SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
HENRIK SAUGMANDSGAARD ØE
vom 21. September 2017(1)
Rechtssache C‑179/16
F. Hoffmann-La Roche Ltd u. a.
gegen
Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (AGCM)
(Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato [Staatsrat, Italien])
„Vorabentscheidungsersuchen – Wettbewerb – Art. 101 AEUV – Arzneimittel zur Behandlung von Augengefäßkrankheiten – Definition des relevanten Produktmarkts – Austauschbarkeit der Arzneimittel – Verordnung (EG) Nr. 726/2004 – Genehmigung für das Inverkehrbringen – Verschreibung und Vermarktung eines Arzneimittels für nicht bestimmungsgemäße Anwendungen – Rechtmäßigkeit – Lizenzvereinbarung – Unternehmen, die nicht miteinander im Wettbewerb stehen – Begriff der ‚Nebenabrede‘ – Begriff der ‚bezweckten Wettbewerbsbeschränkung‘ – Behauptungen über die geringere Sicherheit eines Arzneimittels im Vergleich zu einem anderen – Etwaige Irreführung – Schutz der öffentlichen Gesundheit – Pharmakovigilanzpflichten – Kontrafaktische Annahme“
I. Einleitung
1. Der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) legt dem Gerichtshof mehrere Fragen nach der Auslegung des Art. 101 AEUV im Rahmen eines Rechtsstreits zur Vorabentscheidung vor, dessen ungewöhnliche Konstellation sich wie folgt zusammenfassen lässt.
2. Ein Unternehmen hat zwei Arzneimittel – das eine zur Anwendung in der Onkologie, das andere zur Anwendung in der Ophthalmologie – aus unterschiedlichen Wirkstoffen entwickelt, die allerdings aus ein und demselben Antikörper gewonnen werden und denselben therapeutischen Wirkungsmechanismus aufweisen. Das Unternehmen beschloss, das onkologische Arzneimittel selbst zu vermarkten, während es das Inverkehrbringen des ophthalmologischen Arzneimittels über eine Lizenzvereinbarung einem anderen Unternehmen überließ.
3. Die Genehmigung für das Inverkehrbringen (im Folgenden auch: Verkehrsgenehmigung) des onkologischen Arzneimittels wurde rund zwei Jahre früher als die Genehmigung des ophthalmologischen Arzneimittels erteilt. In der Zeit zwischen diesen beiden Verkehrsgenehmigungen verabreichten einige Ärzte ihren Patienten das onkologische Arzneimittel in anderer Verpackung und in niedrigerer Dosierung zur Behandlung von Augenkrankheiten. Diese Verwendung des betreffenden Arzneimittels für therapeutische Indikationen und in Formen, die von der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels und somit von dessen Verkehrsgenehmigung nicht gedeckt waren – sogenannte Off-label-Verwendung (im Folgenden auch: nicht bestimmungsgemäße Verwendung) –, wurde wegen der wesentlich geringeren Kosten der auf dieser Grundlage durchgeführten Behandlungen auch nach der Erteilung der Verkehrsgenehmigung für das ophthalmologische Arzneimittel fortgeführt.
4. Die Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (AGCM) (Wettbewerbs- und Marktordnungsbehörde, Italien) stellte fest, die beiden in Rede stehenden Unternehmen hätten die Absprache getroffen, sich den Arzneimittel-Regulierungsbehörden, den Ärzten und der breiten Öffentlichkeit gegenüber dahin zu äußern, dass das nicht bestimmungsgemäß verwendete onkologische Arzneimittel ein weniger gutes Sicherheitsprofil als das ophthalmologische Arzneimittel aufweise. Die Unternehmen hätten diese Äußerungen, die sie wissenschaftlich nicht hätten belegen können, verbreitet, um von der Off‑label‑Verwendung des onkologischen Arzneimittels abzuhalten und den Absatz des ophthalmologischen Arzneimittels entsprechend zu steigern. Die AGCM war der Ansicht, diese kollusiven Verhaltensweisen stellten eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV dar, und belegte die betreffenden Unternehmen mit Sanktionen.
5. Nachdem ihre Klagen gegen diese Entscheidung in erster Instanz abgewiesen worden waren, legten die Unternehmen Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein. In diesem Zusammenhang stellt Letzteres dem Gerichtshof namentlich Fragen nach dem Zusammenspiel zwischen dem Regelwerk für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln und dem Wettbewerbsrecht der Union. Der Gerichtshof wird insbesondere gebeten, klarzustellen, inwieweit und auf welcher Grundlage die Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Zulässigkeit der Verschreibung und der Vermarktung eines Arzneimittels für eine Off-label-Verwendung und die wissenschaftliche Unsicherheit bezüglich der mit dieser Verwendung verbundenen Risiken bei der Anwendung des Art. 101 AEUV eine Rolle spielen.
II. Rechtlicher Rahmen
6. Die zu dem für den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits maßgeblichen Zeitpunkt anwendbare Verordnung (EG) Nr. 772/2004(2) sah für bestimmte Technologietransfer-Vereinbarungen eine Gruppenfreistellung vor.
7. Nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. j Ziff. ii dieser Verordnung sind „konkurrierende Unternehmen auf dem ‚relevanten Produktmarkt‘ solche Unternehmen …, die ohne die Technologietransfer-Vereinbarung auf den sachlich und räumlich relevanten Märkten, auf denen die Vertragsprodukte angeboten werden, tätig sind, ohne die Rechte des anderen Unternehmens an geistigem Eigentum zu verletzen (tatsächliche Wettbewerber auf dem Produktmarkt), oder die unter realistischen Annahmen die zusätzlichen Investitionen oder sonstigen Umstellungskosten auf sich nehmen würden, die nötig sind, um auf eine geringfügige dauerhafte Erhöhung der relativen Preise hin ohne Verletzung fremder Rechte an geistigem Eigentum in vertretbarer Zeit in die sachlich und räumlich relevanten Märkte eintreten zu können (potenzielle Wettbewerber auf dem Produktmarkt); der relevante Produktmarkt umfasst Produkte, die vom Käufer aufgrund ihrer Eigenschaften, ihrer Preise und ihres Verwendungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden“.
8. Die Verordnung (EG) Nr. 726/2004(3) legt ein zentralisiertes Verfahren für die Genehmigung von Arzneimitteln auf der Ebene der Europäischen Union fest.
9. Nach Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung darf „[e]in unter den Anhang fallendes Arzneimittel … innerhalb der [Union] nur in Verkehr gebracht werden, wenn von der [Union] gemäß dieser Verordnung eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt worden ist“. Nr. 1 dieses Anhangs über „von der [Union] zu genehmigende Arzneimittel“ umfasst Arzneimittel, die mit Hilfe bestimmter biotechnologischer Verfahren hergestellt werden.
10. Gemäß Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 726/2004 ist eine nach Abschluss des zentralisierten Verfahrens erteilte Verkehrsgenehmigung für die gesamte Union gültig und umfasst in jedem einzelnen Mitgliedstaat die gleichen Rechte und Pflichten wie eine von dem jeweiligen Mitgliedstaat nach der Richtlinie 2001/83/EG(4) erteilte Genehmigung.
11. Zum Inhalt eines Antrags auf Genehmigung für das Inverkehrbringen verweist Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 726/2004 auf die namentlich in Art. 8 Abs. 3 dieser Richtlinie genannten Angaben. Buchst. j dieser Richtlinienbestimmung führt insbesondere die Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels an. Nach Art. 11 der genannten Richtlinie sind in diesem Dokument u. a. Stärke und Darreichungsform des Arzneimittels, Zusammensetzung nach Art und Menge aller seiner Bestandteile, Anwendungsgebiete, Dosierung und Art der Anwendung, Gegenanzeigen, besondere Warn- und Vorsichtshinweise für den Gebrauch sowie Nebenwirkungen, Haltbarkeitsdauer und besondere Vorsichtsmaßnahmen für die Aufbewahrung angegeben.
12. Nach Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 726/2004 in ihrer ab dem 2. Juli 2012 geltenden Fassung(5) teilt der Inhaber der Verkehrsgenehmigung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten unverzüglich alle neuen Informationen mit, die die Änderung der Angaben oder Unterlagen u. a. gemäß Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/83 nach sich ziehen könnten. Zu den zu übermittelnden Informationen „gehören sowohl positive als auch negative Ergebnisse von klinischen Prüfungen oder anderen Studien, die sich nicht nur auf die in der Genehmigung für das Inverkehrbringen genannten, sondern auf alle Indikationen und Bevölkerungsgruppen beziehen können, sowie Angaben über eine Anwendung des Arzneimittels, die über die Bestimmungen der Genehmigung für das Inverkehrbringen hinausgeht“.
13. Durch diese Verordnung wird auch ein Pharmakovigilanz-System für die aufgrund der Verordnung genehmigten Arzneimittel eingeführt. Wie aus Art. 24 Abs. 1 der Verordnung in ihrer ab dem 2. Juli 2012 geltenden Fassung hervorgeht, dient dieses System der Sammlung von Informationen vor allem „über vermutete Nebenwirkungen beim Menschen, die bei genehmigungsgemäßer Anwendung des Arzneimittels sowie bei einer Anwendung, die über die Bestimmungen der Genehmigung für das Inverkehrbringen hinausgeht, entstehen“.
14. Insbesondere bestimmt Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 726/2004 in ihrer ab dem 2. Juli 2012 geltenden Fassung: „Für die Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen von Humanarzneimitteln, die nach dieser Verordnung genehmigt wurden, gelten die Pflichten, die in Artikel 104 der Richtlinie 2001/83/EG festgelegt sind.“
15. Art. 104 dieser Richtlinie in der von den Mitgliedstaaten bis zum 21. Juli 2012 umzusetzenden(6) Änderungsfassung lautet wie folgt:
„(1) Um seinen Pharmakovigilanz-Aufgaben nachzukommen, betreibt der Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen ein Pharmakovigilanz-System, das dem in Artikel 101 Absatz 1 geregelten Pharmakovigilanz-System des betreffenden Mitgliedstaats entspricht.
(2) Der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen ist verpflichtet, anhand des in Absatz 1 genannten Pharmakovigilanz-Systems sämtliche Informationen wissenschaftlich auszuwerten, Möglichkeiten der Risikominimierung und ‑vermeidung zu prüfen und erforderlichenfalls geeignete Maßnahmen zu ergreifen.
…“
16. Nach Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 726/2004 darf der Inhaber einer Verkehrsgenehmigung keine die Pharmakovigilanz betreffenden Informationen ohne vorherige oder gleichzeitige Mitteilung an die EMA öffentlich bekannt machen. Er stellt auf jeden Fall sicher, dass solche Informationen „in objektiver und nicht irreführender Weise dargelegt werden“.
III. Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
17. Die AGCM stellte mit Bescheid vom 27. Februar 2014 (im Folgenden: Bescheid der AGCM), der dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht mit den Akten übermittelt wurde, fest, die Gesellschaften F. Hoffmann-La Roche Ltd (im Folgenden: Roche) und Novartis AG hätten namentlich durch ihre Tochtergesellschaften Novartis Farma SpA und Roche SpA (im Folgenden: Novartis Italia bzw. Roche Italia) unter Verstoß gegen Art. 101 AEUV eine horizontale wettbewerbsbeschränkende Absprache getroffen. Mit dieser Absprache habe eine künstliche Unterscheidung zwischen zwei Arzneimitteln, Avastin und Lucentis, mittels einer Manipulation der Einschätzung der Risiken beim Einsatz von Avastin in der Augenheilkunde erreicht werden sollen. Die AGCM verhängte gegen diese vier Gesellschaften Geldbußen, die sich insgesamt auf rund 180 Mio. Euro beliefen.
18. Roche, Roche Italia, Novartis und Novartis Italia (im Folgenden: die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens) fochten diesen Bescheid vor dem Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Verwaltungsgericht für die Region Latium, Italien) an, das die Klagen, nachdem es sie miteinander verbunden hatte, mit Urteil vom 2. Dezember 2014 abwies.
19. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens legten vor dem Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein.
20. In diesem Zusammenhang führt dieses Gericht aus, dass die Arzneimittel Avastin und Lucentis von der Genentech Inc., einer unter der alleinigen Kontrolle des Roche-Konzerns stehenden Biotechnikgesellschaft, im Rahmen ein und desselben Forschungsprogramms entwickelt wurden. Dieses Programm wurde in die Wege geleitet, nachdem ein vom menschlichen Körper hergestelltes Protein (vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor, englische Bezeichnung: „vascular endothelial growth factor“ [VEGF]) entdeckt worden war, das für die Bildung anomaler Blutgefäße verantwortlich ist, die zum Wachstum bestimmter Krebsgeschwulste beitragen.
21. Die Forscher von Genentech fanden heraus, dass für die Behandlung bestimmter Krebsarten ein Antikörper zur Hemmung der Wirkung des VEGF verwendet werden könnte. Es gelang ihnen sodann, einen Anti‑VEGF‑Antikörper zur Verabreichung an Menschen zu gewinnen, der Bevacizumab genannt und zum Wirkstoff des Arzneimittels Avastin wurde.
22. Diese Forscher untersuchten auch andere mit der Wirkung des VEGF in Zusammenhang stehende Krankheiten, darunter eine weit verbreitete Augenkrankheit: die altersbedingte Makuladegeneration (AMD). Sie waren jedoch der Ansicht, Bevacizumab sei unter Sicherheits- und Wirksamkeitsgesichtspunkten zur Behandlung der AMD und anderer Augengefäßkrankheiten nicht geeignet.
23. Genentech beschloss deshalb, für das Anwendungsgebiet der Augenheilkunde ein spezifisches Anti‑VEGF‑Arzneimittel zu entwickeln. Im Zuge dieser Forschungen identifizierte Genentech ein Fragment des als Ranibizumab bekannt gewordenen Anti‑VEGF‑Antikörpers, das zum Wirkstoff des Arzneimittels Lucentis wurde. Ranibizumab wird vom Organismus schneller ausgeschieden als Bevacizumab und hat kleinere Dimensionen, was das Eindringen in die Netzhaut und die Fähigkeit, sich an den VEGF zu binden, erleichtert.
