SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
NICHOLAS EMILIOU
vom 7. September 2023(1)
Rechtssache C‑128/22
BV NORDIC INFO
gegen
Belgische Staat
(Vorabentscheidungsersuchen der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel [niederländischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel, Belgien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit – Nationale Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung der Covid‑19-Pandemie – Verbot ‚nicht unbedingt notwendiger‘ Reisen in Länder oder aus Ländern, für die von einer hohen Infektionsgefahr für Reisende ausgegangen wurde – Quarantäne- und Screeningtestvorschriften für Gebietsansässige bei ihrer Rückkehr aus diesen Ländern – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 4 und 5 – Recht auf Ausreise und Recht auf Einreise – Beschränkung – Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 – Rechtfertigung – Öffentliche Gesundheit – Verhältnismäßigkeit – Durchführung von Kontrollen zur Durchsetzung der Reisebeschränkungen – Schengener Grenzkodex – Art. 22 und Art. 23 Abs. 1 – Unterscheidung zwischen ‚Personenkontrollen‘ im Sinne der erstgenannten und ‚Ausübung der polizeilichen Befugnisse‘ im Sinne der letztgenannten Bestimmung – Möglichkeit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen – Art. 25 Abs. 1 – Rechtfertigung – Begriff der ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung – Gefahr ernster Störungen der sozialen Ordnung durch die Pandemie – Verhältnismäßigkeit“
I. Einleitung
1. Unter den „nicht-pharmazeutischen Interventionen“(2), die von Behörden in aller Welt vorgenommen wurden, um die Ausbreitung der Covid‑19-Pandemie einzudämmen, spielten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Personen eine große Rolle. Während Lockdowns die einschneidendsten Maßnahmen darstellten, gehörten auch Beschränkungen des internationalen Personenverkehrs zu den wichtigsten Maßnahmen. Zu verschiedenen Zeitpunkten während der Pandemie wurden nämlich von den Staaten Ein- und/oder Ausreiseverbote für ihr Hoheitsgebiet verhängt und zu deren Durchsetzung die Grenzkontrollen verstärkt.
2. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bildeten dabei keine Ausnahme. Von ihnen wurde während der „ersten Welle“ der Pandemie ab März 2020(3) nicht nur ein kollektives Verbot der Einreise in die Europäische Union eingeführt, um die „Festung Europa“ teilweise vom Rest der Welt abzuschotten(4), sondern die verschiedenen Beschränkungen der grenzüberschreitenden Bewegungsfreiheit zwischen ihnen führten auch zu Grenzschließungen innerhalb der Europäischen Union von noch nie dagewesenem Umfang(5).
3. Während die meisten Maßnahmen gegen Ende Juni 2020 aufgehoben wurden, behielten mehrere Mitgliedstaaten wegen einer (zu dieser Zeit) befürchteten „zweiten Welle“ von Covid‑19 vorsorglich Beschränkungen des internationalen Personenverkehrs bei. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (niederländischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel, Belgien) betrifft die Vereinbarkeit einiger dieser Maßnahmen, die von der belgischen Regierung Anfang Juli 2020 getroffen wurden und in einem Verbot „nicht wesentlicher“, d. h. nicht unbedingt notwendiger, Reisen u. a. in bestimmte Länder und aus bestimmten Ländern, für die von einer hohen Infektionsgefahr für Reisende ausgegangen wurde, in Quarantäne- und Testvorschriften für in Belgien ansässige Personen bei ihrer Rückkehr aus diesen Ländern sowie in Kontrollen an oder in der Nähe der belgischen Grenzen zur Durchsetzung dieser Reisebeschränkungen bestanden, mit dem Unionsrecht.
4. Die vorliegende Rechtssache ist nicht die erste Covid‑19 betreffende Rechtssache, mit der der Gerichtshof befasst wird. Der Gerichtshof hat sich auch nicht zum ersten Mal mit der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen zu befassen, die zur Eindämmung der Ausbreitung einer epidemischen Krankheit ergriffen wurden(6). Bislang hatte der Gerichtshof jedoch noch nie über die Vereinbarkeit vorbeugender Maßnahmen mit dem Unionsrecht zu entscheiden, die schon ihrem Wesen und ihrer Schwere nach eine der Hauptgrundlagen und Errungenschaften der Europäischen Union erschüttert haben, nämlich die Schaffung „eine[s] Raum[s] … ohne Binnengrenzen, in dem … der freie Personenverkehr gewährleistet ist“(7). Die vorliegende Rechtssache wirft ferner die stets aktuelle Frage nach dem Gleichgewicht auf, das die Behörden in einer demokratischen Gesellschaft zwischen dem legitimen Ziel der wirksamen Bekämpfung von Bedrohungen der sozialen Ordnung und den Grundrechten der von den hierzu ergriffenen Maßnahmen betroffenen Personen herstellen müssen. Während sich der Gerichtshof mit dieser Fragestellung, insbesondere im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Straftaten und Terrorismus, bereits auseinanderzusetzen hatte(8), wird er sie erstmals im Kontext der von einer Pandemie ausgehenden Bedrohung zu behandeln haben.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
1. Unionsbürgerrichtlinie
5. Art. 4 („Recht auf Ausreise“) der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten(9) (im Folgenden: Unionsbürgerrichtlinie), bestimmt in Abs. 1: „Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.“
6. Art. 5 („Recht auf Einreise“) Abs. 1 dieser Richtlinie lautet: „Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise.“
7. In Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) der Unionsbürgerrichtlinie bestimmt Art. 27 („Allgemeine Grundsätze“) in Abs. 1: „Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit … eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.“
8. Im selben Kapitel bestimmt Art. 29 („Öffentliche Gesundheit“) der Richtlinie in Abs. 1: „Als Krankheiten, die eine die Freizügigkeit beschränkende Maßnahme rechtfertigen, gelten ausschließlich die Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation [WHO] …“
2. Schengener Grenzkodex
9. Art. 22 („Überschreiten der Binnengrenzen“) der Verordnung (EU) 2016/399 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex)(10) (im Folgenden: Schengener Grenzkodex oder Kodex) lautet: „Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“
10. Art. 25 („Allgemeiner Rahmen für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen“) des Kodex bestimmt in den Abs. 1 und 2:
„(1) Ist im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht, so ist diesem Mitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet, gestattet. Die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen darf in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist.
(2) Kontrollen an den Binnengrenzen werden nur als letztes Mittel und im Einklang mit den Artikeln 27, 28 und 29 wiedereingeführt. Wird ein Beschluss zur Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Artikel 27, 28 oder 29 in Betracht gezogen, so sind die in Artikel 26 beziehungsweise 30 genannten Kriterien in jedem einzelnen Fall zu Grunde zu legen.“
B. Belgisches Recht
11. Im Rahmen einer Reihe von „Dringlichkeitsmaßnahmen“ zur Eindämmung der Ausbreitung von Covid‑19 im belgischen Hoheitsgebiet führte die belgische Regierung Reisebeschränkungen ein. Die einschlägigen Vorschriften änderten sich jedoch im Laufe der Zeit. Diese Entwicklungen lassen sich, soweit sie für die vorliegende Rechtssache relevant sind, wie folgt zusammenfassen.
12. Zunächst waren vom 23. März bis 15. Juni 2020 alle „nicht wesentlichen“ Reisen aus und nach Belgien grundsätzlich verboten(11). Anschließend galt vom 15. Juni bis 12. Juli 2020 eine Ausnahme von diesem Verbot für die „EU+-Länder“(12). Reisen in diese Länder und aus ihnen waren gestattet, sofern das betreffende Land sie erlaubte(13). Schließlich entschied die belgische Regierung, „nicht wesentliche“ Reisen zwischen Belgien und den betreffenden Ländern je nach der epidemiologischen Lage in dem jeweiligen Staat zu regeln.
13. Zu diesem Zweck wurde Art. 18 des Ministeriellen Erlasses vom 30. Juni 2020 zur Festlegung von Dringlichkeitsmaßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus COVID-19 in der durch den Ministeriellen Erlass vom 10. Juli 2020) (Moniteur Belge vom 10. Juli 2020, S. 51609) geänderten Fassung (zusammen im Folgenden: angefochtener Erlass) umgesetzt. Diese Bestimmung lautete:
„§ 1 Nicht wesentliche Reisen aus Belgien heraus und nach Belgien sind verboten.
§ 2 In Abweichung von § 1 … ist es erlaubt:
1. von Belgien aus in alle Länder der Europäischen Union, des Schengen-Raums und in das Vereinigte Königreich zu reisen und von diesen Ländern aus nach Belgien zu reisen, mit Ausnahme der als rote Zone bestimmten Gebiete, deren Liste auf der Website des [belgischen Außenministeriums] veröffentlicht ist,
…“
14. Dementsprechend wurde von den belgischen Behörden ab dem 12. Juli 2020 bis zu einem in der Vorlageentscheidung nicht genannten Zeitpunkt ein Farbcode verwendet, mit dem die EU+-Länder je nach ihrer epidemiologischen Lage mit „rot“, „orange“ oder „grün“ gekennzeichnet wurden. Dabei bedeutete
– „grün“, dass Reisen in das betreffende Land ohne Beschränkungen erlaubt waren;
– „orange“, dass von Reisen in das betreffende Land abgeraten wurde und bei der Rückkehr eine Quarantäne und ein Test fakultativ waren;
– „rot“, dass Reisen in das betreffende Land untersagt waren und Reisende sich (nach den für die betreffende belgische Region geltenden Regeln) bei ihrer Rückkehr in Quarantäne begeben und einem Test unterziehen mussten(14).
15. Die dem oben erwähnten Farbcode zugrunde liegende Bewertung der epidemiologischen Lage eines Landes oder einer Region erfolgte anhand einer Methode, die in einer schriftlichen Stellungnahme eines Beratungsgremiums der belgischen Regierung festgelegt worden war(15). Als wesentliche Kriterien wurden hierfür erstens die kumulierte Zahl neuer Infektionen (im Folgenden: Inzidenz) innerhalb der letzten 14 Tage pro 100 000 Einwohner auf nationaler oder regionaler Ebene (sofern Daten unterhalb der nationalen Ebene verfügbar waren), zweitens die Entwicklung der Infektionsraten und drittens etwaige Eindämmungsmaßnahmen auf nationaler oder regionaler Ebene herangezogen. Dabei wurden die Länder wie folgt eingestuft:
– „hohes Risiko“ (d. h. „rot“), wenn die nationale Inzidenz neuer Covid‑19-Fälle innerhalb der letzten 14 Tage mehr als zehnmal höher war als in Belgien (100 gemeldete Fälle pro 100 000 Einwohner); dies galt auch für Gebiete innerhalb eines Landes, in denen ein Lockdown oder strengere Maßnahmen als im Rest des Landes verhängt worden waren;
– „mäßiges Risiko“ (d. h. „orange“), wenn die nationale Inzidenz neuer Covid‑19-Fälle innerhalb der letzten 14 Tage zwischen dem Zwei- und Zehnfachen der Inzidenz in Belgien (zwischen 20 und 100 gemeldete Fälle pro 100 000 Einwohner) lag;
– „geringes Risiko“ (d. h. „grün“) bei Ländern, in denen die nationale Inzidenz neuer Covid‑19-Fälle innerhalb der letzten 14 Tage ähnlich hoch war wie in Belgien (weniger als 20 gemeldete Fälle pro 100 000 Einwohner).
16. Die Daten über die Infektionsrate eines Landes oder einer Region (soweit verfügbar) wurden vom ECDC zur Verfügung gestellt, das sie seinerseits von den betreffenden Ländern erhielt. Informationen über etwaige Eindämmungsmaßnahmen in einem bestimmten Land oder einer bestimmten Region wurden vom belgischen Außenministerium eingeholt und zur Verfügung gestellt. Die Informationen zum Farbcode der Länder sollten vom Celeval mindestens einmal pro Woche übermittelt werden.
17. Ferner sah Art. 22 des angefochtenen Erlasses vor, dass Verstöße insbesondere gegen dessen Art. 18 mit den in Art. 187 des Gesetzes vom 15. Mai 2007 über die zivile Sicherheit vorgesehenen Strafen geahndet würden(16). Die letztgenannte Bestimmung bestimmt im Wesentlichen, dass vorsätzliche oder fahrlässige Verstöße gegen diese Maßnahmen in Friedenszeiten mit einer Freiheitsstrafe von acht Tagen bis zu drei Monaten und/oder einer Geldbuße von 26 bis zu 500 Euro geahndet werden. Sie bestimmt ferner, dass der Innenminister oder gegebenenfalls der Bürgermeister bzw. der Zonenkommandant des betreffenden Gebiets „außerdem die genannten Maßnahmen von Amts wegen“ auf Kosten der Zuwiderhandelnden „durchführen lassen“ kann.
III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18. Die NORDIC INFO BV (im Folgenden: Nordic Info) ist ein Reiseveranstalter mit Sitz in Belgien, der Reisen in die nordischen Länder, insbesondere nach Schweden, organisiert und verkauft.
19. Die Farbcodierung für die EU+-Länder nach Art. 18 § 2 Nr. 1 des angefochtenen Erlasses wurde am 12. Juli 2020 erstmals auf der Website des belgischen Außenministeriums veröffentlicht. Schweden war darin aufgrund der dortigen epidemiologischen Lage mit „rot“ gekennzeichnet. Während Belgien seit dem 15. Juni 2020 keine Reisebeschränkungen für dieses Land angewendet hatte(17), waren infolge dieser Einstufung „nicht unbedingt notwendige“ Reisen nach und aus Schweden aufgrund dieser Bestimmung verboten. Außerdem galten für in Belgien ansässige Personen bei ihrer Rückkehr aus Schweden nach den geltenden regionalen Regelungen Quarantäne- und Testpflichten.
