus folgt, dass ein nationales Gericht der Ansicht sein kann, dass ihm personenbezogene Daten von Parteien oder Dritten übermittelt werden müssen, damit es in voller Kenntnis der Sachlage und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die betroffenen Interessen abwägen kann. Diese Beurteilung kann es gegebenenfalls dazu veranlassen, die vollständige oder teilweise Offenlegung der ihm so übermittelten personenbezogenen Daten gegenüber der Gegenpartei zuzulassen, wenn es der Auffassung ist, dass eine solche Offenlegung nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die effektive Wahrnehmung der Rechte zu gewährleisten, die den Rechtsuchenden aus Art. 47 der Charta erwachsen.

59      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 5 und 6 DSGVO dahin auszulegen sind, dass das nationale Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob die Vorlegung eines Dokuments mit personenbezogenen Daten anzuordnen ist, verpflichtet ist, die Interessen der betroffenen Personen zu berücksichtigen und sie je nach den Umständen des Einzelfalls, der Art des betreffenden Verfahrens und unter gebührender Berücksichtigung der Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, sowie insbesondere derjenigen Anforderungen abzuwägen, die sich aus dem Grundsatz der Datenminimierung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c DSGVO ergeben.

 Kosten

60      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 6 Abs. 3 und 4 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung)

ist dahin auszulegen, dass

diese Vorschrift im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens auf die Vorlegung eines Personalverzeichnisses als Beweismittel anwendbar ist, das personenbezogene Daten Dritter enthält, die hauptsächlich zum Zwecke der Steuerprüfung erhoben wurden.

2.      Die Art. 5 und 6 der Verordnung 2016/679

sind dahin auszulegen, dass

das nationale Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob die Vorlegung eines Dokuments mit personenbezogenen Daten anzuordnen ist, verpflichtet ist, die Interessen der betroffenen Personen zu berücksichtigen und sie je nach den Umständen des Einzelfalls, der Art des betreffenden Verfahrens und unter gebührender Berücksichtigung der Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, sowie insbesondere derjenigen Anforderungen abzuwägen, die sich aus dem Grundsatz der Datenminimierung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c DSGVO ergeben.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Schwedisch.