24. Genentech, deren Geschäftstätigkeit auf das Gebiet der Vereinigten Staaten beschränkt ist, vergab eine Nutzungslizenz für Avastin an ihre Muttergesellschaft Roche und, da diese auf dem Gebiet der Ophthalmologie nicht tätig war, für Lucentis an den Novartis-Konzern zur jeweiligen Registrierung und Vermarktung der beiden Arzneimittel im Rest der Welt. Die Lizenzvereinbarung für Lucentis wurde im Juni 2003 geschlossen.
25. Für die Arzneimittel Avastin und Lucentis erteilte die EMA Verkehrsgenehmigungen zur Behandlung bestimmter Tumorerkrankungen bzw. bestimmter Augenkrankheiten.
26. Am 26. September 2005 setzte die Agenzia italiana del farmaco (AIFA) (italienische Arzneimittelagentur) die auf europäischer Ebene erteilte Verkehrsgenehmigung für Avastin um und ließ dieses Arzneimittel zur Kostenübernahme zulasten des Servizio Sanitario Nazionale (SSN) (Staatlicher Gesundheitsdienst, Italien) zu.
27. Eine Verkehrsgenehmigung für Lucentis zur Behandlung der AMD erteilte die AIFA erst am 31. Mai 2007. Lucentis war zunächst nicht erstattungsfähig, da sich die AIFA und Novartis nicht über den zu erstattenden Preis einigten, wurde aber am 4. Dezember 2008 zur Kostenübernahme durch den SSN zugelassen.
28. In dem Zeitraum zwischen der Markteinführung von Avastin und der von Lucentis stellten einige Ärzte nach den ersten Verabreichungen von Avastin zur onkologischen Behandlung fest, dass sich der Gesundheitszustand von Patienten, die sowohl unter einer Krebsgeschwulst als auch unter AMD litten, auch in Bezug auf letztere Krankheit besserte.
29. Da Avastin zu diesem Zeitpunkt das einzige im Handel verfügbare Anti‑VEGF‑Arzneimittel war, verabreichten es einige Ärzte unter AMD leidenden Patienten intravitreal (d. h durch Einspritzung in den Glaskörper), obwohl Avastin weder für diese therapeutische Indikation noch für diese Art der Verabreichung gemäß der Zusammenfassung seiner Merkmale zugelassen war. Diese Off‑label‑Verwendung von Avastin verbreitete sich weltweit. Aufgrund der geringeren Kosten der Therapien mit Avastin wurde sie nach dem Inverkehrbringen von Lucentis fortgeführt.
30. Das italienische Recht lässt unter gewissen Umständen die Kostenerstattung für nicht bestimmungsgemäß verwendete Arzneimittel zu. Zu der für den Bescheid der AGCM maßgeblichen Zeit hing die Erstattungsfähigkeit von zwei Voraussetzungen ab: Erstens musste es an einer genehmigten wirksamen therapeutischen Alternative für die Behandlung der fraglichen Erkrankung fehlen, und zweitens musste die AIFA die betreffende Off-label-Verwendung in die sogenannte Liste 648 aufgenommen haben, d. h. in die Liste der Arzneimittel, deren Kosten vom SSN erstattet werden(7).
31. Nachdem die Verkehrsgenehmigung für Avastin erteilt worden war und sich dessen Off-label-Verwendung in der Augenheilkunde in Italien verbreitet hatte, nahm die AIFA diese Verwendung im Mai 2007 in die Liste 648 auf, und zwar für die Behandlung der feuchten Makuladegenerationen (d. h. der AMD, des Retinalvenenverschlusses [RVO], des diabetischen Makulaödems [DME], der myopischen Makuladegeneration [MMD]) und des neovaskulären Glaukoms, da es damals keine wirksame therapeutische Alternative für die Behandlung dieser Krankheiten gab.
32. Als später in Italien die Genehmigung und die Zulassung der Erstattungsfähigkeit zunächst für Lucentis und für Macugen zur Behandlung von AMD (Ende 2008) und dann für Ozurdex zur Behandlung von RVO (Juli 2011) vorlag, schloss die AIFA die Erstattungsfähigkeit von Avastin für die Behandlung dieser Erkrankungen aus. Am 18. Oktober 2012 strich die AIFA schließlich unter Hinweis auf mehrere von der EMA am 30. August 2012 vorgenommene Änderungen der Zusammenfassung der Merkmale dieses Arzneimittels Avastin vollkommen aus der Liste 648. Ausweislich der dem Gerichtshof übermittelten Akten bestanden diese Änderungen in der Hinzufügung einiger besonderer Warn- und Vorsichtshinweise für die intravitreale Verwendung von Avastin.
33. Die AGCM wies darauf hin, dass Avastin lange für verschiedene ophthalmologische Verwendungen vom SSN erstattet worden sei und deshalb in Italien zumindest in der Zeit zwischen seiner Aufnahme in die Liste 648 und der Einleitung des Verfahrens durch die AGCM hinsichtlich der Zahl der behandelten Patienten das hauptsächlich verwendete Anti-VEGF‑Arzneimittel zur Behandlung von Augengefäßkrankheiten gewesen sei. Als Folge dieser äußerst verbreiteten Off-label-Verwendung sei Avastin tatsächlich das Hauptkonkurrenzprodukt von Lucentis geworden.
34. Nach Ansicht der AGCM haben die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens eine „einheitliche und komplexe, durch mehrere abgestimmte Verhaltensweisen durchgeführte horizontale Absprache“ getroffen. Ziel dieser Absprache sei eine „künstliche Unterscheidung“ zwischen den Arzneimitteln Avastin und Lucentis gewesen – die „in der Augenheilkunde unter allen Gesichtspunkten äquivalente Arzneimittel“ seien –, wozu die Einschätzung der Risiken der Verwendung von Avastin in der Augenheilkunde manipuliert worden sei, um die Nachfrage zugunsten von Lucentis zu steigern. Die Manipulation habe in der „Verfassung und Verbreitung von Anzeigen [bestanden], die in der Öffentlichkeit Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der intravitrealen Verwendung von Avastin schürten“, wobei „der Wert gegenteiliger wissenschaftlicher Erkenntnisse herabgesetzt wurde“.
35. Die AGCM stellte fest, diese Gesellschaften hätten die Risiken der intravitrealen Verwendung von Avastin übertrieben und gleichzeitig suggeriert, dass Lucentis ein besseres Sicherheitsprofil als Avastin aufweise. Dabei hätten sie sich auch darauf gestützt, dass nur für Lucentis eine Verkehrsgenehmigung für eine Verwendung in der Augenheilkunde bestehe, während eine derartige Genehmigung für Avastin niemals beantragt worden sei.
36. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens hätten so „verhindern [wollen], dass die Off-label-Anwendungen von Avastin die On‑label‑Anwendung von Lucentis, dem teureren Arzneimittel, aus dessen Verkäufen beide Gesellschaften Gewinne erzielten, beeinträchtigen“. Dieser Absprache habe auch „ein gemeinsames Interesse des Roche- und des Novartis-Konzerns an der bei der EMA laufenden Änderung der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels Avastin und an einer daraus folgenden erwünschten formellen Mitteilung an Angehörige der Heilberufe (die sogenannte direct healthcare professional communication [DHPC]) [zugrunde gelegen], wozu Roche – als [Inhaberin der Verkehrsgenehmigung] für Avastin … – den Anstoß gegeben hatte und was sich unmittelbar auf den vereinbarten Plan einer künstlichen Unterscheidung auswirkte“.
37. Der AGCM zufolge zielte die fragliche Absprache darauf ab, die jeweiligen Einnahmen des Roche- und des Novartis-Konzerns auf unrechtmäßige Weise zu maximieren. Diese Einnahmen rührten beim Novartis-Konzern aus den Direktverkäufen von Lucentis sowie aus ihrer 33%igen Beteiligung an Roche und beim Roche-Konzern aus den Lizenzgebühren her, die Letztere über ihre Tochtergesellschaft Genentech für diese Verkäufe erhielt.
38. Die von der AGCM festgestellten abgestimmten Verhaltensweisen „seien, auch wenn von vertikalen Lizenzverhältnissen auszugehen sei, außerhalb von diesen durchgeführt worden“.
39. Diese Absprache erfüllte nach Meinung der AGCM den Tatbestand einer Marktaufteilung und stellte daher eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV dar. Sie sei „konkret umgesetzt [worden] und hat die Bedingungen für die Therapieentscheidung der Ärzte und dementsprechend die Einkaufspolitik für die Arzneimittel Avastin und Lucentis beeinflusst“. Diese Absprache habe „zu einer unmittelbaren Verlangsamung des Wachstums von Avastin und einer daraus resultierenden Verlagerung der Nachfrage zu dem teureren Lucentis hin geführt, was für den SSN allein für das Jahr 2012 höhere Kosten in Höhe von annähernd 45 Millionen Euro zur Folge gehabt hat“.
40. Die AGCM entschied daher, dass „die … zur Last gelegte Zuwiderhandlung als sehr schwer anzusehen [ist]“, vor allem aufgrund ihrer aus dem Zweck folgenden Rechtswidrigkeit, ihrer „konkreten Umsetzung“, ihrer „eindeutigen Auswirkungen auf die Wirtschaftsbilanz des gesamten Gesundheitssystems“ und der Höhe des zusammengerechneten Anteils der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens am italienischen Markt der Arzneimittel für die Behandlung von Augengefäßkrankheiten von mehr als 90 %.
41. Die von der AGCM festgestellten abgestimmten Verhaltensweisen hätten spätestens im Juni 2011 begonnen, als Roche das förmliche Verfahren vor der EMA in Gang gesetzt habe, um die Änderung der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels Avastin und die daraus folgenden offiziellen Mitteilungen zu erwirken. Diese Verhaltensweisen seien zu dem Zeitpunkt, als die AGCM ihren Bescheid erlassen habe, nicht abgestellt gewesen.
42. Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann Art. 101 AEUV richtigerweise dahin ausgelegt werden, dass die Vertragspartner einer Lizenzvereinbarung als Wettbewerber anzusehen sind, wenn das lizenznehmende Unternehmen auf dem betreffenden relevanten Markt nur aufgrund dieser Vereinbarung tätig ist? Sind, eventuell innerhalb welcher Grenzen, die möglichen Wettbewerbsbeschränkungen des Lizenzgebers gegenüber dem Lizenznehmer unter diesen Umständen, auch wenn sie nicht ausdrücklich in der Lizenzvereinbarung vorgesehen sind, der Anwendung des Art. 101 Abs. 1 AEUV entzogen, oder fallen sie immerhin unter die gesetzliche Ausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV?
2. Gestattet Art. 101 AEUV der nationalen Wettbewerbsbehörde, den relevanten Markt unabhängig vom Inhalt der von den zuständigen Arzneimittelagenturen (AIFA und EMA) erlassenen Genehmigungen für das Inverkehrbringen der Arzneimittel autonom zu definieren, oder ist – im Gegenteil – der für die zugelassenen Arzneimittel rechtlich relevante Markt im Sinne des Art. 101 AEUV primär von der zuständigen Regulierungsbehörde auf auch für die nationale Wettbewerbsbehörde verbindliche Weise abzugrenzen?
3. Ist es – auch im Licht der in der Richtlinie 2001/83/EG enthaltenen Vorschriften und insbesondere des Art. 5 über die Genehmigung für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln – nach Art. 101 AEUV zulässig, ein off‑label eingesetztes Arzneimittel und ein zugelassenes Arzneimittel in Bezug auf dieselben therapeutischen Indikationen als austauschbar anzusehen und daher in den Bereich desselben relevanten Marktes aufzunehmen?
4. Ist es im Sinne des Art. 101 AEUV bei der Abgrenzung des relevanten Marktes neben der substanziellen Substituierbarkeit der Arzneimittel auf der Nachfrageseite von Bedeutung, festzustellen, ob deren Angebot auf dem Markt im Einklang mit dem regulatorischen Rahmen für die Vermarktung von Arzneimitteln erfolgt ist?
5. Kann jedenfalls das abgestimmte Verhalten, das darauf gerichtet ist, die geringere Sicherheit oder die geringere Wirksamkeit eines Arzneimittels herauszustellen, als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung angesehen werden, wenn diese geringere Wirksamkeit oder Sicherheit, obwohl sie nicht durch gesicherte wissenschaftliche Beweise belegt wird, im Licht der zur maßgeblichen Zeit verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse aber auch nicht eindeutig ausgeschlossen werden kann?
43. Roche, Roche Italia, Novartis und Novartis Italia, die Associazione Italiana delle Unità Dedicate Autonome Private di Day Surgery e dei Centri di Chirurgia Ambulatoriale (AIUDAPDS), die Società Oftalmologica Italiana (SOI) – Associazione Medici Oculisti Italiani (AMOI) (SOI‑AMOI), Altroconsumo, der Coordinamento delle associazioni per la tutela dell’ambiente e dei diritti degli utenti e consumatori (Codacons), die AGCM, die Regione Emilia-Romagna (Region Emilia-Romagna, Italien), die italienische, die irische und die französische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht.
44. Zur mündlichen Verhandlung vom 3. Mai 2017 sind Roche, Roche Italia, Novartis, AIUDAPDS, SOI‑AMOI, Altroconsumo, die AGCM, die Region Emilia-Romagna, die italienische Regierung und die Kommission erschienen.
IV. Würdigung
A. Einleitende Erwägungen
45. Hintergrund der vorliegenden Rechtssache ist eine Sachlage, die durch die Entwicklung einer weit verbreiteten ärztlichen Praxis gekennzeichnet ist: der Verschreibung eines Arzneimittels für Off-label-Anwendungen(8). Diese Praxis bildete sich gegen den Willen des Inhabers der Verkehrsgenehmigung für dieses Arzneimittel auf Betreiben derjenigen heraus, die hinter der Nachfrage nach diesem Arzneimittel standen, d. h. der verschreibenden Ärzte, denen sich die Behörde anschloss, die die Erstattungsfähigkeit der Kosten für dieses Arzneimittel durch den SSN zuließ.