20. Nordic Info stornierte daraufhin alle für die Sommersaison 2020 geplanten Reisen nach Schweden, informierte die Reisenden, die sich zu dieser Zeit in Schweden befanden, über die Lage und gewährte ihnen Beistand bei der Rückkehr nach Belgien.
21. Am 15. Juli 2020 wurde die Farbcodierung für die EU+-Länder auf der Website des belgischen Außenministeriums aktualisiert. Der Farbcode für Schweden wurde von „rot“ auf „orange“ geändert. Demnach waren „nicht unbedingt notwendige“ Reisen in dieses Land nicht länger verboten, sondern nur nicht ratsam, und für Gebietsansässige galten bei ihrer Rückkehr keine Quarantäne- und Screeningtesterfordernisse mehr.
22. In der Folge erhob Nordic Info bei der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (niederländischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel) eine zivilrechtliche Haftungsklage gegen den belgischen Staat auf Schadensersatz in Höhe von vorläufig 481 431,00 Euro zuzüglich Zinsen und beantragte die Bestellung eines Sachverständigen zur Bewertung des definitiven ihr durch die Stornierung der geplanten Reisen nach Schweden entstandenen Schadens(18).
23. Nordic Info macht im Wesentlichen geltend, der Erlass der fraglichen Reisebeschränkungen durch die belgische Regierung sei rechtsfehlerhaft gewesen. Sie trägt insbesondere vor, erstens verstießen diese Maßnahmen gegen die Unionsbürgerrichtlinie, da sie das darin gewährleistete Recht auf Freizügigkeit einschränkten, ohne dass es dafür eine Rechtsgrundlage gebe. Zweitens hätten die Maßnahmen de facto zur Wiedereinführung von Kontrollen an den Grenzen Belgiens zu anderen Mitgliedstaaten geführt, unter Verstoß gegen die hierfür im Schengener Grenzkodex aufgestellten Voraussetzungen.
24. Unter diesen Umständen hat die Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (niederländischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die Art. 2, 4, 5, 27 und 29 der Unionsbürgerrichtlinie, mit denen die Art. 20 und 21 AEUV umgesetzt werden, dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats (vorliegend die Art. 18 und 22 des angefochtenen Erlasses) nicht entgegenstehen, durch die mittels einer allgemeinen Maßnahme
– belgischen Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen sowie Unionsbürgern, die im belgischen Hoheitsgebiet ansässig sind, und ihren Familienangehörigen ein grundsätzliches Ausreiseverbot bei nicht unbedingt notwendigen Reisen aus Belgien in Länder der Europäischen Union und des Schengen-Raums, die nach einem auf der Grundlage epidemiologischer Daten ausgearbeiteten Farbcode rot markiert sind, auferlegt wird;
– nicht belgischen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen (ob mit oder ohne Aufenthaltsrecht im belgischen Hoheitsgebiet) Einreisebeschränkungen (in Form von Quarantäne und Tests) bei nicht unbedingt notwendigen Reisen aus Ländern der Europäischen Union und des Schengen-Raums, die nach einem auf der Grundlage epidemiologischer Daten ausgearbeiteten Farbcode rot markiert sind, nach Belgien auferlegt werden?
2. Sind die Art. 1, 3 und 22 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats (vorliegend die Art. 18 und 22 des angefochtenen Erlasses) nicht entgegenstehen, mit der ein Ausreiseverbot für nicht unbedingt notwendige Reisen aus Belgien in Länder der Europäischen Union und des Schengen-Raums sowie ein Verbot der Einreise aus diesen Ländern nach Belgien verhängt werden, die nicht nur kontrolliert und mit Sanktionen belegt, sondern auch vom Minister, vom Bürgermeister und vom Zonenkommandant von Amts wegen umgesetzt werden können?
25. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen vom 7. Februar 2022 ist am 23. Februar 2022 eingegangen. Nordic Info, die belgische, die rumänische, die norwegische und die schweizerische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der mündlichen Verhandlung am 10. Januar 2023 waren die belgische, die rumänische und die norwegische Regierung sowie die Kommission vertreten.
IV. Würdigung
26. In der vorliegenden Rechtssache geht es um die Vereinbarkeit zweier miteinander in Verbindung stehender, aber gesonderter Maßnahmenpakete mit dem Unionsrecht, die von der belgischen Regierung im Juli 2020(19) zur Eindämmung der Ausbreitung von Covid‑19 umgesetzt wurden. Erstens betrifft sie bestimmte Reisebeschränkungen, und zwar zum einen ein Verbot „nicht unbedingt notwendiger“ Reisen, mit dem Reisenden die Ausreise aus dem belgischen Hoheitsgebiet in Länder mit mutmaßlich hohem Infektionsrisiko sowie – abgesehen von belgischen Staatsangehörigen und Gebietsansässigen – die Einreise aus diesen Ländern in das belgische Hoheitsgebiet untersagt wurde, und zum anderen Quarantäne- und Screeningtesterfordernisse für diese Staatsangehörigen und Gebietsansässigen(20) bei ihrer Rückkehr aus den betreffenden Ländern. Zweitens betrifft sie die Durchführung von Kontrollen zur Durchsetzung dieser Reisebeschränkungen bei Personen, die die belgischen Grenzen überschritten oder zu überschreiten versuchten.
27. Solche Maßnahmen unterliegen nach dem Unionsrecht verschiedenen Regeln. Zum einen fallen Reisebeschränkungen, soweit sie gegenüber Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten(21) für geplante Reisen innerhalb der Europäischen Union gelten, in den Anwendungsbereich verschiedener Bestimmungen des Primär- und Sekundärrechts der Union, die diesen Staatsangehörigen ein Recht auf Freizügigkeit garantieren. Dies steht im Mittelpunkt der ersten Vorlagefrage. Zum anderen werden Grenzkontrollen von den vorgenannten Bestimmungen nicht erfasst(22). Vielmehr richtet sich bei den Mitgliedstaaten, für die wie im Fall von Belgien der Schengen-Besitzstand gilt(23), die Rechtmäßigkeit solcher Kontrollen nach den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex. Dies steht im Mittelpunkt der zweiten Frage des nationalen Gerichts.
28. Beide Fragen werde ich in den folgenden Abschnitten nacheinander erörtern.
A. Vereinbarkeit der streitigen Reisebeschränkungen mit den Vorschriften über die Freizügigkeit (erste Frage)
29. Für die Zwecke der Würdigung der streitigen Reisebeschränkungen halte ich es im Licht der Debatte vor dem Gerichtshof für sinnvoll, mich mit einer Reihe von Aspekten zu befassen, und zwar den einschlägigen Vorschriften über die Freizügigkeit (1), ihrem räumlichen Anwendungsbereich (2), inwieweit die Beschränkungen die Ausübung der durch sie garantierten Rechte behinderten (3), ob die Mitgliedstaaten unter den gegebenen Umständen in „außergewöhnlichem“ Maß vom Unionsrecht abweichen durften (4) und schließlich, ob die Beschränkungen angesichts dieser Vorschriften rechtmäßig waren (5).
1. Einschlägige Vorschriften über die Freizügigkeit
30. Reisebeschränkungen wie die von Belgien erlassenen sind Maßnahmen mit allgemeiner Geltung, die viele Menschen betrafen. Die betroffenen Personen hatten vermutlich einen unterschiedlichen rechtlichen Status, etwa als Staatsangehörige der Mitgliedstaaten oder Drittstaatsangehörige mit Aufenthaltsrecht in Belgien. Sie wollten vermutlich an verschiedene Orte – in einem anderen Mitgliedstaat der Union oder in einem Drittland – reisen oder von dort einreisen, und zwar zu verschiedenen Zwecken (Arbeit, Familie, Freizeit usw.). Je nach diesen Variablen könnten dieselben Reisebeschränkungen im Licht verschiedener Bestimmungen des nationalen Rechts, des Unionsrechts oder des Völkerrechts über den grenzüberschreitenden Personenverkehr zu beurteilen sein.
31. Im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist es jedoch nicht Sache des Gerichtshofs, die Rechtmäßigkeit solcher Maßnahmen umfassend zu prüfen. Vielmehr besteht seine Aufgabe darin, eine Auslegung des Unionsrechts vorzunehmen, die für das vorlegende Gericht bei der Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit im Licht des Sachverhalts, mit dem es befasst ist, nützlich ist.
32. Die vorliegende Rechtssache ist insoweit etwas ungewöhnlich. Die Rechtmäßigkeit der betreffenden Reisebeschränkungen wird nämlich nicht von einem Einzelnen in Frage gestellt, der daran gehindert wurde, an einen bestimmten Zielort zu reisen oder von dort zurückzukehren. Vielmehr handelt es sich um eine zivilrechtliche Haftungsklage eines Unternehmens, das als belgischer Reiseveranstalter Reisen insbesondere nach Schweden organisiert und von diesen Beschränkungen mittelbar betroffen war. Nordic Info beruft sich mithin im Verfahren vor dem nationalen Gericht nicht auf ihre eigene Freiheit zur Erbringung grenzüberschreitender touristischer Dienstleistungen, die durch verschiedene Bestimmungen des Unionsrechts geschützt wird(24). Sie beruft sich vielmehr auf das Recht auf Freizügigkeit, das ihre tatsächlichen und potenziellen Kunden – die mutmaßlich Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sind – nach dem Unionsrecht genießen. Daher sollte sich der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache im Wesentlichen auf die Prüfung der dieses Recht betreffenden Vorschriften beschränken.
33. Nach Art. 20 Abs. 1 AEUV haben die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten den Status von Unionsbürgern. Dieser Status verschafft ihnen nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. a und Art. 21 Abs. 1 AEUV sowie Art. 45 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)(25) u. a. das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten unabhängig vom Zweck der Reise frei zu bewegen, was den Tourismus einschließt. Dieses Recht ist unter den Bedingungen auszuüben, die in den zu seiner Durchführung erlassenen sekundärrechtlichen Rechtsakten(26), insbesondere in der Unionsbürgerrichtlinie, festgelegt sind(27).
34. Das den Unionsbürgern garantierte Recht auf Freizügigkeit hat zwei Komponenten. Es umfasst erstens ein Recht auf Ausreise, das in Art. 4 der Unionsbürgerrichtlinie zum Ausdruck kommt. Dabei handelt es sich um das Recht aller Unionsbürger, das Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats, einschließlich ihres eigenen(28), zu verlassen, um in einen anderen Mitgliedstaat zu reisen(29), allein unter der Voraussetzung, dass sie im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sind, und, wie gesagt, unabhängig vom Grund der Ausreise(30). Der Fall, dass belgische Staatsangehörige und andere Unionsbürger das belgische Hoheitsgebiet für eine Urlaubsreise nach Schweden verlassen wollen, ist daher von diesem Recht umfasst(31).
35. Das Recht auf Freizügigkeit umfasst zweitens ein Recht auf Einreise, dessen rechtlicher Rahmen allerdings etwas komplizierter ist. Zum einen gewährt Art. 5 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Wesentlichen das Recht, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen, allein unter der Voraussetzung, dass sie im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sind, und wiederum unabhängig vom Grund der Einreise. Zum anderen regelt diese Bestimmung nicht die Einreise von Unionsbürgern in ihren eigenen Mitgliedstaat(32). Das Recht einer Person, in das Hoheitsgebiet des Staates einzureisen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, ergibt sich jedoch aus einem gefestigten Grundsatz des Völkerrechts, der u. a. in Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK bekräftigt wurde(33). Zweitens gilt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs Art. 21 Abs. 1 AEUV für den konkreten Fall eines Unionsbürgers, der in seinen eigenen Mitgliedstaat zurückkehrt, nachdem er das Recht auf Freizügigkeit durch eine Auslandsreise ausgeübt hat(34). Alles in allem hatten belgische Staatsangehörige und andere Unionsbürger im vorliegenden Fall ein Recht auf Einreise in das belgische Hoheitsgebiet, etwa nach einer Urlaubsreise nach Schweden, wenn auch auf verschiedenen Rechtsgrundlagen.
2. Anwendbarkeit dieser Vorschriften auf den Personenverkehr zwischen Belgien und Island oder Norwegen
36. An dieser Stelle der vorliegenden Schlussanträge möchte ich eine Frage ansprechen, die zwar nebensächlich ist, aber erheblichen Raum in der Debatte vor dem Gerichtshof eingenommen hat. Konkret ist dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen, dass Nordic Info regelmäßig Reisen nicht nur nach Schweden, sondern auch nach Island und Norwegen organisiert. Diese Länder gehören zwar nicht zur Europäischen Union, wohl aber zum Schengen-Raum(35). Daher galten die streitigen Reisebeschränkungen für sie in gleicher Weise wie für die Mitgliedstaaten(36). Das nationale Gericht weist in diesem Kontext darauf hin, dass sich der von Nordic Info geltend gemachte Ersatzanspruch zwar auf den Schaden konzentriere, der ihr im Zusammenhang mit der Stornierung von Reisen nach Schweden entstanden sei, dass sie aber „keinerlei Schadensersatzansprüche ausschließt“. Es meint damit offenbar, dass die Klägerin zu einem späteren Zeitpunkt des Ausgangsverfahrens ihre Forderung dergestalt ändern oder zumindest spezifizieren könnte, dass sie auf die mögliche Stornierung von Reisen nach Island und/oder Norwegen erstreckt wird. Deshalb nahm das vorlegende Gericht in seiner ersten Frage auf Unionsbürger Bezug, die von Belgien in bestimmte „Länder der Europäischen Union und des Schengen-Raums“ reisen wollen (und umgekehrt).
37. Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung die Streithelferinnen dazu befragt, ob und wenn ja inwieweit die in der Unionsbürgerrichtlinie enthaltenen Vorschriften über die Freizügigkeit im Verhältnis zu Island und Norwegen Anwendung finden.
38. Ich bin wie die belgische und die rumänische Regierung nicht davon überzeugt, dass der Gerichtshof diese Frage in seinem anstehenden Urteil in der vorliegenden Rechtssache behandeln sollte. Abgesehen davon, dass das nationale Gericht insoweit nicht um eine Klärung ersucht – da es offenbar überzeugt ist, wie die Antwort lautet(37) – ist unklar, ob eine solche Ex-officio-Klärung für dieses Gericht bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen wäre. Der Gerichtshof würde nämlich im Wesentlichen eine gutachterliche Stellungnahme zu einem Problem abgeben, das in diesem Stadium des Ausgangsverfahrens rein hypothetisch ist(38), um der Möglichkeit Rechnung zu tragen, dass es später relevant werden könnte, falls Nordic Info ihren Antrag ändert oder spezifiziert. Der Gerichtshof lehnt einen solchen spekulativen Ansatz im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens normalerweise zu Recht ab(39).
39. Für den Fall, dass der Gerichtshof dennoch beschließen sollte, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, möchte ich hilfsweise folgende Bemerkungen machen.
40. Allgemein betrachtet betreffen, wie bereits erwähnt, die Regeln des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit und die zu ihrer Durchführung erlassenen sekundärrechtlichen Rechtsakte den Fall, dass Unionsbürger zwischen den Mitgliedstaaten reisen, und nicht den Personenverkehr zwischen einem Mitgliedstaat wie Belgien und einem Drittstaat wie Island oder Norwegen. Dass Letztere zum Schengen-Raum gehören, ist insoweit unerheblich, da diese Regeln nicht Teil des Schengen-Besitzstands sind.
41. Island und Norwegen sind jedoch auch Vertragsparteien des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum(40) (im Folgenden: EWR-Abkommen), ebenso wie alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die Union selbst. Dieses Abkommen enthält in seinen Anhängen(41) seit dem Inkrafttreten des Beschlusses des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 158/2007 vom 7. Dezember 2007(42) (im Folgenden: Beschluss des Gemeinsamen Ausschusses) zwei ausdrückliche Verweise auf die Unionsbürgerrichtlinie. Durch diese Verweise ist die Richtlinie, mit geringfügigen Anpassungen(43), Bestandteil des EWR-Rechts geworden und demnach für die Vertragsparteien dieses Abkommens verbindlich(44).
42. Da die betreffenden Anhänge jedoch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und das Niederlassungsrecht zum Gegenstand haben und da es dort jeweils heißt, dass die Unionsbürgerrichtlinie „entsprechend für die unter [den betreffenden] Anhang fallenden Bereiche [gilt]“, bleibt zu klären, ob die Richtlinie nur teilweise Bestandteil des EWR-Abkommens geworden ist, und zwar nur in Bezug auf die Freizügigkeit von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Union und der EFTA-Staaten innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu den speziellen Zwecken der unselbständigen bzw. selbständigen Erwerbstätigkeit, oder vollständig, so dass sie die Freizügigkeit zu jedwedem Zweck regelt, wie es in der Europäischen Union der Fall ist(45). Insoweit ist vor dem Gerichtshof insbesondere erörtert worden, ob „wirtschaftlich nicht aktive“ Personen – d. h. Personen wie Studierende, Rentner usw., die weder nicht selbständig noch selbständig erwerbstätig sind – innerhalb des EWR in den Genuss des durch die Richtlinie garantierten Rechts auf Freizügigkeit kommen.
43. Das EWR-Abkommen enthält zwar, ebenso wie der AEU-Vertrag, Bestimmungen, die die Freizügigkeit zu wirtschaftlichen Zwecken gewährleisten(46), aber keine mit den Art. 20 und 21 AEUV vergleichbaren Bestimmungen, die den Personenverkehr solcher wirtschaftlich nicht aktiver Bürger innerhalb der Europäischen Union regeln. Das gesamte Konzept der „Unionsbürgerschaft“ hat in diesem Abkommen nämlich keine Entsprechung(47).
44. Während der Gerichtshof über diese Frage noch nicht entschieden hat(48), hat der EFTA-Gerichtshof dies bereits getan. In seinem Urteil Gunnarsson(49) hat der EFTA-Gerichtshof entschieden, dass die Unionsbürgerrichtlinie auf den Personenverkehr wirtschaftlich nicht aktiver Personen innerhalb des EWR anwendbar ist, obwohl das EWR-Abkommen keine den Art. 20 und 21 AEUV entsprechende Bestimmung enthält. Er führte hierzu im Wesentlichen aus, dass das Recht auf Freizügigkeit für wirtschaftlich nicht aktive Personen bereits vor der Einführung des Konzepts der „Unionsbürgerschaft“ im Unions- und EWR-Recht garantiert war und dass diese Bestimmung in verschiedenen Richtlinien(50) von Anfang an Bestandteil des EWR-Abkommens waren. Durch die Unionsbürgerrichtlinie wurden die genannten Richtlinien aufgehoben und ersetzt; diese Entwicklung wurde durch den Beschluss des Gemeinsamen Ausschusses in das EWR-Recht übertragen. Auch wenn die Freizügigkeit „wirtschaftlich nicht aktiver“ Personen im Unionsrecht nunmehr mit dem Konzept der „Unionsbürgerschaft“ verknüpft ist, das im EWR-Recht keine Entsprechung hat, führt dies nicht dazu, dass Einzelnen „Rechte entzogen werden, die sie [nach diesem Abkommen vor Einführung dieses Konzepts] bereits erworben hatten“ und die in dieser Richtlinie „fortbestehen“(51).
45. Es liegt auf der Hand, dass der Gerichtshof an die Entscheidungen des EFTA-Gerichtshofs nicht gebunden ist. Gleichwohl muss er diese Entscheidungen meines Erachtens aufgrund des allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatzes der Einhaltung vertraglicher Pflichten (pacta sunt servanda)(52), der „privilegierten Beziehungen zwischen der Europäischen Union, ihren Mitgliedstaaten und den EFTA-Staaten“(53) und der Notwendigkeit, so weit wie möglich die einheitliche Anwendung des EWR-Abkommens durch alle Vertragsparteien zu gewährleisten, bei dessen Auslegung berücksichtigen(54). Ich würde sogar sagen, dass der Gerichtshof ihnen folgen sollte, es sei denn, dass zwingende Gründe dem entgegenstehen.
46. Dieser Vorbehalt kommt hier meines Erachtens nicht zum Tragen. Denn die Erwägungen des EFTA-Gerichtshofs in seinem Urteil Gunnarsson sind überzeugend. Der Umstand, dass es im EWR-Recht keine „EWR-Bürgerschaft“ gibt, rechtfertigt es nicht, den sachlichen Anwendungsbereich einer Richtlinie, die als solche Bestandteil des EWR-Abkommens geworden ist, einzuschränken. Schließlich beziehen sich einige Bestimmungen der Unionsbürgerrichtlinie speziell auf wirtschaftlich nicht aktive Personen(55). Hätten diese Personen nach dem Willen des Gemeinsamen Ausschusses im EWR-Recht vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen werden sollen, hätte er ohne Weiteres einen ausdrücklichen Vorbehalt in Bezug auf diese Bestimmungen vorsehen können. Einen solchen Vorbehalt enthält der Beschluss des Gemeinsamen Ausschusses jedoch nicht. Demnach gelten nur Rechte, die in der Richtlinie selbst keine Rechtsgrundlage haben und sich allein aus den Art. 20 und 21 AEUV ergeben, im EWR nicht, da es an einer entsprechenden Bestimmung im EWR-Abkommen fehlt(56).
47. Im Ergebnis regeln die Vorschriften der Unionsbürgerrichtlinie meines Erachtens auch den Personenverkehr von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Union und der EFTA-Staaten innerhalb des EWR, unabhängig von seinem Zweck. Demnach haben diese Personen unter den in der Richtlinie genannten Voraussetzungen das Recht, sich u. a. zwischen Belgien und Island oder Norwegen frei zu bewegen, auch im Rahmen des Tourismus(57).
3. Behinderung der Ausübung des mit diesen Vorschriften garantierten Rechts auf Freizügigkeit durch die streitigen Reisebeschränkungen
48. Es ist unstreitig, dass Reisebeschränkungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit durch Unionsbürger behinderten.
49. Erstens wurde durch das Verbot „nicht unbedingt notwendiger“ Reisen, soweit es Unionsbürger betraf, die das belgische Hoheitsgebiet verlassen wollten, um in andere, nach der fraglichen Farbkodierung mit „rot“ gekennzeichnete Mitgliedstaaten zu reisen, das u. a. in Art. 4 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie garantierte Recht auf Ausreise drastisch eingeschränkt. Dies gilt ungeachtet dessen, dass es für Reisen in einige Mitgliedstaaten (und zwar in die mit „grün“ oder „orange“ gekennzeichneten) hingegen keine Beschränkungen gab. Meines Erachtens reicht es aus, dass diese Personen nicht frei in den Staat ihrer Wahl reisen konnten(58). Hinsichtlich der „roten“ Mitgliedstaaten wurden die Möglichkeiten der Unionsbürger, das Recht auf Ausreise auszuüben, erheblich behindert. Dieses Recht wurde nämlich für zahlreiche Reisegründe, darunter den Tourismus, verwehrt. Ferner wurde durch das streitige Reiseverbot, soweit es Unionsbürger – mit Ausnahme belgischer Staatsangehöriger(59) und Staatsangehöriger anderer Mitgliedstaaten mit Aufenthalt in Belgien(60) – betraf, die aus einem „roten“ Mitgliedstaat in das belgische Hoheitsgebiet einreisen wollten, das u. a. in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie garantierte Recht auf Einreise aus ähnlichen Gründen ebenso schwerwiegend eingeschränkt.
50. Zweitens wurde durch die Quarantäne- und Screeningtesterfordernisse, soweit sie für Unionsbürger mit Aufenthalt in Belgien, die keine belgischen Staatsangehörigen waren, bei ihrer Rückkehr von einer „nicht unbedingt notwendigen“ Reise in einen „roten“ Mitgliedstaat galten, das Recht auf Einreise nach Art. 5 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie ebenfalls eingeschränkt. Insbesondere wurde durch die Quarantänepflicht die Möglichkeit, sich im belgischen Hoheitsgebiet frei zu bewegen, drastisch eingeschränkt; dies kam meines Erachtens in seiner Wirkung einer Verzögerung der Einreise gleich. Soweit diese Erfordernisse unter denselben Umständen für belgische Staatsangehörige galten, fielen sie zwar nicht unter den in Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK(61) bekräftigten Grundsatz, schränkten aber meines Erachtens aus ähnlichen Gründen das in Art. 21 AEUV garantierte Recht auf Freizügigkeit ein.
4. Vorliegen einer „außergewöhnlichen“ Möglichkeit zur Abweichung vom Unionsrecht nach Art. 347 AEUV?
51. Angesichts einiger von den Streithelferinnen dem Gerichtshof unterbreiteter Argumente möchte ich an dieser Stelle der vorliegenden Schlussanträge auf einen wichtigen Gesichtspunkt eingehen, der die Möglichkeit der Mitgliedstaaten betrifft, während der Covid‑19-Pandemie vom Unionsrecht abzuweichen.
52. Die Streithelferinnen haben geltend gemacht, diese Pandemie habe zumindest in den ersten Monaten eine „Krise“ dargestellt, die ein dringendes Eingreifen der Behörden erfordert habe. Hierzu ist meines Erachtens festzustellen, dass mehrere Mitgliedstaaten zu bestimmten Zeitpunkten während der Pandemie den „Notstand“ ausgerufen haben, was zur Folge hatte, dass in ihrem Hoheitsgebiet vorübergehend geltendes Recht ausgesetzt oder von ihm abgewichen wurde, um dringliche Maßnahmen umzusetzen, die als notwendig zur Bewältigung der „Krise“ erachtet wurden. Viele dieser Maßnahmen, insbesondere die allgemeinen Lockdowns, ähnelten solchen, die in Kriegszeiten gelten.
53. Dies wirft die Frage auf, ob für die Beurteilung der streitigen Maßnahmen anstelle der „gewöhnlichen“ Unionsvorschriften und der „gewöhnlichen“ Ausnahmen von ihnen ein „außergewöhnlicher“ rechtlicher Rahmen herangezogen werden sollte. Meines Erachtens ist insoweit daran zu erinnern, dass Art. 347 AEUV eine „Schutzklausel“ enthält, mit der im Wesentlichen anerkannt wird, dass die Mitgliedstaaten u. a. bei „einer schwerwiegenden innerstaatlichen Störung der öffentlichen Ordnung“ die von ihnen für erforderlich gehaltenen Maßnahmen ergreifen dürfen(62). Diese Bestimmung, die vom Gerichtshof noch nie ausgelegt worden ist, könnte theoretisch eine generelle Abweichung von allen Bestimmungen des AEU-Vertrags und denen, die auf seiner Grundlage erlassen wurden, einschließlich der verschiedenen Bestimmungen über die Freizügigkeit erlauben(63). Es liegt auf der Hand, dass die Fragen, ob und wenn ja inwieweit angenommen werden kann, dass die Covid‑19-Pandemie eine solche „schwerwiegende innerstaatliche Störung“ in den Mitgliedstaaten verursacht hat(64), und welche weiteren potenziellen Voraussetzungen und Einschränkungen mit dieser „Schutzklausel“ verknüpft sind, äußerst heikel sind.
