URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

17. Juli 2014(*)

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 16 Abs. 1 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt – Möglichkeit, einen Drittstaatsangehörigen mit seiner Zustimmung gemeinsam mit gewöhnlichen Strafgefangenen unterzubringen“

In der Rechtssache C‑474/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 11. Juli 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 3. September 2013, in dem Verfahren

Thi Ly Pham

gegen

Stadt Schweinfurt, Amt für Meldewesen und Statistik

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz, A. Borg Barthet und M. Safjan sowie der Richter A. Rosas, G. Arestis (Berichterstatter), J. Malenovský, D. Šváby, C. Vajda und S. Rodin,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. April 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Frau Pham, vertreten durch Rechtsanwalt M. Sack,

–        der Stadt Schweinfurt, Amt für Meldewesen und Statistik, vertreten durch J. von Lackum als Bevollmächtigten,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. de Ree, M. Bulterman und H. Stergiou als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und M. Condou‑Durande als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2014

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Pham und der Stadt Schweinfurt, Amt für Meldewesen und Statistik, über die Rechtmäßigkeit der gegen sie angeordneten Abschiebungshaft.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 lautet:

„In Haft genommene Drittstaatsangehörige sollten eine menschenwürdige Behandlung unter Beachtung ihrer Grundrechte und im Einklang mit dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht erfahren. Unbeschadet des ursprünglichen Aufgriffs durch Strafverfolgungsbehörden, für den einzelstaatliche Rechtsvorschriften gelten, sollte die Inhaftierung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgen.“

4        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

5        Art. 15 („Inhaftnahme“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)      Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

(5)      Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf.

(6)      Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:

a)      mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder

b)      Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten.“

6        Art. 16 („Haftbedingungen“) Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 lautet:

„Die Inhaftierung erfolgt grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht.“

 Deutsches Recht

7        § 62a Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950) in geänderter Fassung (BGBl. 2011 I S. 2258) (im Folgenden: AufenthG), mit dem Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 umgesetzt wurde, sieht vor:

„Die Abschiebungshaft wird grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen im Land nicht vorhanden, kann sie in diesem Land in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen …“

 Sachverhalt und Vorlagefrage

8        Frau Pham, eine vietnamesische Staatsangehörige, reiste ohne Ausweisdokumente und Aufenthaltstitel nach Deutschland ein. Am 29. März 2012 wurde gegen sie Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 28. Juni 2012 angeordnet. Am 30. März 2012 stimmte sie der Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt gemeinsam mit gewöhnlichen Strafgefangenen zu, da sie den Kontakt zu Landsleuten wünschte, die sich dort befanden.

9        Mit Beschluss vom 25. Juni 2012 verlängerte das Amtsgericht Nürnberg die Abschiebungshaft von Frau Pham bis zum 10. Juli 2012. Die von ihr hiergegen eingelegte Beschwerde wurde mit Beschluss des Landgerichts Nürnberg vom 5. Juli 2012 zurückgewiesen. Nachdem Frau Pham am 10. Juli 2012 nach Vietnam abgeschoben wurde, will sie mit ihrer beim Bundesgerichtshof eingelegten Rechtsbeschwerde die Feststellung erreichen, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts über die Verlängerung ihrer Haft sie in ihren Rechten verletzt haben.

10      Der Bundesgerichtshof führt aus, dass Rechtsmittel gegen eine Freiheitsentziehung angesichts des Eingriffs in ein besonders bedeutsames Grundrecht auch nach dem Ende der Haft zulässig blieben, weil der Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an der nachträglichen Feststellung habe, dass die freiheitsentziehende Maßnahme rechtswidrig gewesen sei.

11      Grundsätzlich verstoße die Unterbringung eines abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in einer Justizvollzugsanstalt gemeinsam mit gewöhnlichen Strafgefangenen gegen Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 sowie gegen den diese Vorschrift umsetzenden § 62a AufenthG. Diese Unterbringung wäre allerdings rechtmäßig, wenn Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen wäre, dass die Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieser Vorschrift über einen gewissen Spielraum verfügten, der ihnen die Möglichkeit verschaffe, die Einwilligung des Betroffenen in die Unterbringung mit den Strafgefangenen zu berücksichtigen.