46. Durch die Verschreibung von Avastin zur Behandlung von Augengefäßkrankheiten sollte ursprünglich eine therapeutische Lücke geschlossen werden, da es kein Arzneimittel gleicher Wirksamkeit mit einer Verkehrsgenehmigung für diese therapeutischen Indikationen gab. Nach der Markteinführung eines derartigen Arzneimittels und seiner Zulassung zur Kostenerstattung wurde diese Praxis gleichwohl aus im Wesentlichen wirtschaftlichen Gründen beibehalten, da zwischen der Therapie mit Avastin und der mit Lucentis ein erheblicher Preisunterschied bestand. Der AGCM zufolge soll aufgrund der Preisdifferenz pro Milliliter zwischen diesen Arzneimitteln eine intravitreale Injektion von Avastin mindestens zehnmal kostengünstiger gewesen sein als eine Injektion von Lucentis.
47. Die Off-label-Anwendungen von Arzneimitteln gehen auf eine ärztliche Praxis zurück, die je nach Therapiebereichen und Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Maß verbreitet ist(9). Das Unionsrecht erkennt die Realität dieser Anwendungen an und enthält eine Reihe von Vorschriften, welche die Situation vor und nach diesen Anwendungen betreffen, die Möglichkeiten der Vermarktung der für Off-label-Anwendungen vorgesehenen Arzneimittel beschränken(10) und den Inhabern der Verkehrsgenehmigung bestimmte Pharmakovigilanzpflichten in Bezug auf solche Anwendungen auferlegen(11).
48. Hingegen ist die Verschreibung von Arzneimitteln für Off‑label‑Anwendungen im Unionsrecht nicht geregelt(12). Diese Praxis unterliegt der ärztlichen Therapiefreiheit, es sei denn, die Mitgliedstaaten sehen in Ausübung ihrer Zuständigkeiten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik insoweit Einschränkungen vor(13). Es bleibt den Mitgliedstaaten grundsätzlich auch die Entscheidung überlassen, ob sie ein nicht bestimmungsgemäß verwendetes Arzneimittel zur Kostenerstattung durch ihre Sozialversicherungssysteme zulassen(14).
49. In diesem Zusammenhang verfolgten die Mitgliedstaaten unterschiedliche politische Ansätze bei der Regelung der Off‑label‑Verwendung von Arzneimitteln im Allgemeinen und von Avastin im Besonderen. Einige entschieden sich dafür, die Kostenerstattung für bestimmte für einen nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch verschriebene Arzneimittel zuzulassen oder befristete Anwendungsempfehlungen für diese auszusprechen(15). Die Frage der vor allem unionsrechtlichen Zulässigkeit dieser innerstaatlichen Regelungen ist in zahlreichen Gerichtsverfahren erörtert worden(16). Der Consiglio di Stato (Staatsrat) hat übrigens im Rahmen eines anderen bei ihm anhängigen Verfahrens dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, in der es darum geht, ob nationale Maßnahmen mit dem Unionsrecht vereinbar sind, die aus wirtschaftlichen Gründen die Kostenerstattung für Arzneimittel vorsehen, die wie Avastin für einen nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch verschrieben werden(17).
50. Manche – wie im vorliegenden Fall die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens – machen im Kern geltend, eine nationale Politik, die aus budgetären Gründen die Verschreibung von Arzneimitteln für einen nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch zulasse und sogar fördere, stehe im Widerspruch zu der Logik, die dem unionsrechtlichen Regelwerk für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln zugrunde liege(18). Grundsätzlich könnten nur die in der Verkehrsgenehmigung vorgesehenen Anwendungen zugelassen werden, die Gegenstand der für deren Genehmigung erforderlichen vorklinischen und klinischen Versuche gewesen seien(19), während Anwendungen, die durch solche Versuche nicht validiert worden seien, zumindest eine Ausnahme bleiben müssten.
51. Andere – wie im vorliegenden Fall die Region Emilia-Romagna und die irische Regierung – halten dem entgegen, die Off‑label‑Verwendung eines Arzneimittels für bestimmte therapeutische Indikationen sei notwendig, wenn der Inhaber der Verkehrsgenehmigung für dieses Arzneimittel trotz nachgewiesener Wirksamkeit und Sicherheit dieser Verwendung nicht die erforderlichen Schritte unternehme, um die Verkehrsgenehmigung auf diese Indikationen auszudehnen. Nach Ansicht der Region Emilia-Romagna sowie der AGCM, der SOI‑AMOI und der italienischen Regierung ist eine derartige Verwendung mitunter trotz Verfügbarkeit von Arzneimitteln mit einer Verkehrsgenehmigung für die betreffenden Indikationen notwendig, damit der Zugang zur Gesundheitsversorgung gewährleistet und eine übermäßige finanzielle Belastung der Sozialversicherungssysteme vermieden werde.
52. Es ist im Rahmen dieser Rechtssache nicht meine Aufgabe, mich an dieser Debatte zu beteiligen und dazu Stellung zu nehmen, inwiefern die jeweilige Politik der Mitgliedstaaten bei der rechtlichen Regelung der Off‑label‑Verwendung von Arzneimitteln fundiert ist. Ich werde mich daher auf die Prüfung beschränken, ob und gegebenenfalls inwieweit Art. 101 AEUV die aus einer solchen Verwendung resultierende Marktdynamik schützt.
53. In diesem Zusammenhang halte ich es für zweckdienlich, zuerst kurz aufzuzeigen, worum es bei den fünf Fragen des vorlegenden Gerichts im Wesentlichen geht.
54. Zunächst möchte dieses Gericht mit seinen Fragen 2 bis 4 wissen, ob die regulatorischen Schranken, die sich aus den Vorschriften über das Inverkehrbringen von Arzneimitteln im Hinblick auf Off‑label‑Anwendungen ergeben, der Austauschbarkeit von Avastin und Lucentis bei der Behandlung von Augenkrankheiten und folglich der Zugehörigkeit dieser beiden Arzneimittel zu ein und demselben Produktmarkt entgegenstehen.
55. In ihrer Stellungnahme zu diesen Fragen macht Roche geltend, wegen dieser regulatorischen Schranken gehörten die betreffenden Produkte nicht ein und demselben Markt an und ständen ganz allgemein in keinem Wettbewerbsverhältnis. Daher gingen alle Fragen nach einer etwaigen Wettbewerbsbeschränkung als Folge der von der AGCM festgestellten kollusiven Verhaltensweisen (im Folgenden: die streitigen kollusiven Verhaltensweisen) ins Leere.
56. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht sodann wissen, ob Genentech und Novartis als Unternehmen anzusehen sind, die im Rahmen der Lizenzvereinbarung über Lucentis miteinander im Wettbewerb stehen. Falls diese Frage verneint wird, soll sich der Gerichtshof dazu äußern, ob es für die Anwendung von Art. 101 AEUV eine Rolle spielt, dass die streitigen kollusiven Verhaltensweisen im Kontext einer Lizenzvereinbarung zwischen Unternehmen stattgefunden haben, die nicht miteinander im Wettbewerb stehen.
57. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens stellen in ihrer Stellungnahme die Tragweite dieser Frage heraus: Die Lizenzvereinbarung über Lucentis sei für nicht miteinander im Wettbewerb stehende Unternehmen bindend. Die mit diesen Verhaltensweisen bezweckten Beschränkungen der Off‑label‑Verwendung von Avastin (im Folgenden: die im Ausgangsverfahren streitigen Beschränkungen) seien zwar in dieser Vereinbarung nicht ausdrücklich vorgesehen, setzten sie jedoch fort. In Lizenzvereinbarungen zwischen nicht miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen sei die Ausschaltung des Wettbewerbs des Lizenzgebers gegenüber dem Lizenznehmer aber der Anwendung des Art. 101 Abs. 1 AEUV entzogen oder falle zumindest unter die Ausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV.
58. Schließlich soll der Gerichtshof in Beantwortung der fünften Frage klarstellen, ob die streitigen kollusiven Verhaltensweisen jedenfalls als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung angesehen werden können, obwohl die wissenschaftliche Debatte über die Sicherheit und die Wirksamkeit von Avastin im Vergleich zu Lucentis in der Augenheilkunde zur maßgeblichen Zeit noch nicht abgeschlossen war.
59. Ich schlage vor, die Vorabentscheidungsfragen in dieser Reihenfolge zu prüfen, werde aber zunächst die gegen ihre Zulässigkeit vorgebrachten Haupteinwände zurückweisen.
B. Zur Zulässigkeit
60. Die AGCM, AIUDAPDS und die Region Emilia-Romagna halten die Vorlagefragen im Wesentlichen deshalb für unzulässig, weil in der Vorlageentscheidung der Sachverhalt und die Rechtslage unvollständig und einseitig dargestellt würden. Diese Darstellung beschränke sich darauf, die Ansichten der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens zu schildern, denen andere Betroffene widersprochen hätten; auch seien wesentliche Tatsachen darin nicht enthalten.
61. In diesem Zusammenhang bemerkt die AGCM vor allem, in der Vorlageentscheidung finde sich kein Hinweis darauf, dass die Verwendung von Avastin in der Augenheilkunde seit 2005 eine weltweite Verbreitung gefunden habe, ohne dass ein statistisch relevantes unerwünschtes Ereignis gemeldet worden wäre, so dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Bevacizumab (Wirkstoff von Avastin) als das einzige unentbehrliche Anti-VEGF‑Arzneimittel in der Augenheilkunde betrachte(20). Die Vorlageentscheidung verschweige auch, dass die AIFA seit 2014 Avastin wieder in die Liste 648 zur Behandlung von Augengefäßkrankheiten aufgenommen habe.
62. Nach Ansicht der AGCM und der Region Emilia-Romagna kann der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht deshalb keine sachdienliche Antwort geben. Aufgrund dieser unvollständigen und teilweise falschen Sachverhaltsdarstellung hält die AGCM außerdem ebenso wie AIUDAPDS die Vorlagefragen für hypothetisch.
63. Dazu ist zu sagen, dass der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung das Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann zurückweisen kann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(21).
64. Im Hinblick auf den letztgenannten Grund für die Zurückweisung eines Vorabentscheidungsersuchens hat der Gerichtshof entschieden, dass die Informationen, die er im Rahmen einer Vorlageentscheidung erhält, ihm nicht nur die Möglichkeit geben sollen, dem vorlegenden Gericht sachdienliche Antworten zu erteilen, sondern auch die Regierungen der Mitgliedstaaten und die anderen Beteiligten in die Lage versetzen sollen, sich gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu äußern. Zu diesem Zweck muss das nationale Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich seine Fragen einfügen, definieren oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutern, auf denen diese Fragen beruhen(22).
65. Was erstens das Vorbringen zu der angeblichen Unvollständigkeit der vom vorlegenden Gericht dargestellten Sach- und Rechtslage betrifft, so geht der Gerichtshof davon aus, dass er auch bei einer lückenhaften Vorlageentscheidung über genug Tatsachenangaben verfügt, um die Vorlagefragen sachdienlich beantworten zu können, vorausgesetzt, diese Entscheidung erlaubt es ihm, die Tragweite der Fragen zu ermitteln(23). Im vorliegenden Fall erfüllt die Vorlageentscheidung meines Erachtens diese Voraussetzung. Der Gerichtshof kann deshalb dem vorlegenden Gericht sachdienliche Antworten geben, und die Verfahrensbeteiligten konnten sich dem Gerichtshof gegenüber äußern, was der Inhalt der eingereichten Schriftsätze übrigens belegt(24).
66. Was zweitens das Vorbringen zu der angeblich falschen Darstellung des maßgeblichen Sachverhalts anbelangt, so ist es nicht Sache des Gerichtshofs, sondern des nationalen Gerichts, die dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen festzustellen(25). Der Gerichtshof ist nicht befugt, den rechtlichen und sachlichen Rahmen, den dieses Gericht in eigener Verantwortung festlegt, auf seine Richtigkeit zu überprüfen(26), sondern hat grundsätzlich von den Prämissen auszugehen, die das vorlegende Gericht als erwiesen ansieht(27).
67. Ich halte daher die Vorlagefragen für zulässig.
C. Zur zweiten, zur dritten und zur vierten Frage: Definition des relevanten Produktmarkts
68. Die Fragen 2 bis 4 zielen darauf ab, inwieweit die Rechtsvorschriften über das Inverkehrbringen von Arzneimitteln bei der Definition des relevanten Produktmarkts berücksichtigt werden müssen. Das vorlegende Gericht möchte mit seiner zweiten und mit seiner dritten Frage, für die ich eine gemeinsame Prüfung vorschlage, im Kern wissen, ob im Arzneimittelsektor die Definition dieses Marktes zwingend durch den Inhalt der Verkehrsgenehmigungen begrenzt ist. Mit seiner vierten Frage möchte dieses Gericht vom Gerichtshof wissen, ob es in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, wenn Unsicherheit über die Zulässigkeit der Vermarktung von Arzneimitteln besteht, die für Off‑label‑Anwendungen umgepackt worden sind.
69. Im vorliegenden Fall umfasst der relevante Produktmarkt nach der Definition der AGCM sämtliche Arzneimittel zur Behandlung von Augengefäßkrankheiten(28). Diese Definition wird im Rahmen der vorliegenden Rechtssache nicht in Frage gestellt. Fraglich ist nur, ob Avastin diesem Markt angehört.
70. Insoweit ergibt sich sowohl aus den einschlägigen Rechtsvorschriften(29) als auch aus der Rechtsprechung(30), dass der relevante Produktmarkt sämtliche Erzeugnisse umfasst, die von den Verbrauchern hinsichtlich ihrer Eigenschaften, ihrer Preise und ihres vorgesehenen Verwendungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden(31).
71. Nach der Rechtsprechung sind bei dieser Prüfung nicht nur die objektiven Merkmale der Erzeugnisse, aufgrund deren Letztere sich zur Befriedigung eines gleichbleibenden Bedarfs der Verbraucher besonders eignen, zu berücksichtigen, sondern auch die Wettbewerbsbedingungen sowie die Struktur der Nachfrage und des Angebots(32).