54. Abgesehen davon, dass die belgische Regierung sich weder im Verfahren vor dem Gerichtshof noch an anderer Stelle auf Art. 347 AEUV berufen hat(65), müsste zu dieser Bestimmung jedenfalls nur dann Stellung genommen werden, wenn nationale Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nach den „gewöhnlichen“ Unionsvorschriften und den „gewöhnlichen“ Ausnahmen von ihnen nicht gerechtfertigt werden könnten(66). Wie ich nachfolgend erläutern werde, sind diese Vorschriften jedoch flexibel genug, um den Besonderheiten der fraglichen Situation Rechnung zu tragen.
5. Rechtmäßigkeit der streitigen Reisebeschränkungen im Licht der Ausnahmeklauseln in der Unionsbürgerrichtlinie
55. Das Recht auf Freizügigkeit, das die Unionsbürger genießen, gilt auch im Rahmen des „gewöhnlichen“ Unionsrechts nicht absolut. Beschränkungen sind zulässig(67). Eine Beschränkung ist jedoch nur dann mit dem Unionsrecht vereinbar, wenn sie insbesondere die dort vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt. Soweit die streitigen Reisebeschränkungen unter die Unionsbürgerrichtlinie fallen, sind sie anhand der in ihrem Kapitel VI aufgestellten Voraussetzungen zu beurteilen. Die Fälle, in denen diese Beschränkungen belgische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Belgien betrafen, nachdem sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatten, werden zwar nicht von der Unionsbürgerrichtlinie erfasst, sondern von Art. 21 AEUV; die in der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen für eine Abweichung gelten aber analog(68).
56. Zu Beginn des Kapitels VI der Unionsbürgerrichtlinie wird in ihrem Art. 27 Abs. 1 die Grundregel aufgestellt, dass die Mitgliedstaaten die „Freizügigkeit“ von Unionsbürgern aus Gründen der „öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ beschränken dürfen. Diese Grundregel wird sodann in diesem Kapitel konkretisiert. Insbesondere haben die Mitgliedstaaten nach Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie die Möglichkeit, diese „Freiheit“ aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ zu beschränken. Im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit nationaler Maßnahmen, die aus solchen Gründen getroffen wurden, ist daher eine Gesamtbetrachtung beider Bestimmungen vorzunehmen. Zusammen stellen sie eine Reihe von Voraussetzungen auf, die ich im Folgenden näher erläutern werde und die in jedem Einzelfall eingehalten werden müssen(69).
57. Während sich die belgische Regierung sowohl vor dem vorlegenden Gericht als auch vor dem Gerichtshof auf Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie gestützt hat, trägt Nordic Info vor, diese Bestimmungen könnten Reisebeschränkungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht rechtfertigen, unabhängig davon ob die darin aufgestellten Voraussetzungen erfüllt seien. Es erscheint daher sinnvoll, zunächst abstrakt die Tragweite dieser Bestimmungen zu erörtern (a), bevor eine spezielle Prüfung dieser Maßnahmen im Licht der betreffenden Voraussetzungen vorgenommen wird (b).
a) Tragweite von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie
58. Nach Ansicht von Nordic Info sind Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie generell nicht weit genug gefasst, um Reisebeschränkungen wie die in Rede stehenden – vollständig oder zumindest teilweise – zu erfassen, da nach diesen Bestimmungen nur Beschränkungen des Rechts auf Einreise, nicht aber des Rechts auf Ausreise (1), und jedenfalls nur „individuelle“, nicht aber „allgemeine“, Beschränkungen der Freizügigkeit gestattet seien (2). Auf diese Einwände werde ich in den folgenden Abschnitten nacheinander eingehen.
1) Möglichkeit einer Beschränkung sowohl des Rechts auf Einreise als auch des Rechts auf Ausreise
59. Art. 27 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie ermöglicht den Mitgliedstaaten, die „Freizügigkeit“ aus Gründen der öffentlichen Gesundheit zu beschränken, ohne die Art der Maßnahmen, die von den nationalen Behörden ergriffen werden können, näher zu konkretisieren.
60. Dies deckt erstens mögliche Beschränkungen des Rechts auf Einreise im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie ab. Hierzu gehört zum einen ein mögliches Verbot der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats. Hierfür gelten jedoch Einschränkungen. Ein Mitgliedstaat kann von dieser Bestimmung niemals Gebrauch machen, um seinen eigenen Staatsangehörigen die Einreise in sein Hoheitsgebiet zu verweigern, und zwar aus dem einfachen Grund, dass i) die Richtlinie in diesem Fall nicht anwendbar ist und ii) der in Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK bekräftigte Grundsatz dem entgegensteht(70). Außerdem folgt aus Art. 29 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie, dass ein Mitgliedstaat Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, die Einreise – beispielsweise nach einer Reise nach Schweden – nicht aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ verbieten darf(71). Zum anderen kann ein Mitgliedstaat Unionsbürgern, denen die Einreise in das nationale Hoheitsgebiet nicht untersagt werden darf, grundsätzlich andere Arten von Einreisebeschränkungen auferlegen, die nicht die gleiche Wirkung wie eine Einreiseverweigerung haben. Die Quarantäne- und Testerfordernisse für Personen mit Aufenthalt in Belgien bei ihrer Rückkehr aus „Hochrisikoländern“ würden in diese Kategorie fallen(72).
61. Zweitens können meines Erachtens, entgegen dem Vorbringen von Nordic Info, Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie auch mögliche Beschränkungen des Rechts auf Ausreise im Sinne von Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie, wie etwa ein Ausreiseverbot, abdecken(73). Auch wenn der Titel von Kapitel VI insoweit missverständlich sein mag(74), ist zum einen der in diesem Kapitel verwendete Ausdruck „Freizügigkeit“ eindeutig weit genug, um dieses Recht einzuschließen. Zum anderen folgt daraus, dass Art. 29 Abs. 2 im Wesentlichen eine konkrete Maßnahme, nämlich die Verweigerung der Einreise, betrifft, nicht, dass aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ nur Beschränkungen des Einreiserechts zulässig sind; denn der Sinn dieser Bestimmung besteht nicht darin, alle nach Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 zulässigen Beschränkungen der Freizügigkeit aufzuführen, sondern lediglich darin, die Anwendung dieser Maßnahme zu regeln. Eine solche Auslegung steht zudem im Einklang mit dem Ziel, das mit der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Ausnahme aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ verfolgt wird, nämlich, wie sich aus dem Wortlaut der letztgenannten Bestimmung ergibt, einem Mitgliedstaat zu ermöglichen, sein Hoheitsgebiet und seine Bevölkerung vor der Ausbreitung bestimmter infektiöser oder ansteckender Krankheiten zu schützen. Zwar hatten die Verfasser von Art. 29 Abs. 1 (wahrscheinlich) das Beispiel eines Mitgliedstaats vor Augen, der Reisende, die solche Krankheiten übertragen könnten, daran hindert, in sein Hoheitsgebiet einzureisen und die Krankheit „einzuschleppen“. Allerdings kann der Schutz des Hoheitsgebiets eines Staates in bestimmten Fällen auch eine Beschränkung der Ausreise gebietsansässiger Personen rechtfertigen, um zu verhindern, dass sie solche Krankheiten bei ihrer Rückkehr „mitbringen“(75). Schließlich spricht für diese Auslegung auch die Entstehungsgeschichte(76) der Unionsbürgerrichtlinie(77).
2) Möglichkeit einer Beschränkung der Freizügigkeit durch allgemeine Maßnahmen
62. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahmen hatten allgemeine Geltung. Denn das Reiseverbot sowie die Quarantäne- und Testerfordernisse galten systematisch für abstrakte und weit gefasste Kategorien von Personen in objektiv definierten Fällen, und zwar für Personen, die zu einem „nicht unbedingt notwendigen“ Zweck in einen „Hochrisikomitgliedstaat“ der Union ein- oder aus ihm ausreisen, für Personen, die in einen nicht zum Schengen-Raum gehörenden Drittstaat ein- oder aus ihm ausreisen, usw.
63. Nordic Info ist jedoch der Ansicht, dass nur individuelle Maßnahmen zur Beschränkung des Rechts auf Freizügigkeit auf der Grundlage von Art. 27 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie gerechtfertigt werden könnten. Derartige Maßnahmen könnten nur dann im Einzelfall ergriffen werden, wenn eine individuelle Beurteilung der Situation einer bestimmten Person ergebe, dass sie eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstelle, weil sie Symptome einer der in dieser Bestimmung erwähnten Krankheiten habe oder mit ihr in Kontakt gewesen sei, so dass eine tatsächliche Gefahr bestehe, dass sie infiziert sei und diese Krankheit verbreiten werde.
64. Wie die belgische, die rumänische und die norwegische Regierung sowie die Kommission bin ich der Ansicht, dass allgemeine Beschränkungen der Freizügigkeit nach Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ erlassen werden können, ohne dass eine solche Einzelfallprüfung erforderlich ist(78).
65. Erstens beziehen sich diese Bestimmungen auf „Beschränkungen“ durch die Mitgliedstaaten bzw. auf „die Freizügigkeit beschränkende Maßnahme[n]“, die sie aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ erlassen können. Diese weit gefassten Formulierungen können sowohl Einzelmaßnahmen als auch allgemeine Maßnahmen umfassen.
66. Zweitens spricht für diese Auslegung die allgemeine Systematik des Kapitels VI der Unionsbürgerrichtlinie. Während nämlich nach Art. 27 Abs. 2 bei Maßnahmen aus Gründen der „öffentlichen Ordnung“ oder der „öffentlichen Sicherheit“ „ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein [darf]“ und „[v]om Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen … nicht zulässig [sind]“, enthält Art. 29 für Maßnahmen aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ kein solches Erfordernis(79).
67. Zwar kann dieser Unterschied im Wortlaut für sich genommen nicht entscheidend sein. Die Unionsbürgerrichtlinie ist nicht frei von Unstimmigkeiten(80). In der Vergangenheit hat der Gerichtshof die Notwendigkeit einer individuellen Prüfung zu Recht auf andere Bestimmungen der Unionsbürgerrichtlinie erstreckt, in denen sie nicht ausdrücklich erwähnt wird. Dies gilt insbesondere für sein Urteil McCarthy u. a.(81) zu Maßnahmen aus Gründen eines Rechtsmissbrauchs nach Art. 35 dieser Richtlinie.
68. Der Gerichtshof sollte jedoch Zurückhaltung üben, diesem Ansatz auch bei Maßnahmen aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ nach Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 dieser Richtlinie zu folgen. Ich pflichte nämlich der belgischen, der rumänischen und der norwegischen Regierung sowie der Kommission bei, dass es drittens logisch ist, den Mitgliedstaaten, wenn es um Gefahren für die „öffentliche Gesundheit“ geht, einen größeren Entscheidungsspielraum einzuräumen als bei Gefahren für die „öffentliche Ordnung“ oder die „öffentliche Sicherheit“ und missbräuchlichem Verhalten, weil dies schlicht verschiedene Dinge sind.
69. Zum einen ergeben sich Gefahren für die „öffentliche Ordnung“ oder die „öffentliche Sicherheit“ regelmäßig aus dem Verhalten ganz bestimmter Personen, etwa Terroristen oder gefährliche Straftäter. Daher sollten Behörden, insbesondere angesichts der Bedeutung des Rechts der Unionsbürger auf Freizügigkeit, grundsätzlich nicht die Möglichkeit haben, aus Gründen der Vorbeugung pauschale Maßnahmen wie ein Einreiseverbot für alle aus bestimmten Ländern einreisenden Personen zu ergreifen, weil einige von ihnen gefährlich sein könnten. Dies würde nicht nur über das insoweit Erforderliche hinausgehen, sondern meines Erachtens sollten Behörden in einer demokratischen Gesellschaft, abgesehen von ganz außergewöhnlichen Umständen, nicht allein deshalb davon ausgehen dürfen, dass Einzelne gefährlich sind, weil sie zu einer derart großen und abstrakten Personengruppe gehören(82). In dieser Hinsicht sind Erwägungen zur Würde des Einzelnen relevant. Ein solcher Ansatz würde nämlich in vielen Fällen auf Vorurteilen beruhen(83). Die gleichen Grundgedanken gelten für die Verhinderung von Missbrauch des Rechts auf Freizügigkeit. Auch wenn die Mitgliedstaaten mit vielen Fällen einer missbräuchlichen Einreise von Drittstaatsangehörigen, die sich als Familienangehörige von Unionsbürgern ausgeben, konfrontiert sind, können sie nicht vorbeugend pauschale Maßnahmen ergreifen, die all diesen Familienangehörigen das ihnen u. a. aufgrund der Unionsbürgerrichtlinie zustehende Recht entziehen(84).
70. Zum anderen steht die nach Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie maßgebende Gefahr für die „öffentliche Gesundheit“, d. h. die Gefahr der Ausbreitung bestimmter „Krankheiten mit epidemischem Potenzial“ oder „sonstiger übertragbarer, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachter Krankheiten“ im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats in der Regel nicht mit dem Verhalten ganz bestimmter Personen im Zusammenhang. Die epidemiologische Lage in einem bestimmten Land kann insoweit ein relevanter Gesichtspunkt sein(85). Unter gewissen Umständen kann je nach dem Grad der Infektiosität ein großer Teil oder sogar die gesamte Bevölkerung infiziert werden. In diesem Kontext wären individuelle Maßnahmen, die dort, wo Reisende in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ein- bzw. aus ihm ausreisen, aufgrund erkennbarer Symptome der betreffenden Krankheit oder einer bestätigten Exposition ergriffen würden, nicht immer hinreichend wirksam, um ihre Ausbreitung zu verhindern oder einzudämmen(86). Vorbeugende allgemeine Beschränkungen der Freizügigkeit, beispielsweise bei allen Personen, die aus bestimmten „Hochrisikoländern“ oder ‑regionen kommen, können insoweit erforderlich sein. Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie sollten entsprechend ausgelegt werden. Auch wenn sie als Ausnahmeklauseln eng auszulegen sind(87), muss diese Auslegung gleichwohl sicherstellen, dass sie ihren Zweck erfüllen(88). Überdies wird nach Art. 168 Abs. 1 AEUV „[b]ei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und ‑maßnahmen … ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt“; hierzu gehört die Freizügigkeit, der so großes Gewicht zukommt, dass sie in Art. 35 Satz 2 der Charta bekräftigt worden ist. Die Bekämpfung von Epidemien ist inhärenter Bestandteil dieses Ziels(89).