12      Der Bundesgerichtshof weist darauf hin, dass zum einen die Gefahr einer Umgehung des Trennungsgebots bestehen könne, etwa wenn die beteiligten Behörden die unter die Richtlinie 2008/115 fallenden Drittstaatsangehörigen regelmäßig vorformulierte Einwilligungserklärungen unterschreiben ließen oder sie zu einer Einwilligung in die Unterbringung in einer Haftanstalt gemeinsam mit gewöhnlichen Strafgefangenen drängten. Zum anderen bezwecke das Trennungsgebot ausschließlich eine Besserstellung der Drittstaatsangehörigen, auf die sie verzichten können sollten, wenn sie – nach Belehrung über einen Anspruch auf getrennte Unterbringung – eine gemeinsame Unterbringung mit Strafgefangenen wünschten bzw. ausdrücklich darin einwilligten, etwa – wie hier – wegen der Kontaktmöglichkeiten zu Landsleuten oder Gleichaltrigen. Im deutschen Recht werde bei der Sicherungsverwahrung, für die ebenfalls eine getrennte Unterbringung der Sicherungsverwahrten vorgesehen sei, die Einwilligung eines Sicherungsverwahrten in die Zusammenlegung mit Strafgefangenen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt.

13      Unter diesen Voraussetzungen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist es mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vereinbar, einen Abschiebungshäftling gemeinsam mit Strafgefangenen unterzubringen, wenn er in diese gemeinsame Unterbringung einwilligt?

 Zur Vorlagefrage

14      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat erlaubt, einen Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt gemeinsam mit gewöhnlichen Strafgefangenen unterzubringen, wenn der Drittstaatsangehörige in diese Unterbringung einwilligt.

15      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich aus der dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übermittelten Akte ergibt, dass Frau Pham auf der Grundlage von § 62a Abs. 1 AufenthG in einer Justizvollzugsanstalt untergebracht worden war.

16      Den Rn. 28 bis 31 des Urteils Bero und Bouzalmate (C‑473/13 und C‑514/13, EU:C:2014:2095) ist zu entnehmen, dass die Anwendung von Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 nicht bereits deswegen gerechtfertigt sein kann, weil es in einem Bundesland der Bundesrepublik Deutschland keine spezielle Hafteinrichtung gibt.

17      Was die Auslegung dieser Bestimmung im Rahmen des Ausgangsverfahrens betrifft, ergibt sich aus ihrem Wortlaut, dass sie eine unbedingte Verpflichtung begründet, die illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen von den gewöhnlichen Strafgefangenen zu trennen, wenn ein Mitgliedstaat sie nicht in speziellen Hafteinrichtungen unterbringen kann.

18      Hierzu macht die deutsche Regierung – von der niederländischen Regierung unterstützt – geltend, dass ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, da Zweck dieses Trennungsgebots sei, sein Interesse und sein Wohlergehen zu schützen, darauf insbesondere in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens verzichten könne, in der die Betroffene mit ihren Landsleuten in Kontakt habe bleiben wollen.

19      Es ist festzustellen, dass das Gebot der Trennung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger von gewöhnlichen Strafgefangenen ohne Ausnahme gilt und die Wahrung der Rechte garantiert, die der Unionsgesetzgeber diesen Drittstaatsangehörigen im Rahmen der Abschiebungshaftbedingungen in gewöhnlichen Haftanstalten ausdrücklich einräumt.

20      Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass mit der Richtlinie 2008/115 eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik festgelegt werden soll, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden (Urteile El Dridi, C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 31, und Arslan, C‑534/11, EU:C:2013:343, Rn. 42).

21      Insoweit geht das in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 dieser Richtlinie vorgesehene Gebot der Trennung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger von gewöhnlichen Strafgefangenen über eine bloße spezifische Durchführungsmodalität der Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen in gewöhnlichen Haftanstalten hinaus und stellt eine materielle Voraussetzung für diese Unterbringung dar, ohne deren Erfüllung die Unterbringung grundsätzlich nicht mit der Richtlinie in Einklang stünde.

22      In diesem Zusammenhang darf ein Mitgliedstaat nicht auf den Willen des betroffenen Drittstaatsangehörigen abstellen.

23      Nach alledem ist daher auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat auch dann nicht erlaubt, einen Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt gemeinsam mit gewöhnlichen Strafgefangenen unterzubringen, wenn der Drittstaatsangehörige in diese Unterbringung einwilligt.

 Kosten

24      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat auch dann nicht erlaubt, einen Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt gemeinsam mit gewöhnlichen Strafgefangenen unterzubringen, wenn der Drittstaatsangehörige in diese Unterbringung einwilligt.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.