72. Gemäß diesen Grundsätzen hängt die Definition des relevanten Produktmarkts nicht von Kriterien ab, die in den Rechtsvorschriften zur Regelung des Verhaltens der Wirtschaftsteilnehmer vorab festgelegt sind, sondern von den objektiven Merkmalen der Erzeugnisse und den für dieses Verhalten geltenden tatsächlichen Wettbewerbsbedingungen. Die Wettbewerbsbedingungen schließen die genannten Rechtsvorschriften insoweit ein, als diese den Grad an wechselseitiger Austauschbarkeit der betroffenen Erzeugnisse beeinflussen können; sie bestehen jedoch nicht ausschließlich aus diesen Vorschriften. Andere Umstände können gegebenenfalls darauf hindeuten, dass ein effektiver Wettbewerbsdruck herrscht.
73. Im vorliegenden Fall enthalten die Rechtsvorschriften über die Vermarktung – und über die Verschreibung(33) – von Arzneimitteln möglicherweise gewisse regulatorische Hindernisse für die Substituierbarkeit zwischen einem nicht bestimmungsgemäß verwendeten und einem bestimmungsgemäß verwendeten Arzneimittel bei jeweils gleicher therapeutischer Indikation(34). Diese Hindernisse sind aber nicht unüberwindlich und daher auch nicht unbedingt ausschlaggebend für die Definition des relevanten Marktes.
74. Ich bin deshalb folgender Auffassung: Ist aufgrund der tatsächlichen Wettbewerbsbedingungen auf der Nachfrageseite eine effektive Substituierbarkeit zwischen einem für bestimmte therapeutische Indikationen nicht bestimmungsgemäß verwendeten Arzneimittel und einem Arzneimittel festzustellen, dessen Verkehrsgenehmigung für diese Indikationen gilt, so gehören diese Arzneimittel ein und demselben Produktmarkt an (unter 1.). Dies gilt selbst dann, wenn unsicher ist, ob die Verschreibung und die Vermarktung des ersteren Arzneimittels für diese nicht bestimmungsgemäße Verwendung zulässig ist (unter 2.).
1. Zur Bedeutung des Inhalts der Verkehrsgenehmigungen bei der Definition des relevanten Produktmarkts (Fragen 2 und 3)
75. Wie alle Verfahrensbeteiligten mit Ausnahme der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens vorgetragen haben, schließt die Tatsache, dass die Verkehrsgenehmigung eines Arzneimittels bestimmte therapeutische Indikationen nicht deckt, es nicht aus, dass dieses Arzneimittel einen hinreichenden Grad an Substituierbarkeit mit den für diese Indikationen zugelassenen Arzneimitteln aufweisen kann, so dass von ihm ein effektiver Wettbewerbsdruck auf diese ausgeht.
76. Gewiss hat der Inhalt der Verkehrsgenehmigungen grundsätzlich einen Einfluss auf die Substituierbarkeit zwischen verschiedenen Arzneimitteln für ein und dieselbe therapeutische Verwendung. Bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln hängt die Nachfrage im Allgemeinen nicht von den Präferenzen der Endverbraucher (d. h. der Patienten), sondern von den Entscheidungen der Ärzte ab. Der Inhalt der Verkehrsgenehmigungen kann den Ärzten bei der Wahl der für ihre Patienten geeigneten Behandlung zumindest eine Richtschnur bieten. Dies wird vor allem der Fall sein, wenn das nationale Recht die Möglichkeiten, Arzneimittel für einen nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch zu verschreiben oder die Kosten hierfür erstattet zu bekommen, beschränkt und besondere Vorschriften für die Haftung des Arztes für den durch die nicht bestimmungsgemäße Verwendung eines Arzneimittels verursachten Schaden enthält.
77. Die Verschreibungspraxis der Ärzte kann jedoch gegebenenfalls in Verbindung mit Verwaltungsentscheidungen über die Erstattungsfähigkeit von nicht zum bestimmungsgemäßen Gebrauch verschriebenen Arzneimitteln eine Wettbewerbsdynamik auslösen, die belegt, dass zwei Arzneimittel unabhängig vom Inhalt ihrer jeweiligen Verkehrsgenehmigung tatsächlich miteinander austauschbar sind. Auch wenn der Inhalt einer Verkehrsgenehmigung durch den Antrag begrenzt wird, den der Inhaber dieser Genehmigung bei den Arzneimittel-Regulierungsbehörden gestellt hat(35), erschöpft dieser Antrag nicht zwangsläufig die Möglichkeiten einer Anwendung des betreffenden Arzneimittels, die den Ärzten im Rahmen ihrer Therapiefreiheit zur Verfügung stehen(36).
78. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass Avastin zur Zeit der streitigen kollusiven Verhaltensweisen sehr oft für ophthalmologische Indikationen verschrieben wurde. Außerdem stand Avastin zu Beginn der von der AGCM festgestellten abgestimmten Verhaltensweisen (d. h. im Juni 2011) immer noch auf der Liste der Arzneimittel, deren Kosten für die Behandlung des neovaskulären Glaukoms sowie aller feuchten Makuladegenerationen mit Ausnahme der AMD vom SSN erstattet werden konnten(37).
79. Diese Umstände zeigen, dass von Avastin ein effektiver Wettbewerbsdruck auf Lucentis ausging, als es nicht bestimmungsgemäß verwendet wurde. Gemäß den in den Nrn. 70 und 71 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Grundsätzen muss dieser Druck bei der Definition des relevanten Produktmarkts berücksichtigt werden.
80. Dies entspricht dem Vorgehen der Kommission in einigen Fusionskontrollentscheidungen, in denen sie bei der Definition des relevanten Produktmarkts den Off-label-Anwendungen von Arzneimitteln im Rahmen der Prüfung der tatsächlichen Wettbewerbsdynamik Rechnung getragen hat(38).
81. Im Übrigen hätten die Pharmaunternehmen, wenn diese Definition systematisch durch den Inhalt der Verkehrsgenehmigungen begrenzt würde, de facto, wie AIUDAPDS, SOI‑AMOI, Altroconsumo, Codacons und die italienische Regierung vorgetragen haben, völlig freie Hand, um sich vor einer Vermarktung ihrer Arzneimittel durch Ausschluss jeglicher Überschneidung der von ihren jeweiligen Genehmigungsanträgen gedeckten therapeutischen Indikationen über die Aufteilung der Märkte zu verständigen. Der Markt würde dann ohne Rücksicht auf die nachfrageseitige Austauschbarkeit der Arzneimittel unter Missachtung der in den Nrn. 70 und 71 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Grundsätze definiert.
2. Zur Bedeutung der Unsicherheit hinsichtlich der Zulässigkeit der Verschreibung und der Vermarktung eines Arzneimittels für die Definition des relevanten Produktmarkts (Frage 4)
82. Der Gebrauch der Worte „festzustellen, ob“ in der vierten Frage spiegelt die Unsicherheit wider, ob die Vermarktung von Avastin in anderer Verpackung zur Verwendung in der Augenheilkunde zulässig ist. Diese Frage ist in den schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten lebhaft diskutiert worden. Nach Ansicht der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens ist diese Tätigkeit in vielen, wenn nicht in den meisten Fällen rechtswidrig. Andere Beteiligte, wie die AGCM, SOI‑AMOI, die Region Emilia-Romagna und die italienische Regierung, stellen dies in Abrede(39).
83. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens haben auch die Frage aufgeworfen, wie sich der angebliche Verstoß gegen die Vorschriften des italienischen Rechts, die die Möglichkeit der Ärzte beschränken, Arzneimittel zu einem nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch zu verschreiben, auf die Definition des relevanten Produktmarkts auswirkt.
84. Nach italienischem Recht sei diese Praxis nur zulässig, wenn kein genehmigtes Arzneimittel existiere, mit dem ein bestimmter Patient aufgrund einer individuellen Beurteilung wirksam behandelt werden könnte(40). Ein für einen nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch verschriebenes Arzneimittel stehe daher zu einem für dieselben Indikationen zum bestimmungsgemäßen Gebrauch verschriebenen Arzneimittel nicht in einem Verhältnis der Austauschbarkeit, sondern der Subsidiarität. Die AGCM, SOI‑AMOI, Codacons, die Region Emilia-Romagna und die italienische Regierung teilen diesen Standpunkt nicht und sprechen sich für eine andere Auslegung des italienischen Rechts aus(41).
85. Da diese Frage auch für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits Bedeutung erlangen könnte(42), verstehe ich die vierte Vorlagefrage wie folgt: Muss bei der Definition des relevanten Produktmarkts überprüft werden, ob nicht nur die Vermarktung, sondern auch die Verschreibung eines Arzneimittels für nicht bestimmungsgemäße Anwendungen mit den einschlägigen Rechtsvorschriften im Einklang steht?
86. Meines Erachtens folgt aus den in den Nrn. 70 und 71 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Grundsätzen, dass die Unsicherheit, ob die Verschreibung oder Vermarktung von Arzneimitteln für nicht bestimmungsgemäße Anwendungen bei bestimmten therapeutischen Indikationen zulässig ist, als solche nicht ausschließt, dass diese Arzneimittel demselben Markt wie die für diese Indikationen genehmigten Arzneimittel angehören.
87. Selbstverständlich haben die mit der Anwendung des Wettbewerbsrechts betrauten Wettbewerbsbehörden und Gerichte diese Unsicherheit zu berücksichtigen, wenn sie der Austauschbarkeit zwischen diesen Arzneimitteln entgegenstehen kann. Stellen sie aber fest, dass ein Arzneimittel trotz dieser Unsicherheit tatsächlich in großem Umfang nicht bestimmungsgemäß verwendet wird, so können sie zu Recht davon ausgehen, dass dieses Arzneimittel mit den für dieselben Indikationen bestimmungsgemäß verwendeten Arzneimitteln austauschbar ist und folglich demselben Produktmarkt wie die letzteren Arzneimittel angehört.
88. Sie brauchen zur Rechtfertigung einer solchen Schlussfolgerung die betreffenden Zweifel nicht durch eine eigene Prüfung der Zulässigkeit der Verschreibung und der Vermarktung des nicht bestimmungsgemäß verwendeten Arzneimittels auszuräumen. Ein solches Vorgehen ist nämlich der Anwendung der Wettbewerbsvorschriften wesensfremd und gehört normalerweise nicht zum Aufgabenbereich der mit der Anwendung dieser Vorschriften betrauten Behörden(43). Wie die AGCM, SOI‑AMOI, die italienische Regierung und die Kommission hervorgehoben haben, verfolgt das Wettbewerbsrecht der Union autonome Ziele, die sich von denen des Arzneimittelrechts unterscheiden.
89. Die von mir vertretene Auffassung steht auch im Einklang mit dem Urteil Slovenská sporiteľňa(44), in dem der Gerichtshof mehrere Klarstellungen zur Anwendung von Art. 101 AEUV auf eine Kartellabsprache zwischen Unternehmen vorgenommen hat, durch die ein Drittunternehmen von dem relevanten Markt verdrängt werden sollte, dessen Tätigkeit auf diesem Markt angeblich rechtswidrig war. Ohne zuvor geprüft zu haben, ob die von dem verdrängten Unternehmen und von den Kartellunternehmen angebotenen Dienste ein und demselben Markt zuzuordnen waren, entschied der Gerichtshof, dass der Umstand, dass das verdrängte Unternehmen zum Zeitpunkt der Kartellabsprache angeblich illegal auf dem relevanten Markt tätig war, für die Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV keine Rolle spielt. Zur Begründung führte er aus, dass es den Behörden und nicht privaten Unternehmen obliegt, die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften sicherzustellen, deren Anwendung komplexe Beurteilungen erfordern kann, die nicht zum Aufgabenbereich dieser Unternehmen gehören(45). Der Gerichtshof prüfte anschließend, ob dieser Umstand die Gewährung einer Freistellung nach Abs. 3 dieses Artikels rechtfertigen konnte(46).
90. Diese Argumentation impliziert, dass die mutmaßliche Rechtswidrigkeit des Angebots bestimmter Erzeugnisse oder Dienstleistungen als solche nicht ausschließt, dass diese demselben Markt wie andere Erzeugnisse oder Dienstleistungen angehören, bei denen außer Zweifel steht, dass sie rechtmäßig angeboten werden(47).
D. Zur ersten Frage: Art des Rechtsverhältnisses zwischen den Vertragspartnern einer Lizenzvereinbarung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Anwendung des Art. 101 AEUV auf ein dieser Vereinbarung nachfolgendes kollusives Verhalten
91. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Vertragspartner einer Lizenzvereinbarung als Wettbewerber anzusehen sind, wenn der Lizenznehmer nur aufgrund dieser Vereinbarung auf dem relevanten Markt tätig ist. Bei Verneinung dieser Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Kern um Aufschluss darüber, welche Bedeutung bei der Prüfung kollusiver Verhaltensweisen wie der im Ausgangsverfahren streitigen anhand von Art. 101 Abs. 1 und 3 AEUV dem Umstand zukommt, dass diese Verhaltensweisen im Rahmen einer Lizenzvereinbarung zwischen Unternehmen stattgefunden haben, die nicht miteinander im Wettbewerb standen.
1. Zum ersten Teil der ersten Frage
92. Eine Vereinbarung über die Erteilung einer Lizenz für Rechte an geistigem Eigentum, wie die Vereinbarung zwischen Genentech und Novartis über Lucentis, stellt grundsätzlich eine „Technologietransfer-Vereinbarung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 772/2004 dar(48).
93. Wie sich aus Art. 1 Abs. 1 Buchst. j Ziff. ii dieser Verordnung ergibt, werden Unternehmen, die eine Technologietransfer-Vereinbarung abgeschlossen haben, auf dem Markt, auf dem die mit der lizenzierten Technologie produzierten Erzeugnisse (sogenannte „Vertragsprodukte“(49)) verkauft werden, als konkurrierende Unternehmen angesehen, wenn sie ohne diese Vereinbarung tatsächliche oder potenzielle Wettbewerber auf dem betreffenden Markt gewesen wären.
94. Folglich werden die Vertragspartner einer Lizenzvereinbarung nicht als konkurrierende Unternehmen betrachtet, wenn der Lizenznehmer auf dem relevanten Markt nur aufgrund dieser Vereinbarung tätig ist und ohne diese Vereinbarung weder als tatsächlicher noch als potenzieller Wettbewerber des Lizenzgebers in Erscheinung getreten wäre.