71. Zum Schluss dieses Abschnitts ist ein letztes Gegenargument zu erörtern. Die Art. 30 und 31 der Unionsbürgerrichtlinie enthalten Garantien für Unionsbürger, die von Maßnahmen betroffen sind, mit denen die ihnen aus der Richtlinie zustehenden Rechte beschränkt werden. Nach Art. 30 Abs. 1 und 2 müssen die nationalen Behörden dem „Betroffenen“ „Entscheidungen nach Artikel 27 Absatz 1“ und „die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der ihn betreffenden Entscheidung zugrunde liegen“, mitteilen. Nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie müssen sie ferner gewährleisten, dass „die Betroffenen“ „[g]egen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit … einen Rechtsbehelf … einlegen können“.
72. In diesem Kontext trägt Nordic Info vor, aus dem Umstand, dass in diesen Bestimmungen durchgängig von „Entscheidungen“ die Rede sei, die sich an bestimmte „Betroffene“ richteten, folge zwangsläufig, dass auf der Grundlage von Art. 27 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie auch aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ nur individuelle Maßnahmen getroffen werden könnten. Da die fraglichen Garantien, wie der Gerichtshof es ausgedrückt hat, „dem Betroffenen erlauben [sollen], Umstände und Erwägungen in Bezug auf seine individuelle Situation geltend zu machen“(90), ließe sich auch vertreten, dass diese Garantien ausgehöhlt würden, wenn den Mitgliedstaaten gestattet würde, auf der Grundlage dieser Bestimmung Maßnahmen mit allgemeiner Geltung zu erlassen.
73. Meines Erachtens ist dies nicht der Fall. Erstens sollen die Art. 30 und 31 der Unionsbürgerrichtlinie, wie die Kommission darlegt, nicht definieren, welche Art von Maßnahmen nach ihrem Art. 27 Abs. 1 erlassen werden können, sondern nur bestimmte Garantien für den Fall des Erlasses solcher Maßnahmen vorsehen. Dass in den Art. 30 und 31 der Begriff „Entscheidung“ und nicht die weiter gefassten Begriffe „Beschränkungen“ oder „Maßnahmen“ verwendet werden, liegt nur daran, dass, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, im Rahmen dieser Richtlinie häufig individuelle Maßnahmen erforderlich sind und dass der Unionsgesetzgeber bei der Ausarbeitung dieser Bestimmungen eindeutig solche Maßnahmen im Blick hatte. Im Allgemeinen werden die Begriffe „Maßnahmen“ und „Entscheidungen“ in der Unionsbürgerrichtlinie offenbar austauschbar und nicht immer kohärent verwendet(91), so dass aus der Verwendung des einen oder des anderen Begriffs in einer Bestimmung keine Rückschlüsse gezogen werden können. Zweitens wurden diese Bestimmungen zwar nicht im Hinblick auf allgemeine Maßnahmen ausgearbeitet, doch bedeutet dies nicht, dass sie durch die Möglichkeit, solche Maßnahmen aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ zu erlassen, jede Wirksamkeit verlören. Die Unionsbürger sollten aber in gewissem Umfang die Möglichkeit haben, „Umstände und Erwägungen in Bezug auf [ihre] individuelle Situation geltend zu machen“. Auf diesen Aspekt werde ich unten in den Nrn. 115 bis 119 zurückkommen.
b) Sind die in Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie aufgestellten Voraussetzungen unter den in Rede stehenden Umständen erfüllt?
74. Ich habe in den vorangegangenen Abschnitten dargelegt, warum nationale Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen grundsätzlich nach Art. 27 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie gerechtfertigt sein können.
75. Um in vollem Umfang mit diesen Bestimmungen vereinbar zu sein, müssen solche Maßnahmen jedoch alle dort genannten Voraussetzungen erfüllen. Im Einzelnen müssen sie als Reaktion auf eine ernste, tatsächliche und relevante Gefahr für die „öffentliche Gesundheit“ (1) umgesetzt worden sein und mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit (2), der Gleichbehandlung (3) und der Verhältnismäßigkeit (4) im Einklang stehen. Es ist Sache des betreffenden Mitgliedstaats, nachzuweisen, dass dies der Fall ist. Ferner wird letztlich das vorlegende Gericht, das allein für die Würdigung des Sachverhalts zuständig ist, darüber zu entscheiden haben, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind. Der Gerichtshof kann jedoch, auf der Grundlage der ihm vorliegenden Informationen, Hinweise dazu geben. Zu diesem Zweck werde ich diese Voraussetzungen in den folgenden Abschnitten nacheinander prüfen.
1) Vorliegen einer ernsten, tatsächlichen und relevanten Gefahr für die „öffentliche Gesundheit“
76. Wie oben dargelegt, wird die Heranziehung der in Art. 27 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie vorgesehenen Rechtfertigung aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ in Art. 29 näher geregelt. Er enthält eine genaue Definition der relevanten Umstände, unter denen solche Gründe mit Erfolg geltend gemacht werden können(92). Nach Art. 29 Abs. 1 können nur bestimmte Krankheiten die Umsetzung von Maßnahmen rechtfertigen, mit denen die Freizügigkeit beschränkt wird. Dazu gehören „Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der [WHO]“, d. h. der Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005) (im Folgenden: IGV)(93).
77. Cóvid‑19 gehört eindeutig zu dieser Kategorie. Der Generaldirektor der WHO hat am 30. Januar 2020(94) festgestellt, dass der Ausbruch dieser Krankheit eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ im Sinne der IGV darstellt(95). Überdies wurde Covid‑19 am 11. März 2020 angesichts der exponentiellen Zunahme gemeldeter Fälle und betroffener Länder von der WHO als Pandemie eingestuft(96).
78. Die Tatsache, dass angesichts einer solchen Krankheit bestimmte Maßnahmen ergriffen wurden, reicht jedoch nicht aus, um sie als nach Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie gerechtfertigt anzusehen. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen die Behörden, wenn sie sich zur Rechtfertigung einer Beschränkung des Rechts der Unionsbürger auf Freizügigkeit auf Gründe der „öffentlichen Gesundheit“ berufen, hinreichend dartun, dass die fraglichen Maßnahmen zum wirksamen Schutz der in diesen Bestimmungen genannten Interessen erforderlich sind(97). Zwar ergibt sich schon aus dem Sinn und Zweck von Art. 29 Abs. 1, dass die dort genannten Krankheiten im Allgemeinen als ernste Gefahr für die „öffentliche Gesundheit“ anzusehen sind, doch können den Unionsbürgern nicht systematisch Präventivmaßnahmen gegen solche Krankheiten auferlegt werden(98); unter den gegebenen Umständen muss eine tatsächliche und nicht lediglich hypothetische Gefahr vorliegen. Die Behörden müssen demnach mittels einer Risikobewertung auf der Grundlage der zuverlässigsten zur maßgebenden Zeit zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Daten und der aktuellsten internationalen Forschungsergebnisse die Wahrscheinlichkeit des Eintretens der betreffenden Gefahr sowie gegebenenfalls die Schwere der Auswirkungen auf die „öffentliche Gesundheit“ nachweisen(99).
79. Wie die dem Verfahren als Streithelferinnen beigetretenen Regierungen und die Kommission vortragen, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs allerdings auch, dass ein Mitgliedstaat, wenn nach einer solchen Risikobewertung das Bestehen oder der Umfang der behaupteten Gefahr für die „öffentliche Gesundheit“ nach wie vor unsicher ist, die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Schädigung dieses Interesses, falls sich die Gefahr verwirklicht, aber fortbesteht, nach dem Vorsorgeprinzip Maßnahmen treffen darf, ohne abwarten zu müssen, bis das Vorliegen und die Schwere dieser Gefahr klar erkennbar werden(100). Auch wenn es gewisse Anhaltspunkte für die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen geben muss, sind die Beweisanforderungen unter diesen Umständen niedrig, was es den nationalen Behörden erlaubt, mit der gebotenen Eile zu handeln. Ein Gericht, das solche Maßnahmen zu beurteilen hat, sollte sich daher meines Erachtens auf die Prüfung beschränken, ob die von den Behörden vorgenommene Bewertung des Vorliegens einer tatsächlichen und ernsten Gefahr für die „öffentliche Gesundheit“ auf vernünftigen Gründen beruht.
80. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass dies bei Covid‑19 auf dem Höhepunkt der „ersten Welle“ der Pandemie in der Europäischen Union der Fall war. Der exponentielle Anstieg der Fallzahlen machte den Ausbruch dieser Krankheit zum damaligen Zeitpunkt zu einer „Gesundheitskrise“. Ungeachtet der wissenschaftlichen Unsicherheit in Bezug auf den Ursprung, die Übertragbarkeit, die Infektionsdynamiken und die Auswirkungen des (damals) neuartigen Coronavirus hatten die Behörden mehr als genug vernünftige Gründe für die Annahme, dass die Pandemie eine tatsächliche und ernste Gefahr für die Sicherheit der Gesundheitsversorgung – angesichts dessen, dass die nationalen Gesundheitssysteme Mühe hatten, die Zahl der Personen, die in Krankenhäuser eingeliefert werden mussten, zu bewältigen – sowie für das Leben und die körperliche Unversehrtheit ihrer Bevölkerung darstellte. Überdies lässt sich kaum bestreiten, dass die Pandemie zum damaligen Zeitpunkt „ganz erhebliche Folgen nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für die soziale Ordnung, die Wirtschaft, das Funktionieren des Staates und das Leben im Allgemeinen haben konnte“(101).
81. Dementsprechend konnten die Behörden bei vernünftiger Betrachtung zweifellos die Ansicht vertreten, dass die Eindämmung der Ausbreitung von Covid‑19 zu einer Notwendigkeit geworden war, um ihre Gesundheitssysteme zu schützen und die Folgen des Virus für die gesamte soziale Ordnung zu mildern, und dass sie zu diesem Zweck u. a. eine Reihe „nicht-pharmazeutischer Interventionen“, einschließlich Reisebeschränkungen, umsetzen mussten, in dem Bestreben, die Ausbreitung(102) der Krankheit in der Bevölkerung zu verlangsamen(103).
82. Die im Ausgangsverfahren zentrale Frage ist jedoch, ob dies in Belgien noch der Fall war, als die angefochtenen, Nordic Info beschwerenden Maßnahmen erlassen und umgesetzt wurden, d. h. etwa Anfang Juli 2020. Die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen muss nämlich anhand ihres aktuellen Kontexts beurteilt werden(104).
83. Seinerzeit war die „erste Welle“ abgeklungen. Die epidemiologische Gesamtlage in der Europäischen Union zeigte bereits ab Mai Anzeichen der Besserung, was Anlass zu „vorsichtigem Optimismus“ gab(105), so dass die Kommission die Mitgliedstaaten aufforderte, eine schrittweise Lockerung und schließlich eine Aufhebung der Reisebeschränkungen in Betracht zu ziehen, die Anfang März zwischen ihnen verhängt worden waren(106). Diese Verbesserung bestätigte sich im Juni. Daher hoben mehrere Mitgliedstaaten die Beschränkungen am 15. Juni auf, und die Kommission forderte die übrigen Mitgliedstaaten auf, dies ebenfalls zu tun. Am 30. Juni wurde auch die vorübergehende Beschränkung für nicht unbedingt notwendige Reisen in die Union gelockert(107).
84. Die belgische Regierung macht jedoch geltend, dass die epidemiologische Lage in der Europäischen Union sich Anfang Juli zwar insgesamt verbessert habe, die Pandemie aber weder beendet noch vollständig unter Kontrolle gewesen sei. Die Situation sei nämlich von Land zu Land sehr unterschiedlich gewesen. Während sie sich in Belgien stabilisiert habe, zeigten objektive Daten(108) einen erheblichen Anstieg der Infektionen in anderen Mitgliedstaaten, u. a. in Schweden. In Anbetracht der hohen Infektiosität des Virus(109) seien die belgischen Behörden der Ansicht gewesen, dass die Gefahr eines heftigen Wiederaufflammens der Pandemie in Belgien – einer (damals) potenziellen „zweiten Welle“ – tatsächlich bestehe, insbesondere wenn die Eindämmungsmaßnahmen – angesichts des Beginns der Sommerferien – zu früh aufgehoben würden. Sie hätten daher beschlossen, einige Maßnahmen, darunter die streitigen Reisebeschränkungen, unter Anpassung an das Risiko beizubehalten.
85. Meines Erachtens erscheint die von den belgischen Behörden zur maßgebenden Zeit vorgenommene Bewertung des Risikos für die „öffentliche Gesundheit“ im Licht des Vorsorgeprinzips vernünftig(110). Die angefochtenen Maßnahmen erschienen daher nach Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie gerechtfertigt. Dass es seinerzeit noch keine zugelassenen und/oder wirksamen Behandlungen oder Impfstoffe gab, um die möglichen Auswirkungen des Virus auf die Bevölkerung zu mildern, spricht ebenfalls dafür, dass die Bewertung vernünftig war. Wie die Kommission vorbringt, wäre das Ausmaß der Gefahr jedoch auch von der mutmaßlichen Befähigung u. a. des belgischen Gesundheitssystems zur Bewältigung eines potenziellen neuen Anstiegs der Infektionen im Inland abhängig gewesen; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts(111).