95. Im vorliegenden Fall bestreitet niemand, dass Novartis ohne die Lizenzvereinbarung über Lucentis nicht als tatsächlicher oder potenzieller Wettbewerber von Genentech auf dem Markt der Arzneimittel zur Behandlung von Augengefäßkrankheiten aufgetreten wäre. In der Tat lässt sich den dem Gerichtshof übermittelten Verfahrensakten nicht entnehmen, dass Novartis auch nur ansatzweise mit Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung dieser Krankheiten begonnen hätte.
96. Die streitigen kollusiven Verhaltensweisen haben deshalb im Rahmen einer Lizenzvereinbarung zwischen Unternehmen, die nicht miteinander im Wettbewerb standen, stattgefunden und wären ohne diese Vereinbarung, wie Roche betont hat, völlig sinnlos gewesen.
97. Gleichwohl können diese Verhaltensweisen aus den Gründen, die ich anschließend darlegen werde, nicht allein deshalb dem Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV entzogen werden oder in den Genuss einer Freistellung nach Abs. 3 dieses Artikels kommen, weil die Beschränkungen, um die es im Ausgangsverfahren geht, Beschränkungen des Wettbewerbs des Lizenzgebers gegenüber dem Lizenznehmer in einer Lizenzvereinbarung zwischen Unternehmen gleichkämen, die nicht miteinander im Wettbewerb stehen.
2. Zum zweiten und zum dritten Teil der ersten Frage
98. Der zweite und der dritte Teil der ersten Frage betreffen, wie sich aus ihrem Wortlaut ergibt, die Anwendung des Art. 101 Abs. 1 und 3 AEUV auf „Wettbewerbsbeschränkungen des Lizenzgebers gegenüber dem Lizenznehmer“. Um dem nationalen Gericht eine sachdienliche Antwort erteilen zu können, halte ich es für erforderlich, Art und Umfang der Beschränkungen, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind und auf die sich diese Frage bezieht, unter Berücksichtigung der in der Vorlageentscheidung beschriebenen tatsächlichen Umstände etwas näher zu erläutern.
99. Erstens handelt es sich genauer gesagt um Beschränkungen des Wettbewerbs, der gegenüber dem Lizenznehmer in der Weise stattfand, dass Dritte ein ursprünglich vom Lizenzgeber hergestelltes und in Verkehr gebrachtes Produkt in einer Form und für Zwecke nachfragten und verwendeten, die der Lizenzgeber nicht vorgesehen hatte(50).
100. Zweitens ist zwischen den Betroffenen umstritten, ob diese Beschränkungen den (sogenannten „technologieinternen“) Wettbewerb zwischen zwei Produkten, die auf ein und derselben Technologie beruhen, oder den Wettbewerb zwischen zwei Produkten, die auf verschiedenen Technologien beruhen (sogenannter „Technologienwettbewerb“), betrafen.
101. Die Bedeutung dieser Unterscheidung liegt darin, dass bestimmte Beschränkungen des technologieinternen Wettbewerbs nicht in den Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen, sofern sie als für die Verbreitung einer neuen Technologie und somit für die Stärkung des Technologienwettbewerbs erforderlich angesehen werden(51).
102. Dazu macht Altroconsumo geltend, Avastin und Lucentis beruhten nicht auf denselben Technologien. Die streitigen kollusiven Verhaltensweisen hätten daher den Technologienwettbewerb zwischen diesen Produkten beschränkt. Der dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht mitgeteilte Sachverhalt erlaubt es nicht, dieses Vorbringen auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Roche bestreitet diese Behauptung und hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, Avastin und Lucentis würden auf der Grundlage derselben Patente hergestellt, die somit beide von Genentech entwickelten Anti-VEGF‑Arzneimittel schützten.
103. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht werde ich davon ausgehen, dass diese Arzneimittel beide auf der Grundlage der Rechte an der im Rahmen der Lizenzvereinbarung über Lucentis lizenzierten Technologie hergestellt wurden, wobei die von mir vorgeschlagenen Antworten erst recht für den Fall gelten würden, dass diese Arzneimittel nicht auf derselben Technologie beruhten(52).
a) Zur Anwendbarkeit von Art. 101 Abs. 1 AEUV
104. Was den zweiten Teil der ersten Frage betrifft, so meine ich, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beschränkungen, selbst wenn sie in der Lizenzvereinbarung über Lucentis ausdrücklich vorgesehen gewesen wären, nicht deshalb dem Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV entzogen werden können, weil sie, so die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, den Wettbewerb des Lizenzgebers gegenüber dem Lizenznehmer beschränkten.
105. Die vom vorlegenden Gericht insoweit geäußerten Bedenken knüpfen an eine bestimmte Rechtsprechung an, der zufolge Art. 101 Abs. 1 AEUV auf gewisse Beschränkungen der geschäftlichen Selbständigkeit von Vertragspartnern keine Anwendung findet, wenn der Abschluss oder die Durchführung des betreffenden Vertrags, der an sich wettbewerbsfördernd oder zumindest wettbewerbsneutral ist, die Aufnahme dieser Beschränkungen erfordert. Mit dieser Rechtsprechung greift der Gerichtshof, obwohl er den Fachausdruck nicht durchgängig benutzt hat, auf die Doktrin der „Nebenabreden“ zurück.
106. Diese Doktrin dürfte auf das Urteil LTM(53) zurückzuführen sein, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass bei der Prüfung der Zulässigkeit einer geheimen Vereinbarung auf die Sachlage abzustellen ist, wie sie ohne diese Vereinbarung bestehen würde. Erteilt ein Hersteller einem Händler ein Alleinvertriebsrecht für ein bestimmtes Gebiet, so kann „das Vorliegen einer Wettbewerbsstörung … vor allem dann zweifelhaft erscheinen, wenn sich die Vereinbarung gerade für das Eindringen eines Unternehmens in ein Gebiet, in dem es bisher nicht tätig war, als notwendig erweist“. Der Gerichtshof hat diese Doktrin anschließend in mehreren Urteilen(54), z. B. in dem Urteil Nungesser und Eisele/Kommission(55) sowie zuletzt in dem Urteil MasterCard u. a./Kommission(56), angewandt und weiterentwickelt.
107. Zur Begründung ihrer Auffassung, wonach Art. 101 Abs. 1 AEUV auf die streitigen kollusiven Verhaltensweisen nicht anwendbar sei, verweisen die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens speziell auf Rn. 57 des Urteils Nungesser und Eisele/Kommission(57). Der Gerichtshof hat darin eine sogenannte „offene“ ausschließliche Gebietsschutzklausel geprüft, durch die sich ein Lizenzgeber verpflichtete, keine weiteren Lizenzen für das überlassene Gebiet zu vergeben und dem Lizenznehmer dort auch nicht selbst durch die Verwertung der Rechte an der lizenzierten Technologie Konkurrenz zu machen. Dem Gerichtshof zufolge war diese Klausel notwendig, damit der Lizenzvertrag überhaupt abgeschlossen wurde, da der Lizenznehmer ohne eine solche Klausel möglicherweise davon abgesehen hätte, die mit der Verwertung der lizenzierten Technologie verbundenen Risiken einzugehen. Der Gerichtshof war also im Kern der Ansicht, dass sich zur Förderung des Technologienwettbewerbs, der aus der Verbreitung einer neuen Technologie mittels einer Lizenzvereinbarung resultiert(58), bestimmte Beschränkungen des technologieinternen Wettbewerbs zwischen Unternehmen, die in der Lage sind, diese Technologie zu verwerten, als notwendig erweisen könnten(59).
108. In diesem Urteil befasste sich der Gerichtshof auch mit einer sogenannten „geschlossenen“ ausschließlichen Gebietsschutzklausel, mit der die Vertragspartner der Lizenzvereinbarung die Absicht verfolgten, jeden Wettbewerb Dritter, etwa von Parallelimporteuren oder Lizenznehmern für andere Gebiete, auszuschalten. Den Vertragspartnern wurde vorgeworfen, in Anwendung dieser Klausel Parallelimporteure mit Verfahren überzogen und ihnen gegenüber Druckmittel angewendet zu haben. Nach Ansicht des Gerichtshofs war diese Klausel nicht für die Verbreitung einer neuen Technologie notwendig. Die geschlossene ausschließliche Lizenz entging somit nicht der Anwendung des Art. 101 Abs. 1 AEUV(60). Sie konnte auch nicht gemäß Abs. 3 dieses Artikels freigestellt werden, da sie offensichtlich über das hinausging, was für die Erzielung von Effizienzgewinnen erforderlich war(61).
109. Nach der Ansicht von Roche und Roche Italia kommen die im Ausgangsverfahren streitigen Beschränkungen einer ausschließlichen Lizenz gleich, durch die sich der Lizenzgeber verpflichte, dem Lizenzgeber nicht dadurch Konkurrenz zu machen, dass er unter Verwertung der Rechte an der überlassenen Technologie Produktionstätigkeiten ausübe oder Produkte verkaufe, die auf dieser Technologie beruhten. Daher sei der in Rn. 57 des Urteils Nungesser und Eisele/Kommission(62) gewählte Ansatz auf den vorliegenden Fall übertragbar.
110. Diese Auffassung teile ich nicht.
111. Wie nämlich aus den in der Vorlageentscheidung wiedergegebenen Feststellungen der AGCM hervorgeht und wie die italienische Regierung und die Kommission betont haben, zielten die streitigen kollusiven Verhaltensweisen nicht darauf ab, die Möglichkeiten von Genentech oder anderen Gesellschaften des Roche-Konzerns zu beschränken, Produkte, die auf der mittels Lizenz an Novartis vergebenen Technologie beruhten, herzustellen oder zu verkaufen. Sie zielten stattdessen darauf ab, das Verhalten Dritter, die an der Lizenzvereinbarung über Lucentis nicht beteiligt waren, d. h. das Verhalten der Arzneimittel-Regulierungsbehörden und der Ärzte, zu beeinflussen, um die Verwendung von Avastin in der Augenheilkunde zu begrenzen. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens wollten mit anderen Worten nicht das Angebot an Avastin verändern, sondern die Nachfrage seitens der Ärzte (auf deren Urteil sich die Patienten verlassen), die dieses Produkt zu einem nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch verschrieben. Über diese Nachfrage trat Avastin nämlich mit Lucentis in Wettbewerb.
112. Da die streitigen kollusiven Verhaltensweisen die Beeinträchtigung einer Wettbewerbsdynamik bezweckten, die vom Willen des Lizenzgebers unabhängig war und aus Quellen gespeist wurde, die dessen Kontrolle entzogen waren(63), werfen sie andere Probleme auf als eine offene ausschließliche Lizenz, die vom Gerichtshof in Rn. 57 des Urteils Nungesser und Eisele/Kommission(64) geprüft worden war.
113. Nach meinem Dafürhalten sind die im Ausgangsverfahren streitigen Beschränkungen vielmehr im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 AEUV ähnlich zu behandeln wie die in dem genannten Urteil erörterte geschlossene ausschließliche Lizenz(65). Zwar beruhte der Ansatz des Gerichtshofs auf dem Ziel der Integration der räumlichen Märkte, worum es im vorliegenden Fall nicht geht(66). Zu beachten ist jedoch, dass das Wettbewerbsrecht der Union Abschottungen nicht nur der räumlichen Märkte, sondern auch der Produktmärkte bekämpft, auf denen die Unternehmen ihre Tätigkeiten entfalten(67). Zumindest lässt sich diesem Urteil nicht entnehmen, dass die Beseitigung jeglichen Wettbewerbsdrucks, der von den Produkten ausgeht, die auf einer lizensierten Technologie beruhen, selbst wenn dieser Druck aus autonomen, der Kontrolle des Lizenzgebers entzogenen Quellen herrührt, eine Nebenerscheinung des Abschlusses oder der Durchführung eines Lizenzvertrags wäre.
114. Die Schlussfolgerung, die ich vorschlage, ergibt sich auch aus der Prüfung der im Ausgangsverfahren streitigen Beschränkungen unter Berücksichtigung des unlängst ergangenen Urteils MasterCard u. a./Kommission(68), in dem der Gerichtshof die Doktrin der Nebenabreden zusammengefasst und verfeinert hat.
115. Er hat in diesem Urteil zunächst festgestellt: „[W]enn eine bestimmte Maßnahme oder Tätigkeit wegen ihrer Neutralität oder ihrer positiven Wirkung auf den Wettbewerb nicht von dem grundsätzlichen Verbot des [Art. 101 AEUV] erfasst wird, [dann fällt] auch eine Beschränkung der geschäftlichen Selbständigkeit eines oder mehrerer an dieser Maßnahme oder Tätigkeit Beteiligten nicht unter dieses grundsätzliche Verbot, wenn sie für die Durchführung dieser Maßnahme oder Tätigkeit objektiv notwendig ist und zu den Zielen der einen oder der anderen in einem angemessenen Verhältnis steht“(69).
116. Der Gerichtshof hat sodann klargestellt, dass die Voraussetzung der objektiven Notwendigkeit nur erfüllt ist, wenn es nicht möglich ist, die betreffende Beschränkung von der Hauptmaßnahme zu unterscheiden, ohne deren Bestehen oder Ziele zu gefährden. Dies ist der Fall, wenn die Durchführung oder die Fortsetzung dieser Maßnahme ohne die fragliche Beschränkung unmöglich wäre. Der Umstand, dass die Maßnahme ohne die Beschränkung nur schwerer durchführbar oder weniger rentabel wäre, verleiht dieser Beschränkung hingegen nicht den für ihre Qualifizierung als Nebenabrede erforderlichen Charakter einer objektiv notwendigen Beschränkung(70).
117. In diesem Urteil erfährt die Doktrin der Nebenabrede somit eine einschränkende Auslegung: Diese Doktrin gilt nur für Beschränkungen, „die für die Durchführung der Hauptmaßnahme … strikt unerlässlich sind“, da andernfalls die praktische Wirksamkeit des in Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgesprochenen Verbots beeinträchtigt würde(71).
118. Ich bezweifle, dass Beschränkungen, wie die im Ausgangsverfahren streitigen – selbst wenn sie in die Lizenzvereinbarung aufgenommen worden wären –, nach dieser Rechtsprechung Nebenabreden darstellen.
119. Erstens handelt es sich dabei um keine „Beschränkung der geschäftlichen Selbständigkeit eines“ an einer Hauptmaßnahme im Sinne des Urteils MasterCard u. a./Kommission „Beteiligten“(72). Die Beschränkungen, die der Gerichtshof in diesem Urteil und in einer früheren Rechtsprechung als Nebenabreden qualifiziert hat, bezogen sich nämlich durchweg auf das Verhalten der Personen, die selbst an der Hauptmaßnahme beteiligt waren(73).
120. Nach Ansicht der AGCM implizierten die streitigen kollusiven Verhaltensweisen, dass Roche und Roche Italia bei ihren Äußerungen zu den Off‑label‑Anwendungen von Avastin eine bestimmte Linie vertreten sollten, zielten aber nicht darauf ab, die geschäftliche Selbständigkeit der Vertragspartner der Lizenzvereinbarung über Lucentis zu beschränken, sondern darauf, die auf das Betreiben vertragsfremder Dritter zurückzuführende Wettbewerbsdynamik zu bremsen(74).
121. Zweitens glaube ich nicht, dass Beschränkungen wie die im Ausgangsverfahren streitigen im Sinne des Urteils MasterCard u. a./Kommission „für die Durchführung“ einer Lizenzvereinbarung „objektiv notwendig“ waren(75).
122. In diesem Zusammenhang lässt sich meines Erachtens nur schwer die Ansicht vertreten, eine Lizenzvereinbarung über die Gewährung von Rechten an einer Technologie zur Herstellung und/oder Vermarktung eines für bestimmte therapeutische Indikationen zugelassenen Arzneimittels sei nicht durchführbar, wenn sich der Lizenzgeber nicht verpflichte, dem Wettbewerb Einhalt zu gebieten, der von der Nachfrage der Ärzte nach einem anderen Arzneimittel ausgehe, das auf derselben Technologie beruhe und das zum nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch bei gleicher Indikationslage verschrieben werde. Der Umstand, dass die Nachfrage nach dem nicht bestimmungsgemäß verwendeten Arzneimittel möglicherweise die Nachfrage nach dem durch die Lizenzvereinbarung geschützten Arzneimittel beeinträchtigt und die Verwertung der Rechte an der lizenzierten Technologie somit weniger rentabel macht, genügt nicht als Nachweis, dass eine solche Beschränkung objektiv notwendig ist(76).
123. Dies gilt umso mehr, wenn die Beschränkungen wie im vorliegenden Fall nicht in der Lizenzvereinbarung vorgesehen wurden, sondern auf eine abgestimmte Verhaltensweise zurückgehen, die mehrere Jahre nach dieser Vereinbarung beschlossen wurde. Dieser Umstand kann meines Erachtens als Anhaltspunkt dafür dienen, dass die streitigen Beschränkungen für die Durchführung dieser Vereinbarung nicht objektiv notwendig waren. Wenn ein Lizenznehmer bereits die für die Markteinführung der Vertragsprodukte erforderlichen Investitionen – wie sie für die Erteilung einer Verkehrsgenehmigung notwendig sind – vorgenommen hat, ist es mir außerdem nicht ersichtlich, weshalb die weitere Durchführung der Vereinbarung ohne solche Beschränkungen unmöglich sein sollte.
124. Erst recht sind die streitigen kollusiven Verhaltensweisen dem Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV dann nicht entzogen, wenn Avastin und Lucentis nicht auf denselben Technologien beruhen sollten(77). Auch wenn Beschränkungen, denen der Lizenzgeber hinsichtlich der Verwertung der lizenzierten Technologie unterliegt, nicht unter diese Bestimmung fallen, soweit sie für die Durchführung einer Lizenzvereinbarung objektiv notwendig sind(78), lässt sich diese Feststellung jedoch nicht auf die Beschränkungen für den Lizenzgeber in Bezug auf die Verwertung einer anderen Technologie übertragen. Eine Beeinträchtigung des durch diese andere Technologie entstandenen Wettbewerbs könnte im Gegenteil den wettbewerbsfördernden Effekt der Verbreitung der neuen Technologie durch die Lizenzvereinbarung zunichtemachen.
b) Zur Anwendung von Art. 101 Abs. 3 AEUV
125. Nach meiner Meinung rechtfertigen die Art der im Ausgangsverfahren streitigen Beschränkungen und der Umstand, dass sie im Zusammenhang mit einer Lizenzvereinbarung zwischen nicht miteinander konkurrierenden Unternehmen stattfanden, als solche auch nicht die Gewährung einer Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV.
126. Zur Begründung ihrer gegenteiligen Ansicht tragen die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens vor, die im Ausgangsverfahren streitigen Beschränkungen ähnelten bestimmten Wettbewerbsbeschränkungen, zu deren Einhaltung sich ein Lizenzgeber gegenüber einem Lizenznehmer typischerweise verpflichte. Diese Wettbewerbsbeschränkungen kämen in den Genuss einer Gruppenfreistellung, wenn die Marktanteile der Vertragspartner bestimmte Schwellenwerte nicht überstiegen; selbst wenn diese Schwellen überschritten seien, werde für sie in der Regel eine Einzelfreistellung gewährt.
127. Roche macht insbesondere geltend, dass die Beschränkungen, durch die der Lizenzgeber verpflichtet sei, die lizenzierte Technologie nicht zu verwerten oder Produkte, die auf dieser Technologie beruhten, weder aktiv noch passiv in ein Exklusivgebiet oder an eine Exklusivkundengruppe zu verkaufen, das bzw. die dem Lizenznehmer vorbehalten sei, unter die in der Verordnung Nr. 772/2004 und in der Folgeverordnung Nr. 316/2014 vorgesehene Gruppenfreistellung fielen. Dies gelte sowohl für derartige Beschränkungen in Vereinbarungen zwischen nicht miteinander konkurrierenden Unternehmen(79) als auch für solche in Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die miteinander in Wettbewerb stünden(80).
128. Selbst wenn eine Gruppenfreistellung wegen Überschreitung der geltenden Marktanteilsschwellen nicht in Frage komme, erfüllten diese Beschränkungen nach den Leitlinien in der Regel die Voraussetzungen für eine Einzelfreistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV(81).
129. Diese Argumentation überzeugt mich nicht. Aus den in den Nrn. 111 bis 113 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Gründen lassen sich die im Ausgangsverfahren streitigen Beschränkungen nämlich nicht auf die Kategorien von Klauseln reduzieren, die ich in den vorstehenden Nummern angeführt habe und die Gegenstand dieser Verordnungen sowie der Leitlinien sind. Dies gilt erst recht, wenn die fraglichen Arzneimittel auf unterschiedlichen Technologien beruhen. In diesem Fall kann nämlich nicht von Beschränkungen bei der Verwertung der lizenzierten Technologie oder beim Verkauf von Produkten gesprochen werden, die auf dieser Technologie beruhen.
130. Ich bezweifle ganz allgemein, dass Beschränkungen wie die im Ausgangsverfahren streitigen selbst dann, wenn die Marktanteilsschwellen – anders als nach den von der AGCM für den vorliegenden Fall getroffenen Feststellungen – nicht überschritten wurden, oberhalb deren eine Gruppenfreistellung ausgeschlossen ist(82), in den sachlichen Anwendungsbereich der genannten Verordnungen fallen.
131. Nach dem neunten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 772/2004 soll diese Verordnung, um die Vorteile eines Technologietransfers nutzen und die damit verbundenen Ziele erreichen zu können, auch für Bestimmungen in Technologietransfer-Vereinbarungen gelten, die nicht den Hauptgegenstand dieser Vereinbarungen bilden, wenn diese Bestimmungen „mit der Anwendung der lizenzierten Technologie unmittelbar verbunden sind“. Im neunten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 316/2014 kommt noch deutlicher zum Ausdruck, dass diese Verordnung die Bestimmungen dieser Vereinbarungen nur erfasst, soweit sie „unmittelbar mit der Produktion oder dem Verkauf von Vertragsprodukten verbunden sind“. Die im Ausgangsverfahren streitigen Beschränkungen beziehen sich aber weder auf die Produktion noch auf den Verkauf von Anti‑VEGF-Arzneimitteln; sie betreffen die Verwendung und den Einkauf eines dieser Arzneimittel durch Dritte, die an der Lizenzvereinbarung über Lucentis nicht beteiligt sind.
132. Nach alledem bin ich der Ansicht, dass die streitigen kollusiven Verhaltensweisen nicht mit der Begründung, dass die im Ausgangsverfahren streitigen Beschränkungen mit den in einer Lizenzvereinbarung zwischen nicht miteinander konkurrierenden Unternehmen vorgesehenen Beschränkungen des Wettbewerbs des Lizenzgebers gegenüber dem Lizenznehmer vergleichbar sind, vom Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen werden oder in den Genuss einer Freistellung nach Abs. 3 dieses Artikels kommen können.
133. Diese Schlussfolgerung lässt aber die Frage unberührt, ob die streitigen kollusiven Verhaltensweisen tatsächlich unter das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen. Sie bedeutet auch nicht, dass diese Verhaltensweisen nicht gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV freigestellt werden könnten, wenn im Wege einer einzelfallbezogenen Prüfung festgestellt wird, dass die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt sind(83) – was diejenigen nachzuweisen haben, die sich darauf berufen(84). Ich werde mich mit diesen Gesichtspunkten nachfolgend im Rahmen meiner Prüfung der fünften Vorlagefrage befassen.
E. Zur fünften Frage: Begriff der „bezweckten Wettbewerbsbeschränkung“
1. Zur Tragweite der fünften Frage
134. Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein kollusives Verhalten, das darauf gerichtet ist, „die geringere Sicherheit oder die geringere Wirksamkeit eines Arzneimittels“ gegenüber einem anderen Arzneimittel „herauszustellen“, als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung angesehen werden kann, wenn diese geringere Wirksamkeit oder Sicherheit nicht durch „gesicherte“ wissenschaftliche Beweise belegt ist und zum maßgeblichen Zeitpunkt auch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, die die Begründetheit dieser Annahme „eindeutig“ ausschließen.
135. Um meine Prüfung besser einzugrenzen, halte ich es für angebracht, vorab drei Punkte zur Tragweite dieser Frage im Licht des in der Vorlageentscheidung beschriebenen Sachverhalts zu klären.
136. Erstens beruht die fünfte Frage, wie sich aus ihrem Wortlaut ergibt, auf der Prämisse, dass es, wie die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens vortragen, zur Zeit der streitigen kollusiven Verhaltensweisen keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse gab, ob die Sicherheits- und Wirksamkeitsprofile von nicht bestimmungsgemäß verwendetem Avastin und von Lucentis gleichwertig waren.
137. Diese Prämisse bestreiten die AGCM, AIUDAPDS, SOI‑AMOI, die Region Emilia-Romagna, Altroconsumo und die italienische Regierung. Sie machen im Wesentlichen geltend, zwar lasse sich die therapeutische Gleichwertigkeit zweier Arzneimittel in der Medizin nie eindeutig beweisen; die zur maßgeblichen Zeit verfügbaren – später durch andere Elemente bestätigten(85) – Beweise hätten jedoch eher für als gegen die therapeutische Gleichwertigkeit von Avastin und Lucentis gesprochen. SOI‑AMOI fügt hinzu, die Sicherheit und die Wirksamkeit von Avastin in der Augenheilkunde seien schon damals durch eine über eine lange Zeit weltweit geübte ärztliche Praxis demonstriert worden(86).
138. Da es nicht Sache des Gerichtshofs ist, den vom nationalen Gericht dargelegten sachlichen Rahmen in Frage zu stellen(87), muss für die Prüfung der fünften Frage meines Erachtens gleichwohl als Basis die genannte Prämisse genommen werden. Ich werde also von dem Grundsatz ausgehen, dass die wissenschaftliche Debatte über die therapeutische Gleichwertigkeit der beiden in Rede stehenden Arzneimittel zumindest noch nicht abgeschlossen war.
139. Zweitens kann die Formulierung „exagérer la moindre sécurité ou la moindre efficacité d’un médicament“ (die geringere Sicherheit oder die geringere Wirksamkeit eines Arzneimittels zu übertreiben) zu Missverständnissen führen. Ich ziehe ihr die neutrale Formulierung „Mitteilung“ oder „Verbreitung“ entsprechender „Behauptungen“ vor.
140. Zum einen kann nämlich das in der Vorlageentscheidung verwendete italienische Verb „enfatizzare“ auch mit „mettre l’accent sur“ (herausstellen) oder mit „insister sur“ (betonen) ins Französische übersetzt werden, womit keine Erweiterung des Inhalts einer Information verbunden ist(88). Zum anderen würde, wie SOI‑AMOI bemerkt hat, die Übertreibung oder die besondere Betonung der geringeren Sicherheit oder Wirksamkeit eines Produkts im Vergleich zu einem anderen implizieren, dass diese geringere Sicherheit oder Wirksamkeit tatsächlich gegeben ist. Aus der Formulierung der fünften Frage ergibt sich aber im Gegenteil, dass diese geringere Sicherheit oder Wirksamkeit noch Gegenstand einer wissenschaftlichen Debatte ist(89).
141. Drittens geht aus der Vorlageentscheidung und den dem Gerichtshof übermittelten Verfahrensakten nicht hervor, dass die AGCM den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens vorgeworfen hätte, außer den Anzeigen über die mit einer Off-label-Verwendung von Avastin verbundenen Risiken Behauptungen über die geringere Wirksamkeit dieser Verwendung im Vergleich zu der Verwendung von Lucentis verbreitet zu haben.