86. Dagegen ist die Tatsache, dass andere Mitgliedstaaten etwa zur gleichen Zeit einige oder alle der von ihnen zur Eindämmung der Übertragung des Virus getroffenen Maßnahmen aufhoben, insoweit nicht ausschlaggebend. Da erstens die Gesundheit und das Leben des Menschen unter den durch den AEU-Vertrag geschützten Interessen an erster Stelle stehen(112), zweitens die Zuständigkeit für diesen Bereich weithin bei den Mitgliedstaaten liegt(113) und drittens bei jedem Tätigwerden der Union die jeweilige „Verantwortung“ der Mitgliedstaaten gewahrt werden muss(114), hat der Gerichtshof nämlich wiederholt festgestellt, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, insbesondere zu bestimmen, „auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen“, und dass ihnen deshalb in diesem Bereich ein „Wertungsspielraum“ zuzuerkennen ist(115). Auch wenn einige Mitgliedstaaten das mit Covid‑19 verbundene Risiko offensichtlich für akzeptabel hielten, wird dadurch mithin nicht in Frage gestellt, dass die belgischen Behörden die Notwendigkeit vorbeugender Maßnahmen in Belgien vernünftig bewertet haben(116).
2) Die streitigen Reisebeschränkungen waren transparent
87. Auch wenn die belgischen Behörden auf den ersten Blick berechtigte Gründe hatten, zur maßgebenden Zeit vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, setzte die Vereinbarkeit dieser Maßnahmen mit Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie voraus, dass sie auch transparent waren, d. h. mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Einklang standen. Dieser Grundsatz gebietet insbesondere, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie, wie hier, nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben – klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen voraussehbar sein müssen(117).
88. Meines Erachtens waren die streitigen Maßnahmen hinreichend klar und präzise formuliert, um den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, ihr Verhalten darauf einzustellen. Erstens waren die Maßnahmen – das Reiseverbot sowie die Quarantäne- und Testvorschriften – klar definiert. Zweitens war die Liste der „Hochrisiko-“/„roten“ Länder, für die sie galten, auf einer eigens eingerichteten Website abrufbar und somit leicht zugänglich. Drittens stützten diese Maßnahmen sich zwar auf ein Konzept – und zwar das der „nicht unbedingt notwendigen“ Reisen –, dessen Offenheit für Personen, die von und nach Belgien reisen wollten, eine gewisse Unsicherheit schuf. Nach den Angaben der belgischen Regierung wurde dieses Konzept in den einschlägigen Regelungen zwar nicht konkretisiert, doch sei online eine Liste mit Beispielen für „unbedingt notwendige“ Reisen verfügbar gewesen, die der für die vorübergehende Beschränkung nicht unbedingt notwendiger Reisen in die Europäische Union aufgestellten Liste entsprochen habe(118). Dies erleichterte es den Betroffenen zweifellos, sich ein Bild davon zu machen, ob die von ihnen beabsichtigte Reise als „unbedingt notwendig“ angesehen werden konnte. Während jedoch nach dieser Liste manche – beispielsweise touristische – Reisen eindeutig verboten waren, waren einige Einträge auf der Liste, etwa „Reisen aus zwingenden familiären Gründen“, ebenfalls offen formuliert. Insoweit waren die nationalen Behörden meines Erachtens nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit verpflichtet, einen Mechanismus zu schaffen, der es der Bevölkerung ermöglichte, sich im Voraus in geeigneter Weise zu informieren, ob ein bestimmter Reisegrund, beispielsweise familiäre Gründe, als „unbedingt notwendig“ anzusehen war, damit sie nicht bei der Abreise oder der Ankunft mit einer unerwarteten Weigerung konfrontiert wurden. Dazu hat die belgische Regierung erläutert, sie habe online einen Fragenkatalog zu diesem Thema bereitgestellt. Jede von der Bevölkerung häufiger gestellte Frage sei dort von den Behörden beantwortet worden. Damit dürfte das von mir soeben aufgestellte Erfordernis erfüllt sein.
3) Die streitigen Reisebeschränkungen wurden in nicht diskriminierender Weise angewendet
89. Die Vereinbarkeit mit Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie setzt ferner voraus, dass die angefochtenen Maßnahmen in nicht diskriminierender Weise angewandt wurden(119).
90. Dieser Gesichtspunkt kann kurz abgehandelt werden, da dies offenbar eindeutig der Fall war. Erstens galt das Verbot der Ausreise aus dem belgischen Hoheitsgebiet in „Hochrisiko-“/„rote“ Länder unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Reisenden. Zweitens galt das Verbot der Einreise zwar nicht für belgische Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten mit Aufenthalt in Belgien, sondern nur für alle übrigen Unionsbürger. Diese unterschiedliche Behandlung ist jedoch gerechtfertigt, weil sich die beiden Personengruppen nicht in einer vergleichbaren Situation befanden(120). Drittens galten für Personen mit Aufenthalt in Belgien bei ihrer Rückkehr aus diesen Ländern unabhängig von der Staatsangehörigkeit Quarantäne- und Testvorschriften.
4) Verhältnismäßigkeit der streitigen Reisebeschränkungen
91. Die Vereinbarkeit mit Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie setzt zudem voraus, dass die angefochtenen Maßnahmen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar waren(121). Wie in den folgenden Abschnitten im Einzelnen darzulegen sein wird, umfasst die Beurteilung dieses Erfordernisses eine Prüfung von drei kumulativen Kriterien, und zwar, ob die Maßnahmen „geeignet“ (i), „erforderlich“ (ii) und „im engeren Sinne verhältnismäßig“ (iii) waren.
92. Bevor auf die einzelnen Kriterien eingegangen wird, sind jedoch einige Klarstellungen zu dem Prüfungsmaßstab erforderlich, der in der vorliegenden Rechtssache für diesen Grundsatz gilt. Wie die norwegische Regierung vorbringt, ist in Fragen der öffentlichen Gesundheit insoweit gewisse Zurückhaltung geboten. Der Gerichtshof hat nämlich wiederholt festgestellt, dass es den Mitgliedstaaten im Rahmen des „Wertungsspielraums“, über den sie in diesem Bereich verfügen, obliegt, nicht nur zu klären, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung in ihrem Hoheitsgebiet gewährleisten wollen, sondern auch „wie dieses Niveau erreicht werden soll“(122). Überdies ist der Wertungsspielraum dann besonders groß, wenn die Behörden, wie im Ausgangsverfahren, auf eine durch ein neues Virus ausgelöste Pandemie reagieren wollen, sofern dies zu einem relativ frühen, durch Unsicherheit gekennzeichneten Zeitpunkt geschieht und sofern die Zeit oder das Wissen zur Abwägung der geeignetsten Maßnahmen begrenzt ist. In einer solchen Situation folgt aus dem Vorsorgeprinzip, dass die Behörden über einen erheblichen Handlungsspielraum verfügen müssen(123).
93. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Behörden für ihre Reaktion auf die Covid‑19-Pandemie einen Freibrief hätten, so dass eine gerichtliche Überprüfung ihrer Handlungen ausgeschlossen wäre. Die gerichtliche Überprüfung ist vielmehr umso notwendiger, da die zur Bekämpfung der Ausbreitung dieser Krankheit eingeführten Maßnahmen wegen der Dringlichkeit der Lage häufig allein von den Regierungen erlassen wurden, ohne das übliche demokratische Beschlussverfahren und insbesondere ohne vorherige parlamentarische Kontrolle.
94. Um den weiten Wertungsspielraum mit der notwendigen Einhaltung rechtlicher Standards in Einklang zu bringen, sollte die gerichtliche Überprüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im vorliegenden Fall meines Erachtens wiederum darauf beschränkt bleiben, ob die Behörden bei vernünftiger Betrachtung davon ausgehen konnten, dass die angefochtenen Maßnahmen geeignet und erforderlich waren, um die oben erörterte Gefahr für die „öffentliche Gesundheit“ zu bewältigen, und ob sie im engeren Sinne verhältnismäßig waren(124).
95. Ferner ist vorab klarzustellen, dass von den Unionsorganen etwa zur maßgebenden Zeit(125) im Einklang mit der begrenzten Zuständigkeit der Europäischen Union im Bereich der öffentlichen Gesundheit(126) eine Reihe von Mitteilungen, Empfehlungen und Leitlinien angenommen wurden, um ein gewisses Maß an Koordinierung zwischen den verschiedenen, von den Mitgliedstaaten als Reaktion auf die Pandemie erlassenen Maßnahmen zu fördern(127). Auch wenn diese Soft-Law‑Instrumente für die Mitgliedstaaten naturgemäß nicht verbindlich waren, mussten sie sie nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dennoch gebührend berücksichtigen. Die darin festgelegten empfohlenen Grundsätze und Normen sind somit relevante Gesichtspunkte im Kontext des vorliegenden Falls.
i) Die streitigen Reisebeschränkungen erschienen geeignet
96. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs umfasst das Erfordernis, wonach jede die Freizügigkeit beschränkende Maßnahme „geeignet“ sein muss, zwei kumulative Kriterien: Die in Rede stehende Maßnahme muss erstens geeignet sein, zur Erreichung des verfolgten Ziels beizutragen, und zweitens „tatsächlich dem Anliegen gerecht [werden], es zu erreichen, und … in kohärenter und systematischer Weise durchgeführt [werden]“(128).
– Die Reisebeschränkungen erschienen geeignet, zum verfolgten Ziel beizutragen
97. Um dem ersten Teil des Erfordernisses der „Geeignetheit“ zu genügen, musste die belgische Regierung den Nachweis erbringen, dass Reisebeschränkungen wie die in Rede stehenden dazu beitragen konnten, die Gefahr eines erneuten Anstiegs von Covid‑19-Fällen im belgischen Hoheitsgebiet abzuwenden. Dies muss durch wissenschaftliche Erkenntnisse untermauert werden. Auch dabei sind indes nach dem Vorsorgeprinzip die Beweisanforderungen niedrig. Denn zur maßgebenden Zeit schien die von der Pandemie ausgehende Gefahr zwar tatsächlich und ernst zu sein, doch bestand ein erhebliches Maß an Unsicherheit hinsichtlich der zu ihrer Bewältigung verfügbaren Lösungen.
98. Insoweit hat die belgische Regierung vorgetragen, zur maßgebenden Zeit habe zwar nicht mit Sicherheit festgestellt werden können, dass diese Maßnahmen präventive Wirkung haben würden, aber auf der Grundlage der damals verfügbaren wissenschaftlichen Informationen habe man bei vernünftiger Betrachtung noch davon ausgehen können. Insbesondere habe unter den nationalen medizinischen Sachverständigen und Beratern der Regierung „breiter Konsens“ darüber bestanden, dass der internationale Personenverkehr erheblich zur Ausbreitung von Covid‑19 beitrage. Seine Beschränkung sei daher als geeignete Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie erschienen.
99. Ich stimme der belgischen Regierung zu, dass die belgischen Behörden bei vernünftiger Betrachtung davon ausgehen konnten, dass Reisebeschränkungen zur Erreichung des verfolgten Ziels der „öffentlichen Gesundheit“ beitragen dürften. Insoweit besteht jedoch weiterer Klärungsbedarf, da dieser Beitrag nicht so offenkundig ist, wie die dem Rechtsstreit beigetretenen Regierungen und die Kommission gegenüber dem Gerichtshof geltend gemacht haben.
100. Zur wissenschaftlichen Grundlage solcher Maßnahmen ist nämlich festzustellen, dass vor Covid‑19 allgemein davon ausgegangen wurde, dass Reisebeschränkungen bei der Eindämmung von Ausbrüchen epidemischer Krankheiten nicht effektiv seien(129). Dementsprechend wurde die Umsetzung solcher Beschränkungen von der WHO in den ersten Wochen der Pandemie weder China noch anderen Ländern empfohlen(130). Wie wir wissen, haben sich die meisten Länder jedoch insoweit über die Empfehlung der WHO hinweggesetzt(131). Von den Unionsorganen selbst wurden die von den Mitgliedstaaten innerhalb der Europäischen Union eingeführten Reisebeschränkungen gebilligt und die Umsetzung der koordinierten vorübergehenden Beschränkung nicht unbedingt notwendiger Reisen in die Europäische Union empfohlen, da sie der Ansicht waren, dass der große Zustrom von Personen, die aus von dem Virus betroffenen Ländern einreisten, die „Einschleppung“ einer erheblichen Zahl „fremder“ Covid‑19-Fälle in die Einreiseländer zur Folge hatte, die zu lokalen Ausbrüchen führen konnte und tatsächlich führte(132). Insoweit legten verschiedene wissenschaftliche Arbeiten, die im Frühjahr 2020 veröffentlicht wurden, nahe, dass die Reisebeschränkungen tatsächlich dazu beitrugen, den Erstkontakt mit der Krankheit und ihren Ausbruch in den betreffenden Ländern zu begrenzen oder zumindest zu verzögern(133). Die WHO selbst schwächte letztlich ihre Haltung ab und vertrat die Ansicht, dass diese Maßnahmen insoweit gewissen Wert hätten(134).