142. Die AGCM hat den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens konkret zur Last gelegt, eine Kommunikationsstrategie verabredet zu haben, die Roche und Roche Italia gegenüber den Arzneimittel-Regulierungsbehörden, den Ärzten und der breiten Öffentlichkeit verfolgen sollte. Diese Strategie habe darin bestanden, die mit einer Off-label-Verwendung von Avastin verbundenen Risiken zu betonen und Behauptungen über die im Vergleich zu Lucentis geringere Sicherheit dieses Produkts zu verbreiten. Es sei u. a. vorgesehen gewesen, dass diese Gesellschaften auf der Grundlage dieser Behauptungen bei der EMA eine Änderung der Zusammenfassung der Merkmale dieses Arzneimittels sowie die Genehmigung beantragen sollten, eine DHPC an die Augenärzte zu versenden.
143. Damit das vorlegende Gericht eine sachdienliche Antwort erhält, werde ich meine Untersuchung also auf die Prüfung konzentrieren, ob ein kollusives Verhalten, das die Verbreitung von Behauptungen über die geringere Sicherheit eines Arzneimittels im Vergleich zu einem anderen zum Gegenstand hat, eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung darstellt(90). Dennoch würde das von mir vorgeschlagene Ergebnis dieser Prüfung auch für den Fall einer abgestimmten Verbreitung von Behauptungen sowohl über die Sicherheit als auch über die Wirksamkeit dieser Arzneimittel im Vergleich zueinander gelten.
144. Vor diesem Hintergrund wende ich mich nun der Frage zu, ob und gegebenenfalls inwieweit eine kollusive Verhaltensweise, die darauf gerichtet ist, Dritten gegenüber Behauptungen zu verbreiten, wonach ein für bestimmte therapeutische Indikationen nicht bestimmungsgemäß verwendetes Arzneimittel weniger sicher sein soll als ein für diese Indikationen zugelassenes Arzneimittel, eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung darstellt, wenn hinsichtlich der vergleichenden Sicherheitsbewertung dieser Arzneimittel wissenschaftliche Unsicherheit besteht.
2. Zum Prüfungsrahmen für die Ermittlung einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung
145. Nach ständiger Rechtsprechung sind unter einer „bezweckten Wettbewerbsbeschränkung“ Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zu verstehen, die in sich selbst eine „hinreichende Beeinträchtigung“ des Wettbewerbs erkennen lassen, so dass die Prüfung ihrer Auswirkungen auf den Wettbewerb nicht notwendig ist(91).
146. Diese Rechtsprechung liegt darin begründet, dass „bestimmte Formen der Kollusion zwischen Unternehmen schon ihrer Natur nach als schädlich für das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs angesehen werden können“(92).
147. Um feststellen zu können, ob eine bestimmte kollusive Verhaltensweise eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt, ist „auf deren Inhalt und die mit ihr verfolgten Ziele sowie auf den rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang, in dem sie steht, abzustellen“(93). Zu diesem Zusammenhang gehören u. a. „die Art der betroffenen Waren und Dienstleistungen, die auf dem betreffenden Markt oder den betreffenden Märkten bestehenden tatsächlichen Bedingungen und die Struktur dieses Marktes oder dieser Märkte“(94).
148. Diese umfassende Einzelfallprüfung soll insbesondere dabei helfen, „die wirtschaftliche Funktion und tatsächliche Bedeutung der [betreffenden Abstimmung] zu verstehen“(95). Durch sie kann gegebenenfalls festgestellt werden, ob es für die Abstimmung anstelle der Verfolgung eines wettbewerbsbeschränkenden Ziels eine andere plausible Erklärung gibt(96).
149. Ferner kann die subjektive Absicht der an einem kollusiven Verhalten beteiligten Personen, wenngleich sie für die Feststellung einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung weder notwendig(97) noch ausreichend(98) ist, einen hierfür relevanten Faktor darstellen(99).
150. Im Übrigen ist der Begriff der „bezweckten Wettbewerbsbeschränkung“, obwohl er restriktiv auszulegen ist(100), nicht auf die in Art. 101 Abs. 1 AEUV ausdrücklich vorgesehenen Arten von Kollusion beschränkt(101). Die atypische oder neuartige Form eines bestimmten kollusiven Verhaltens hindert den Gerichtshof nicht daran, nach einer umfassenden Einzelfallprüfung festzustellen, dass dieses Verhalten als solches eine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs aufweist(102).
3. Zur Anwendung auf den vorliegenden Fall
151. Aufgrund der soeben erörterten Grundsätze und aus den nachstehend dargelegten Gründen steht es für mich außer Zweifel, dass kollusive Verhaltensweisen, die die Verbreitung von Behauptungen über die angeblich geringere Sicherheit eines Arzneimittels im Vergleich zu einem anderen zum Gegenstand haben, als solche eine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs aufweisen, wenn diese Behauptungen irreführend sind (siehe nachstehend unter a). Zweck solcher Verhaltensweisen ist es, den Wettbewerb durch die Ausnutzung einer wissenschaftlichen Unsicherheit zu verfälschen, um das erstere dieser Produkte vom Markt auszuschließen oder zumindest die Nachfrage zugunsten des Letzteren umzulenken.
152. Dieser erste Fall entspricht der Darstellung des Sachverhalts dieser Rechtssache, wie sie die AGCM, AIUDAPDS, SOI‑AMOI, die Region Emilia-Romagna, Altroconsumo, Codacons und die italienische Regierung dem Gerichtshof vorgetragen haben. Diese Verfahrensbeteiligten machen im Kern geltend, die streitigen kollusiven Verhaltensweisen hätten sich auf die Verbreitung von Behauptungen bezogen, die nicht dem Stand der zur maßgeblichen Zeit verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprochen hätten(103). Mit diesen Verhaltensweisen sei das Ziel verfolgt worden, die Off‑label‑Anwendungen von Avastin zu verhindern, um so die Nachfrage zugunsten von Lucentis umzulenken.
153. Sind die verbreiteten Behauptungen dagegen nicht irreführend, fallen derartige kollusive Verhaltensweisen nicht unter das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV (siehe nachstehend unter b). In einem solchen Fall haben diese Verhaltensweisen in Wirklichkeit den Zweck, die Informationen über die Sicherheit der fraglichen Arzneimittel transparent zu machen, damit die Adressaten dieser Behauptungen Entscheidungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit treffen können. Ein solcher Zweck fördert sowohl die öffentliche Gesundheit als auch den freien Wettbewerb.
154. Dieser zweite Fall entspricht der Darstellung des maßgeblichen Sachverhalts, die die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens vorgetragen haben. Diese haben erklärt, sie seien hinsichtlich der Sicherheit von Avastin im Bereich der Augenheilkunde wirklich besorgt gewesen, weshalb sie lediglich Informationen darüber ausgetauscht hätten, wie Roche und Roche Italia sich verhalten sollten, um ihre Pharmakovigilanzpflichten zu erfüllen. Mit diesen Verhaltensweisen hätten sie ganz allgemein das Ziel verfolgt, die öffentliche Gesundheit zu schützen und gleichzeitig den Ruf des Roche-Konzerns als Hersteller und Lieferant von Avastin zu verteidigen. Es habe verhindert werden sollen, dass die negativen Auswirkungen, die aus den mit der Off‑label‑Verwendung von Avastin verbundenen Risiken folgten, auch das bestimmungsgemäß verwendete Avastin sowie den Roche-Konzern träfen(104).
155. Da die Prüfung, ob die verbreiteten Behauptungen irreführend sind oder nicht, mit der Würdigung von Tatsachen verbunden ist, die ausschließlich in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fällt, hat Letzteres darüber zu entscheiden, welche der verschiedenen von den Verfahrensbeteiligten vertretenen Lesarten des Sachverhalts zutrifft, und somit festzustellen, ob die streitigen kollusiven Verhaltensweisen dem einen oder dem anderen vorstehend beschriebenen Fall zuzurechnen sind.
a) Zum Vorliegen einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung, wenn die verbreiteten Behauptungen irreführend sind
156. Meines Erachtens beeinträchtigt die abgestimmte Verbreitung irreführender Behauptungen über die geringere Sicherheit eines Arzneimittels im Vergleich zu einem anderen ihrem Wesen nach das reibungslose Funktionieren des freien Wettbewerbs, so dass sich eine Prüfung ihrer Auswirkungen auf den Wettbewerb erübrigt(105).
157. Zunächst wird, wenn eine Prüfung des Inhalts der fraglichen Behauptungen ergibt, dass sie irreführend sind, deren abgestimmte Verbreitung die Qualität der auf dem Markt verfügbaren Information verschlechtern und folglich die Entscheidungsfindung für diejenigen, die hinter der Nachfrage nach den beiden betroffenen Produkten stehen, beeinträchtigen. Diese abgestimmte Verbreitung ist als solche geeignet, die Nachfrage nach dem ersteren dieser Produkte zugunsten des Letzteren zu verringern, wenn nicht gar versiegen zu lassen.
158. Nach meiner Meinung schließt die Verbreitung irreführender Behauptungen die Verbreitung von Informationen ein, die an sich zwar richtig sind, aber nur in einer Auswahl oder unvollständig präsentiert werden, wenn diese Verbreitung angesichts der Art der Präsentation geeignet ist, ihre Adressaten zu täuschen(106).
159. In diesem Sinne sieht Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 726/2004 übrigens vor, dass der Inhaber einer Verkehrsgenehmigung keine die Pharmakovigilanz betreffenden Informationen ohne Mitteilung an die EMA öffentlich bekannt machen darf und auf jeden Fall sicherstellen muss, dass solche Informationen „in objektiver und nicht irreführender Weise dargelegt werden“(107).
160. Dies gilt unabhängig davon, ob eventuell eine wissenschaftliche Unsicherheit hinsichtlich der Sicherheit eines Arzneimittels besteht. Werden die Unsicherheiten hinsichtlich der mit der Verwendung dieses Arzneimittels verbundenen Risiken verschwiegen oder werden diese Risiken, weil die vorhandenen Beweise nicht objektiv betrachtet werden, übertrieben, kann dies nach meiner Ansicht dazu führen, dass eine abgestimmte Mitteilung über diese Risiken irreführend ist(108).
161. Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung nicht hervor, dass die Informationen über die Nebenwirkungen von Avastin in der Augenheilkunde, über deren Verbreitung sich die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens abgestimmt hatten, als solche inhaltlich unzutreffend waren(109). Die AGCM wirft ihnen im Wesentlichen vor, diese Informationen unvollständig und in einer Auswahl dargestellt zu haben, wobei sie die gegenteiligen wissenschaftlichen Erkenntnisse abgewertet hätten. Den Behauptungen über die geringere Sicherheit von Avastin im Vergleich zu Lucentis seien somit nicht objektiv und deshalb irreführend gewesen.
162. Es wird Sache des vorlegenden Gerichts sein, unter Berücksichtigung der in den Nrn. 158 bis 160 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Erwägungen zu prüfen, ob diese Behauptungen angesichts aller Informationen, die den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens zu der maßgeblichen Zeit zur Verfügung standen, irreführend waren.
163. Sodann wird mit der abgesprochenen Verbreitung irreführender Behauptungen über die geringere Sicherheit des einen Arzneimittels im Vergleich zu dem anderen zwangsläufig der Zweck verfolgt, den Ausschluss oder zumindest einen Rückgang der Nachfrage nach dem ersteren dieser Arzneimittel zugunsten des Letzteren zu erreichen. Da diese Behauptungen irreführend sind, kann es für ein solches kollusives Verhalten insbesondere keine plausible alternative Erklärung geben, wonach etwa legitime Ziele der Transparenz der auf dem Markt verfügbaren Informationen sowie des Schutzes der öffentlichen Gesundheit verfolgt würden.
164. Sollten mit dem fraglichen kollusiven Verhalten zusätzlich noch andere Ziele als eine Beschränkung des Wettbewerbs verfolgt worden sein, könnten diese nur bei einer etwaigen Anwendung des Art. 101 Abs. 3 AEUV Berücksichtigung finden(110).
165. Vor allem könnte die Frage aufgeworfen werden, ob das Ziel, der angeblich rechtswidrigen Verschreibung und Vermarktung von Avastin für Off‑label‑Anwendungen ein Ende zu setzen, eine Freistellung nach dieser Vorschrift rechtfertigt.
166. In diesem Zusammenhang möchte ich eine kurze Randbemerkung zu den Erkenntnissen machen, die sich aus dem vorstehend erwähnten Urteil Slovenská sporiteľňa(111) ergeben, in dem der Gerichtshof unter dem Blickwinkel von Art. 101 Abs. 3 AEUV ein Kartell geprüft hat, durch das ein Konkurrent vom Markt ausgeschlossen werden sollte, dessen Tätigkeit angeblich illegal war (und sich nach Vereinbarung dieses Kartells tatsächlich als illegal erwies). Der Gerichtshof hat in diesem Urteil die Frage offengelassen, ob sich durch die Ausschaltung eines illegal handelnden Konkurrenten Effizienzgewinne erzielen ließen. Auf jeden Fall war die Wettbewerbsbeschränkung zur Erreichung derartiger Gewinne nicht notwendig. Die Kartellunternehmen waren verpflichtet, sich mit einer Beschwerde gegen diesen Konkurrenten an die zuständigen Behörden zu wenden, anstatt im Wege einer Absprache über dessen Ausschluss vom Markt Selbstjustiz zu üben(112).
167. Nach dieser Logik steht es Unternehmen meines Erachtens auch nicht zu – zumindest solange sich die Unzulässigkeit der Verschreibung oder Vermarktung eines Arzneimittels für eine Off-label-Verwendung nicht aus einer rechtskräftigen Entscheidung der zuständigen Gerichte ergibt(113) –, im Voraus ein Urteil über die Unzulässigkeit zu fällen, indem sie sich darüber abstimmen, den von diesen Tätigkeiten auf die Verkäufe eines anderen Produkts ausgehenden Wettbewerbsdruck durch die Verbreitung irreführender Mitteilungen zu beseitigen.
168. Die Prüfung des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs, insbesondere der Art der Produkte und der auf dem relevanten Markt bestehenden Bedingungen, dürfte schließlich bestätigen, dass es sich bei einer kollusiven Absprache über die Mitteilung irreführender Informationen über die geringere Sicherheit eines Arzneimittels im Vergleich zu einem anderen um eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung handelt.