101. Zu beachten ist jedoch, dass Covid‑19 zur maßgebenden Zeit bereits im belgischen Hoheitsgebiet ausgebrochen war. Man könnte sich durchaus fragen, welchen Sinn es hat, den internationalen Reiseverkehr zu beschränken, nachdem sich das Virus bereits in der lokalen Bevölkerung ausgebreitet hatte. Wie die belgische Regierung vorbringt, konnte bei vernünftiger Betrachtung – auch wenn die damals verfügbaren relevanten Erkenntnisse begrenzt und nicht eindeutig waren(135) – gleichwohl davon ausgegangen werden, dass in einem Kontext, in dem sich erstens die epidemiologische Lage in den Mitgliedstaaten erheblich unterschied, wobei in einigen Ländern eine hohe Übertragungsrate des Virus zu verzeichnen, während die Situation im belgischen Hoheitsgebiet vergleichsweise problemlos war(136), und in dem zweitens angesichts des nahenden Sommers mit einem großen, tourismusbedingten Zu- und Rückstrom von Reisenden aus Ländern mit höherer Inzidenz zu rechnen war, die Aufrechterhaltung einiger Reisebeschränkungen zwischen Belgien und diesen Ländern sinnvoll war. Sie konnte – in begrenztem, aber beachtlichem Umfang(137) – dazu beitragen, der Gefahr eines neuen Aufflammens von Covid‑19-Fällen im belgischen Hoheitsgebiet entgegenzuwirken. Sie konnte nämlich eine erhebliche Einschleppung „fremder“ Covid‑19-Fälle verhindern, durch die wiederum das fragile lokale Gleichgewicht gestört werden konnte. Von der WHO selbst wurde im Übrigen in diesem Kontext die Möglichkeit der Umsetzung oder Aufrechterhaltung solcher Beschränkungen als eine zur Begrenzung der Übertragung innerhalb der Bevölkerung geeignete Maßnahme angesehen(138).
102. Sobald – bei vernünftiger Betrachtung – erwiesen zu sein scheint, dass die Beschränkung des internationalen Personenverkehrs dazu beitragen konnte, die Ausbreitung von Covid‑19 einzudämmen, kann kaum bezweifelt werden, dass das streitige Verbot „nicht unbedingt notwendiger“ Reisen, wie die als Streithelferinnen beigetretenen Regierungen dem Gerichtshof vortragen, geeignet war, um diesen Verkehr zwischen Belgien und den betreffenden „Hochrisikoländern“ zu begrenzen. Durch das „Einreiseverbot“ wurde die Gefahr abgewendet, dass Reisende die Krankheit aus diesen Gebieten „einschleppen“. Durch das „Ausreiseverbot“ wurde verhindert, dass Personen mit Aufenthalt in Belgien in diese Gebiete reisten, mit dem gleichen Ergebnis bei ihrer Rückkehr. Außerdem ermöglichten, wie die belgische Regierung vorbringt, die Quarantäne- und Screeningtesterfordernisse für Personen mit Aufenthalt in Belgien es den Behörden, den Gesundheitszustand dieser Personen genau zu verfolgen; dies war geeignet, im Fall eines Verdachts der Einschleppung zur Feststellung und Isolierung beizutragen und damit die Gefahr einer Übertragung auf die lokale Bevölkerung zu begrenzen(139).
– Die streitigen Reisebeschränkungen erschienen kohärent
103. Ob die streitigen Reisebeschränkungen „tatsächlich“ dem Anliegen „gerecht [wurden]“, das verfolgte Ziel der „öffentlichen Gesundheit“ zu erreichen, hängt davon ab, ob diese Maßnahmen Teil einer umfassenderen Strategie zur Eindämmung der Ausbreitung von Covid‑19 waren(140). Dies war offenbar der Fall. Die belgische Regierung hat vorgetragen, dass zur maßgebenden Zeit weitere „nicht-pharmazeutische Interventionen“ – wie Hygienemaßnahmen, Tests, Isolation und Kontaktverfolgung – vorgenommen worden seien, um eine Übertragung innerhalb der Bevölkerung zu verhindern. Außerdem gebietet es die Kohärenz meines Erachtens, dass ein Mitgliedstaat dann, wenn er, wie Belgien zur damaligen Zeit, Reisen aus und in andere Mitgliedstaaten wegen ihrer vergleichsweise schlechteren epidemiologischen Lage beschränkt, ähnliche Beschränkungen auch für den Reiseverkehr aus und nach Gebieten innerhalb des nationalen Hoheitsgebiets mit einer ebenso ernsten epidemiologischen Lage verhängt(141). Den Akten ist nicht zu entnehmen, ob dies damals in Belgien der Fall war. Das sollte das vorlegende Gericht prüfen.
104. Zu der Frage, ob die streitigen Maßnahmen in kohärenter und systematischer Weise umgesetzt wurden, ist darauf hinzuweisen, dass ihre Anwendung von der epidemiologischen Lage in den betreffenden Ländern abhing, was eindeutig mit dem verfolgten Ziel der öffentlichen Gesundheit kohärent ist. Überdies wurden alle Länder mit ähnlicher epidemiologischer Lage insoweit gleichbehandelt. Zudem erfolgte die Bewertung dieser Lage in jedem Land auf der Grundlage hinreichend zuverlässiger und aktueller, vom ECDC bereitgestellter Daten(142), was zweifelsohne zur Kohärenz des Gesamtsystems beitrug.
105. Die Tatsache, dass die streitigen Beschränkungen nicht für Reisen aus „unbedingt notwendigen“ Gründen galten, stellt ihre Kohärenz meines Erachtens nicht in Frage. Nur eine begrenzte Zahl von Reisegründen wurde als „unbedingt notwendig“ anerkannt. Die Tragweite dieser Ausnahme war demnach nicht geeignet, die Erreichung des verfolgten Ziels der öffentlichen Gesundheit zu vereiteln(143). Sie war vielmehr im Licht dieses Ziels erforderlich. Eine teilweise Verhinderung „unbedingt notwendiger“ Reisen, insbesondere der von „essentiellen“ Beschäftigten wie Fachpersonal im Gesundheitswesen, hätte sich nachteilig auf die Bekämpfung von Covid‑19 ausgewirkt. Schließlich war diese Ausnahme, wie ich später näher erläutern werde, erforderlich, um die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne dieser Maßnahmen zu gewährleisten(144). Außerdem zielten die fraglichen Maßnahmen, wie schon erwähnt, auf den potenziellen Zustrom von Reisenden aus touristischen Gründen ab, der von der Ausnahme nicht erfasst wurde.
ii) Die streitigen Reisebeschränkungen erschienen erforderlich
106. Das Erfordernis, wonach jede die Freizügigkeit beschränkende Maßnahme „erforderlich“ sein muss, umfasst ebenfalls zwei Voraussetzungen. Zu prüfen ist erstens, ob es alternative Maßnahmen gibt, die zur Erreichung des verfolgten Ziels genauso wirksam wie die gewählte Maßnahme, aber weniger belastend sind(145), und zweitens, ob diese Maßnahme „unbedingt erforderlich“ ist, d. h. nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Ziels notwendig ist(146).
– Gab es weniger belastende, aber ebenso wirksame Alternativen?
107. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es Sache jedes Mitgliedstaats ist, sowohl zu bestimmen, auf welchem Niveau er den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung in seinem Hoheitsgebiet gewährleisten will, als auch, wie dieser Schutz gewährt werden soll – solange die unionsrechtlichen Anforderungen erfüllt sind. Dass andere Mitgliedstaaten möglicherweise weniger strenge Maßnahmen verhängt haben, ist daher nicht maßgebend(147). Je höher das angestrebte Niveau des Schutzes der öffentlichen Gesundheit ist, desto strenger müssen natürlich die Maßnahmen zu seiner Erreichung sein. Vorliegend strebte Belgien eindeutig ein hohes Schutzniveau an.
108. Was das Bestehen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ebenso wirksamer, zugleich aber die Freizügigkeit weniger belastender Alternativen zu den streitigen Reisebeschränkungen angeht, gehen die den nationalen Behörden insoweit auferlegten Beweisanforderungen nicht so weit, dass sie belegen müssten, dass keine andere Maßnahme eine solche mögliche Alternative darstellen könnte(148). In der vorliegenden Rechtssache ist es daher nicht erforderlich, jede denkbare Maßnahme zu prüfen. Es genügt eine Prüfung der naheliegendsten vor dem Gerichtshof erörterten Alternativen.
109. Zum einen wäre es natürlich weniger belastend gewesen, nur bestimmten Reisenden individuell die Einreise zu verweigern oder Quarantänemaßnahmen aufzuerlegen, beispielsweise solchen mit Krankheitssymptomen. Dies wäre jedoch nicht ebenso wirksam gewesen, um die Gefahr der „Einschleppung“ von Covid‑19-Fällen auf dem von den belgischen Behörden angestrebten Niveau abzuwenden. Selbst wenn ein Screening aller Reisenden auf Symptome am Ort ihres Grenzübertritts bei der Einreise in das belgische Hoheitsgebiet durchführbar gewesen wäre, hätte bei vernünftiger Betrachtung ein solches Screening nur die Identifizierung einiger erkrankter Personen ermöglicht, während ein Teil von ihnen – und zwar asymptomatisch und präsymptomatisch erkrankte Personen – den Filter unentdeckt passiert hätten(149). Auch ein allgemeines Screening von Reisenden durch Schnelltests wäre mit ähnlichen Unzulänglichkeiten verbunden gewesen(150).
110. Zum anderen wäre auch die schlichte Verhängung einer Quarantäne für alle aus „Hochrisikoländern“ einreisenden oder zurückkehrenden Reisenden zur Erreichung des von der belgischen Regierung angestrebten Schutzniveaus nicht ebenso wirksam gewesen wie ein Verbot von Reisen in diese Länder und aus ihnen nebst Quarantänevorschriften, die nur für Gebietsansässige galten. Eine Quarantäne von Reisenden für einen angemessenen Zeitraum trägt sicher in gewissem Maß zur Minderung der oben erörterten Gefahr bei(151). Theoretisch wird dadurch gewährleistet, dass jeder, einschließlich asymptomatisch erkrankter Personen und Personen, die sich in der präsymptomatischen Inkubationsphase befinden, vom Rest der lokalen Bevölkerung isoliert wird und somit keine Infektionsketten auslöst. Wie die belgische und die norwegische Regierung vortragen, wendet ein Reiseverbot jedoch das Risiko des Einschleppens „fremder“ Covid‑19-Fälle in das Inland ab, wohingegen eine Quarantäne lediglich eine korrigierende Maßnahme ist, die greift, nachdem solche Fälle bereits eingeschleppt wurden, und die, je nach ihrer Ausgestaltung, bei der Minderung der Gefahr einer weiteren Übertragung auf die lokale Bevölkerung nur teilweise wirksam ist. Auch die Anordnung einer häuslichen Quarantäne, wie es hier offenbar der Fall war, weist solche Unzulänglichkeiten auf. Abgesehen davon, dass manche Personen der Quarantänepflicht möglicherweise nicht vollständig nachkommen, leben sie häufig mit Familienmitgliedern zusammen, die sich ihrerseits infizieren und die Krankheit weiterverbreiten könnten(152).
– Unbedingte Erforderlichkeit der streitigen Reisebeschränkungen
111. Zu der Frage, ob die streitigen Reisebeschränkungen nicht über das hinausgingen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels der „öffentlichen Gesundheit“ notwendig war, ist daran zu erinnern, dass diese Maßnahmen nur für Länder galten, von denen angenommen wurde, dass von ihnen ein im Vergleich hohes Ansteckungsrisiko ausging. Im Übrigen wurden die Beschränkungen offenbar – was allerdings vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist – jedes Mal, wenn Daten über die Infektionsrate innerhalb eines bestimmten Landes auf der regionalen Ebene verfügbar waren, gezielter nur auf den Reiseverkehr zwischen Belgien und problematischen Regionen angewendet(153).
112. Es mag zwar besser zugeschnittene Maßnahmen gegeben haben, die eine noch gezieltere Vorgehensweise hätten ermöglichen können. Die Beurteilung der epidemiologischen Lage in einem bestimmten Land hätte feiner abgestimmt werden können. Gesichtspunkte wie Testraten, Struktur der Bevölkerung usw. hätten eine genauere Bewertung ermöglichen können(154). Damit wäre die Durchführung der Bewertung jedoch offensichtlich komplexer geworden, während der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung war. Wie die belgische und die norwegische Regierung vorbringen, sind die nationalen Behörden nach dem Unionsrecht befugt, einfach anzuwendende und durchsetzbare Regeln zu erlassen, auch wenn sie möglicherweise nicht in jedem Einzelfall zu einer perfekten Lösung führen(155).
113. Ferner genügen Maßnahmen, die das Recht auf Freizügigkeit beschränken, dem in diesem Abschnitt behandelten Erfordernis nur dann, wenn sie mit bestimmten Garantien einhergehen, die zu gewährleisten vermögen, dass sich der Eingriff in dieses Recht tatsächlich auf das absolut Notwendige beschränkt(156).
114. Im vorliegenden Fall bestand eine erste, vor einem solchen nicht notwendigen Eingriff schützende Garantie meines Erachtens in der regelmäßigen Neubewertung der streitigen Reisebeschränkungen(157). Wie die als Streithelferinnen beigetretenen Regierungen und die Kommission hervorheben, wurde die epidemiologische Lage in jedem Land oder jeder Region regelmäßig überprüft, um sicherzustellen, dass diese Beschränkungen für ein bestimmtes Gebiet galten, solange die Lage problematisch war. Die Daten zu nationalen oder regionalen Infektionsraten wurden offenbar wöchentlich aktualisiert(158), so dass die Behörden die Farbkodierung der Länder dynamisch anpassen konnten(159). Was die allgemeine Notwendigkeit dieser Maßnahmen angeht, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die betreffenden Erlasse eine „Verfallklausel“ enthielten, nach der sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ausliefen, oder ob die belgischen Behörden zumindest die Entwicklung der sie rechtfertigenden Gefahr fortlaufend verfolgten.