169. Wie die AGCM, die Region Emilia-Romagna, die französische Regierung und die Kommission hervorgehoben haben, achten die Ärzte besonders auf Sicherheitsbedenken gegenüber einem Arzneimittel. Haben diese Bedenken mit der Off-label-Verwendung des betreffenden Arzneimittels zu tun, kann diese Scheu, ein Risiko einzugehen, je nach dem in dem jeweiligen Mitgliedstaat geltenden Arzthaftungsrecht zunehmen. Was den vorliegenden Fall betrifft, so gelten in Italien der AGCM und der italienischen Regierung zufolge für diese Haftung strenge zivil- wie auch strafrechtliche Vorschriften. Angesichts dieses spezifischen Kontexts ist die Verbreitung einer besorgniserregenden und irreführenden Warnung vor den Risiken im Zusammenhang mit der Off‑label‑Verwendung eines Arzneimittels von Natur aus geeignet, dieses Arzneimittel bei den Ärzten in Verruf zu bringen und die Nachfrage nach konkurrierenden Arzneimitteln zu fördern.
170. Würde im Übrigen festgestellt, dass die verbreiteten Anzeigen irreführend sind, würde dies bereits ausreichen, um auszuschließen, dass die streitigen kollusiven Verhaltensweisen mit der Verfolgung legitimer Ziele wie der Gewährleistung der Transparenz der auf dem Markt verfügbaren Informationen, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit und des Rufs des Roche-Konzerns gerechtfertigt werden könnten. Diese Schlussfolgerung wäre umso zwingender, wenn zur Erreichung dieser Ziele angesichts des wirtschaftlichen und rechtlichen Kontexts dieser Verhaltensweisen keine Abstimmung zwischen den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens erforderlich war.
171. Auch wenn ein Unternehmen (wie Roche), das ein Arzneimittel (wie Avastin) herstellt und/oder die Verkehrsgenehmigung hierfür besitzt, die Risiken trägt, die sich aus der Unsicherheit einer Off-label-Verwendung dieses Arzneimittels zumindest für seinen Ruf ergeben, so ist doch ein anderes Unternehmen (wie Novartis), das ein konkurrierendes Arzneimittel (wie Lucentis) vertreibt, in keiner Weise derartigen Risiken ausgesetzt. Es ist nicht Sache des letzteren Unternehmens, sich an der Erarbeitung geeigneter Maßnahmen zur Verringerung der Sicherheitsrisiken zu beteiligen, die mit der Off‑label‑Verwendung eines Arzneimittels verbunden sind, das von ihm weder hergestellt noch vertrieben wird. Ebenso obliegen die Pharmakovigilanzpflichten, wie die AGCM, die Region Emilia-Romagna, Altroconsumo und die Kommission betont haben, allein dem Unternehmen, das die Verkehrsgenehmigung für das in Rede stehende Arzneimittel besitzt.
172. Gegebenenfalls könnte die subjektive Absicht der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, wie sie aus den in der Vorlageentscheidung wiedergegebenen Feststellungen der AGCM hervorgeht – unterstellt, sie sei nachgewiesen –, bestätigen, dass die streitigen kollusiven Verhaltensweisen möglicherweise eine wettbewerbsbeschränkende Zweckbestimmung hatten. Der AGCM zufolge brachten die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens in verschiedenen Schriftstücken die Absicht zum Ausdruck, unbegründete Bedenken hinsichtlich der Sicherheit von Avastin „zu wecken und zu verbreiten“, um die Nachfrage auf Lucentis zu verlagern. Sie hätten auf diese Weise versucht, die Unsicherheit hinsichtlich der Sicherheit dieser Produkte im Vergleich zueinander zugunsten ihrer kommerziellen Interessen, aber zulasten des Wettbewerbs auszunutzen.
173. Ich möchte hinzufügen: Falls das vorlegende Gericht die fraglichen Behauptungen als irreführend ansehen sollte, müsste die mit den streitigen kollusiven Verhaltensweisen bezweckte Wettbewerbsbeschränkung unabhängig von den konkreten Auswirkungen dieser Verhaltensweisen festgestellt werden.
174. Wie andere Generalanwälte vor mir ausgeführt haben(114) und wie der Gerichtshof in seinem Urteil CB/Kommission(115) im Kern klargestellt hat, deckt sich die umfassende Einzelfallprüfung eines kollusiven Verhaltens nicht mit der Prüfung der tatsächlichen oder potenziellen Auswirkungen dieses Verhaltens auf den Wettbewerb. Wäre dies der Fall, so würden die Begriffe des wettbewerbswidrigen „Zwecks“ und der wettbewerbswidrigen „Wirkung“ miteinander vermengt und dadurch der Unterschied verwischt, der nach Art. 101 Abs. 1 AEUV zwischen diesen beiden Begriffen besteht. Unter diesem Blickwinkel kann eine Absprache nach der Rechtsprechung eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung darstellen, wenn sie „das Potenzial hat“ oder „konkret geeignet ist“, negative Auswirkungen auf den Wettbewerb zu entfalten, ohne dass ihre konkreten Auswirkungen zu prüfen wären(116).
175. Es ist erstens also unerheblich, dass die EMA sich geweigert hat, die Mitteilung einer DHPC zu genehmigen, und die Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels Avastin anders als von Roche beantragt geändert hat(117). Dass eine bestimmte Absprache in einem konkreten Fall erfolglos bleibt, spielt für die Feststellung einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung keine Rolle(118). Dieser Umstand kann jedoch bei der Bemessung der Höhe der Geldbuße berücksichtigt werden(119).
176. Gegen die Feststellung einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung spricht zweitens auch nicht, dass die Arzneimittel-Regulierungsbehörden und die Augenärzte über eine Fachkompetenz verfügen, die sie nach Ansicht der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens in die Lage versetzt, die verbreiteten Anzeigen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Im Gegenteil, selbst wenn fachkundige Adressaten dieser Anzeigen über die notwendigen Qualifikationen verfügten, um eventuell eine abgestimmte Strategie zu vereiteln, die auf einen Rückgang der Nachfrage nach einem Produkt durch die Verbreitung irreführender Behauptungen über dessen Sicherheit abzielt, wäre eine solche Strategie meines Erachtens dennoch geeignet, den Wettbewerb zu beschränken.
b) Zum Fehlen einer Wettbewerbsbeschränkung, wenn die verbreiteten Behauptungen nicht irreführend sind
177. Der Fall einer kollusiven Absprache, die die Verbreitung irreführender Behauptungen über die geringere Sicherheit eines Arzneimittels im Vergleich zu einem anderen betrifft, ist klar vom Fall einer Absprache zu unterscheiden, durch die die Inhaber von Verkehrsgenehmigungen für zwei Arzneimittel vereinbaren, Informationen über die Sicherheit dieser beiden Arzneimittel im Vergleich zueinander zu verbreiten, die im Licht der zur maßgeblichen Zeit verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse richtig und objektiv sind.
178. Nach meinem Dafürhalten stellt eine solche Absprache keine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV dar.
179. Ihr Zweck bzw. ihre wirtschaftliche Funktion und tatsächliche Bedeutung bestehen darin, die Qualität der auf dem Markt verfügbaren Informationen zu verbessern, damit die Arzneimittel-Regulierungsbehörden und die Ärzte fundierte Entscheidungen treffen können. Ein solcher Zweck dient, wie Roche in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben hat, sowohl dem Schutz der öffentlichen Gesundheit als auch der Entwicklung eines gesunden Wettbewerbs. Zugleich kann durch die abgestimmte Verbreitung richtiger und objektiver Informationen zum Sicherheitsprofil eines Arzneimittels das Ansehen dieses Arzneimittels und des Unternehmens, das es entwickelt oder hergestellt hat, geschützt werden.
180. Eine Absprache, durch die die Inhaber von Verkehrsgenehmigungen für zwei Arzneimittel vereinbaren, richtige und objektive Informationen über die geringere Sicherheit eines dieser Arzneimittel im Vergleich zu dem anderen zu verbreiten, ist nach meiner Meinung nicht einmal geeignet, wettbewerbsschädliche Auswirkungen hervorzurufen.
181. Dies ergibt sich folgerichtig aus der kontrafaktischen Analyse, die zur Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung erforderlich ist. Um zu bestimmen, ob der Wettbewerb beschränkt ist, ist nämlich der Wettbewerb zu betrachten, „wie er ohne die fragliche Vereinbarung bestehen würde“(120). Eine solche Absprache beschränkt jedoch nicht den Wettbewerb, der ohne sie bestanden hätte, sondern stärkt ihn dadurch, dass sie für Transparenz der auf dem Markt verfügbaren Informationen sorgt und zugleich auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit hinwirkt.
182. Falls die Behauptungen, deren Verbreitung die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens abgesprochen haben, nicht irreführend gewesen sein sollten, würden die streitigen kollusiven Verhaltensweisen daher nicht unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen.
183. Dies würde selbst dann gelten, wenn die vorerwähnten legitimen Ziele der Transparenz der Informationen und des Schutzes der öffentlichen Gesundheit sowie des Ansehens von Avastin und des Roche-Konzerns von den einzelnen Konzerngesellschaften allein hätten erreicht werden können(121).
184. Dieser Umstand würde zwar die Annahme, dass der Zweck einer Absprache in der Verwirklichung dieser legitimen Ziele bestand, weniger plausibel machen. Er würde gleichwohl eine Absprache, die die Verbreitung richtiger und objektiver Informationen über die Sicherheit eines Arzneimittels zum Gegenstand hat, nicht wettbewerbswidrig machen. Dies folgt erneut aus der kontrafaktischen Prüfung der Lage, die bestanden hätte, wenn es eine solche Absprache nicht gegeben hätte. Unterstellt, die fraglichen Behauptungen wären nicht irreführend gewesen, wäre das von Roche und Roche Italia nach den streitigen kollusiven Verhaltensweisen an den Tag gelegte Verhalten, auch wenn es diese Verhaltensweisen nicht gegeben hätte, notwendig gewesen, um die genannten legitimen Ziele, insbesondere den Schutz der öffentlichen Gesundheit, zu erreichen(122).
185. Ich möchte in diesem Zusammenhang ergänzen, dass die Verbreitung richtiger und objektiver Angaben zum Sicherheitsprofil eines Arzneimittels, wie die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens geltend gemacht haben, zur Verwirklichung der Ziele beiträgt, die die Verordnung Nr. 726/2004 mit der Auferlegung von Pharmakovigilanzpflichten verfolgt. Die Unterrichtung der Arzneimittel-Regulierungsbehörden über mutmaßliche Nebenwirkungen von Off‑label-Anwendungen eines Arzneimittels entspricht der Bestimmung in Art. 16 Abs. 2 dieser Verordnung und in Art. 104 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83, auf den Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 726/2004 verweist. Ein Antrag auf Änderung der Zusammenfassung der Merkmale des betreffenden Arzneimittels und auf Genehmigung für eine förmliche Unterrichtung der Ärzte sowie die Erarbeitung einer Kommunikationsstrategie gegenüber der breiten Öffentlichkeit könnten gegebenenfalls „geeignete Maßnahmen“ sein, um etwaige Sicherheitsrisiken im Sinne von Art. 104 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 möglichst klein zu halten.
186. Dabei ist es irrelevant, dass diese Pharmakovigilanzpflichten erst durch die Verordnung Nr. 726/2004 und die Richtlinie 2001/83 seit Juli 2012 auf Off‑label‑Anwendungen von Arzneimitteln ausgedehnt worden sind(123) – d. h. nach Beginn der streitigen kollusiven Verhaltensweisen. Es kann Unternehmen kein Vorwurf daraus gemacht werden, ein Verhalten an den Tag gelegt zu haben, das im Einklang mit diesen Pflichten steht, wenn dieses Verhalten dem auf Erwägungen zur öffentlichen Gesundheit gestützten Willen des Gesetzgebers entspricht.
V. Ergebnis
187. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) wie folgt zu antworten:
1. Art. 101 AEUV ist dahin auszulegen, dass der relevante Produktmarkt sämtliche Erzeugnisse umfasst, die von den Verbrauchern hinsichtlich ihrer Eigenschaften, ihrer Preise und ihres vorgesehenen Verwendungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden.
Im Arzneimittelsektor ist der Inhalt der Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln nicht zwangsläufig ausschlaggebend für eine solche Beurteilung. Insbesondere ist der Umstand, dass die Verkehrsgenehmigung eines Arzneimittels bestimmte therapeutische Indikationen nicht deckt, kein Hinderungsgrund dafür, dass dieses Arzneimittel dem Markt der für diese Indikationen verwendeten Arzneimittel angehört, sofern es tatsächlich austauschbar mit Arzneimitteln verwendet wird, deren Verkehrsgenehmigung diese Indikationen deckt.
Dies gilt auch dann, wenn unsicher ist, ob die Verschreibung und die Vermarktung eines Arzneimittels zur Verwendung für therapeutische Indikationen und nach Modalitäten, die nicht durch dessen Verkehrsgenehmigung gedeckt sind, im Einklang mit den einschlägigen Rechtsvorschriften stehen.
2. Wettbewerbsbeschränkungen gegenüber dem Lizenznehmer, die daraus resultieren, dass Dritte ein auf einer lizenzierten Technologie beruhendes Produkt in einer Form und für Zwecke, die der Lizenzgeber nicht vorgesehen hat, nachfragen und verwenden, sind selbst für den Fall, dass sie in Zusammenhang mit einer Lizenzvereinbarung zwischen nicht miteinander konkurrierenden Unternehmen stehen, nicht etwa mit der Begründung, dass sie eine Nebenabrede zur Durchführung dieser Vereinbarung seien, vom grundsätzlichen Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen und kommen auch nicht unbedingt für eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV in Betracht.
3. Eine kollusive Verhaltensweise, durch die zwei Unternehmen sich darüber verständigen, Dritten gegenüber Behauptungen über die geringere Sicherheit eines Arzneimittels im Vergleich zu einem anderen zu verbreiten, ohne über gesicherte wissenschaftliche Beweise für diese Behauptungen zu verfügen und ohne wissenschaftliche Erkenntnisse zu haben, die die Begründetheit dieser Behauptungen eindeutig ausschließen, stellt eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV dar, sofern diese Behauptungen irreführend sind, was das nationale Gericht zu prüfen hat.