115. Zweitens sollte das vorlegende Gericht auch prüfen, ob die in den Art. 30 und 31 der Unionsbürgerrichtlinie vorgesehenen Verfahrensgarantien gegeben waren. Auch wenn diese Bestimmungen, wie oben in Nr. 73 dargelegt, nicht im Hinblick auf allgemeine Maßnahmen der in Rede stehenden Art ausgearbeitet wurden, waren die Garantien gleichwohl anwendbar. Mit ihnen sollten nämlich im Fall von Beschränkungen der Freizügigkeit „ein hoher Schutz der Rechte des Unionsbürgers … gewährleistet“ und „der Grundsatz eingehalten [werden], dass behördliche Handlungen ausreichend begründet sein müssen“(160). Die fraglichen Garantien stellen überdies eine Konkretisierung des in Art. 47 der Charta garantierten Grundsatzes eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes dar – was erst recht dafür spricht, dass sie einen weiten Anwendungsbereich haben sollten. Dennoch pflichte ich der belgischen Regierung und der Kommission bei, dass in der vorliegenden Rechtssache einige Anpassungen erforderlich sind.
116. Was zum einen die in Art. 30 Abs. 1 und 2 der Unionsbürgerrichtlinie vorgesehenen Verpflichtungen angeht, dass dem „Betroffenen“ die die Freizügigkeit beschränkende „Entscheidung“ „schriftlich … mitgeteilt“ werden muss und ihm die Gründe für den Erlass dieser „Entscheidung“ mitzuteilen sind, liegt auf der Hand, dass die streitigen Reisebeschränkungen nicht in dieser Weise mitgeteilt werden konnten und dass dies nicht individuell bei allen von ihnen erfassten Personen geschehen konnte. Gleichwohl musste der Schutz, den die Garantien bieten, in geeigneter Weise gewährleistet werden. Ich stimme dem Vorbringen der belgischen Regierung in der mündlichen Verhandlung zu, dass diesem Erfordernis dadurch genügt wurde, dass die Informationen über den Erlass dieser Beschränkungen und die Gründe der „öffentlichen Gesundheit“, auf die sie sich stützten, der Öffentlichkeit in verschiedenen Formen über Massenmedien häufig bekannt gegeben worden waren(161).
117. Zum anderen ist die Verpflichtung aus Art. 31 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie, wonach Unionsbürger die Möglichkeit haben müssen, gegen eine ihr Recht auf Freizügigkeit beschränkende „Entscheidung“ einen Rechtsbehelf bei einem Gericht einzulegen, meines Erachtens nicht so zu verstehen, dass Unionsbürger das Recht haben sollten, allgemeine Maßnahmen der in Rede stehenden Art unmittelbar anzufechten, wenn eine solche Möglichkeit nach nationalem Recht nicht bestand. Diese Bestimmung ist meines Erachtens nämlich im Licht von Art. 47 der Charta und den wesentlichen sich daraus ergebenden Erfordernissen zu verstehen(162). Der dort garantierte Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes verlangt als solcher nicht, dass es einen eigenständigen Rechtsbehelf gibt, mit dem die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht in Frage gestellt werden kann, sofern es einen oder mehrere Rechtsbehelfe gibt, mit denen inzident die Wahrung der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden kann(163).
118. Die belgischen Gerichte hätten den gerichtlichen Schutz der Rechte, die den Unionsbürgern aus der Unionsbürgerrichtlinie zustehen, während der Pandemie auf mehreren Wegen sicherstellen können. Erstens wäre jede Maßnahme, beispielsweise der Polizeibehörden, mit denen auf der Grundlage der streitigen Reisebeschränkungen eine bestimmte Person daran gehindert wurde, sich an Bord eines Flugzeugs zu begeben, oder mit denen für den Versuch, dies zu tun, eine Strafe verhängt wurde, für sich genommen als „Entscheidung“ im Sinne von Art. 31 Abs. 1 dieser Richtlinie(164) einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich gewesen. In diesem Kontext hätte der Betroffene die Möglichkeit haben müssen, als Vorfrage die Frage der Vereinbarkeit der allgemeinen Maßnahmen, auf deren Grundlage diese „Entscheidung“ getroffen worden war, mit dem Unionsrecht aufzuwerfen. Zweitens war dies – da Nordic Info einen solchen Anspruch erhoben hat – natürlich auch im Rahmen einer Schadensersatzklage gegen den Staat möglich(165).
119. Im Kontext dieser Rechtsbehelfsverfahren sollte ein Unionsbürger nicht nur die Möglichkeit haben, die allgemeine Vereinbarkeit dieser Maßnahmen mit dem Unionsrecht anzufechten, sondern auch geltend machen können, dass sie ihm gegenüber nicht hätten durchgesetzt werden dürfen. Er sollte beispielsweise vorbringen können, er sei zu Unrecht daran gehindert worden, sich an Bord seines Flugzeugs zu begeben, da er aus einem „unbedingt notwendigen“ Grund gereist sei. Die Gerichte sollten beispielsweise die Möglichkeit haben, zu überprüfen, ob die Behörden zu der Annahme berechtigt waren, dass die fragliche Reise zwar familiäre Gründe hatte, aber nicht in die Kategorie der „zwingenden familiären Gründe“ fiel(166), oder ob spezielle individuelle Umstände, über diese allgemeinen, als „unbedingt notwendig“ anzusehenden Kategorien von Reisen hinaus, eine Ausnahme vom Reiseverbot hätten rechtfertigen müssen(167).
iii) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne der streitigen Reisebeschränkungen
120. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne beinhaltet eine Prüfung der durch eine bestimmte Maßnahme bedingten Nachteile und der Frage, ob sie in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen(168). Dieses Erfordernis ist von den als Streithelferinnen beigetretenen Regierungen und der Kommission bei ihrem Vorbringen weitgehend außer Acht gelassen worden. Ihr Versäumnis mag jedoch verzeihlich sein, denn dieser Schritt der Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt in der „traditionellen“ Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Freizügigkeit im Allgemeinen nicht vor(169). Dagegen ist er in seinen Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit nationaler Maßnahmen, die die Ausübung der durch die Charta garantierten Grundrechte einschränken, nach Art. 52 Abs. 1 der Charta relativ durchgängig enthalten(170). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung an die belgische Regierung und die Kommission die Frage gerichtet, ob vom vorlegenden Gericht denn auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne der streitigen Reisebeschränkungen zu prüfen sei. Das wurde von ihnen bejaht. Ich bin aus folgenden Gründen ebenfalls überzeugt, dass dies der richtige Ansatz ist.
121. Maßnahmen, die die Freizügigkeit beschränken, werfen, allgemein betrachtet, grundrechtsrelevante Fragen auf. Abgesehen davon, dass das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit als solches in der Charta geschützt ist(171), schränken nationale Maßnahmen, die in dieses Recht eingreifen, in der Regel zugleich auch andere in der Charta garantierte Rechte und Freiheiten ein. Das ist hier zweifellos der Fall. Die streitigen Reisebeschränkungen könnten, durch die Behinderung des Verkehrs zwischen den Mitgliedstaaten, je nach den Umständen i) das durch Art. 7 geschützte Recht auf Privat- und Familienleben (soweit das Reiseverbot insbesondere zu einer Trennung von Familien führen konnte)(172), ii) das durch Art. 14 geschützte Recht auf Bildung (soweit sie beispielsweise Studierende daran hindern konnten, Lehrveranstaltungen an einer ausländischen Universität zu besuchen), iii) das durch Art. 15 garantierte Recht zu arbeiten (soweit sie Menschen an der Arbeitssuche im Ausland hindern konnten) und iv) die durch Art. 16 geschützte unternehmerische Freiheit (insbesondere weil sie die Erbringung touristischer Dienstleistungen in Bezug auf die betreffenden „Hochrisikoländer“ praktisch unmöglich machten) eingeschränkt haben.
122. In solchen Situationen müssen die Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Recht auf Freizügigkeit nach Art. 27 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie in einer mit den Anforderungen, die sich aus der Charta ergeben, konformen Weise ausgelegt werden. Diese Bestimmung kann nämlich keine Beschränkungen der Freizügigkeit rechtfertigen, die nach Art. 52 Abs. 1 der Charta unzulässig wären. Daraus folgt meines Erachtens, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der ersten Bestimmung genauso streng sein muss wie nach der zweiten Bestimmung.
123. Zwischen den verschiedenen Schritten der Verhältnismäßigkeitsprüfung besteht nämlich ein erheblicher Unterschied in Bezug auf den Schutz der Grundrechte. Die Erfordernisse der „Geeignetheit“ und „Erforderlichkeit“ beziehen sich ausschließlich auf die Wirksamkeit der in Rede stehenden Maßnahmen im Hinblick auf das verfolgte Ziel. Es handelt sich letztlich lediglich um eine eingeschränkte gerichtliche Überprüfung der Frage, ob die Behörden den Sachverhalt in dieser Hinsicht bei vernünftiger Betrachtung zutreffend beurteilt haben. Außerdem hängt diese Prüfung in hohem Maß von abstrakten Gesichtspunkten wie etwa dem „Niveau des Schutzes“ des betreffenden Interesses ab, das die Behörden erreichen wollten. Wie bereits ausgeführt, werden beschränkende Maßnahmen, selbst besonders drastische, desto eher „erforderlich“ erscheinen, je höher dieses Niveau ist. Allerdings sind einige Maßnahmen, so „erforderlich“ sie für die Wahrung bestimmter Interessen auch sein mögen, für andere Interessen einfach zu belastend, um in einer demokratischen Gesellschaft akzeptabel zu sein. Genau hierin liegt der Sinn und Zweck des Erfordernisses der „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“. Nach diesem Erfordernis werden die Vorteile, die sich aus den streitigen Maßnahmen in Bezug auf das verfolgte Ziel ergeben, gegen die Nachteile abgewogen, die sich aus ihnen in Bezug auf die Grundrechte ergeben(173). Wie Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Tele2 Sverige u. a.(174) ausgeführt hat, ist diese Abwägung „der Ausgangspunkt für eine Debatte über die Werte, die in einer demokratischen Gesellschaft gelten sollen, und letztlich über die Art von Gesellschaft, in der wir leben wollen“. Diese Debatte ist auch bei Maßnahmen im Bereich der „öffentlichen Gesundheit“ erforderlich(175) und, wie ich hinzufügen möchte, ganz besonders bei Maßnahmen, die während der Covid‑19-Pandemie ergriffen wurden, wegen ihrer beispiellosen Auswirkungen auf die gesamte Bevölkerung der Mitgliedstaaten(176).
124. Ich wende mich nun der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne der streitigen Reisebeschränkungen zu; dazu ist festzustellen, dass diese Maßnahmen, wie bereits ausgeführt, zum einen je nach den Umständen verschiedene durch die Charta geschützte Grundrechte und ‑freiheiten einschränkten. Zum anderen erschienen sie geeignet und erforderlich, um ein von der Union anerkanntes, im Allgemeininteresse liegendes Ziel zu verfolgen, und zwar den Schutz der öffentlichen Gesundheit. Außerdem war, wie die belgische und die norwegische Regierung darlegen, die Umsetzung solcher Maßnahmen notwendig, um das „Recht auf Gesundheit“ der nationalen Bevölkerungen zu schützen, das in zahlreichen internationalen Rechtsakten, denen die Mitgliedstaaten als Vertragsstaaten angehören, anerkannt ist und das ihnen positive Verpflichtungen im Hinblick auf geeignete Schritte auferlegt, um insbesondere epidemische Krankheiten einzudämmen(177). In diesem Kontext musste ein „angemessenes Gleichgewicht“ zwischen den verschiedenen Rechten und Interessen gewahrt werden(178).
125. Natürlich war die Wahrung eines solchen Gleichgewichts nicht einfach. Die Pandemie unter Kontrolle zu halten und zugleich die Auswirkungen der Gesundheitsschutzmaßnahmen auf die bürgerlichen Freiheiten zu begrenzen, war zweifellos eine komplexe Aufgabe. Die Behörden mussten viele politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen treffen, und zwar, angesichts der sich rasch entwickelnden Lage, mit der sie konfrontiert waren, recht schnell. Es handelte sich wahrscheinlich sogar um eine der größten Herausforderungen, denen sich Behörden in der jüngeren Geschichte stellen mussten.
126. Die Abwägung der Vor- und Nachteile von Reisebeschränkungen wie den in Rede stehenden war besonders schwierig. Einerseits konnten diese Maßnahmen dazu beitragen, die Ausbreitung von Covid‑19 einzudämmen. Andererseits konnten sie erhebliche soziale und wirtschaftliche Störungen verursachen(179).
127. Erstens hatten Reisebeschränkungen enorme Auswirkungen auf Unternehmen und die damit verbundene, durch Art. 16 der Charta garantierte Freiheit. Insbesondere die Folgen für den Tourismussektor waren beispiellos. Aufgrund dieser Beschränkungen kam die Geschäftstätigkeit u. a. von Reiseveranstaltern wie Nordic Info allgemein zum Erliegen(180). Gleichwohl durften die Behörden im Rahmen der Abwägung konkurrierender Werte meines Erachtens bei vernünftiger Betrachtung zu der Ansicht kommen, dass die öffentliche Gesundheit Vorrang vor solchen wirtschaftlichen Erwägungen haben sollte(181) und/oder dass eine unkontrollierte Pandemie langfristig noch ernstere Folgen für die Wirtschaft haben könnte, wenn nicht vorübergehend Maßnahmen ergriffen würden, um ihre Ausbreitung einzudämmen. Außerdem wurden auf Unionsebene und auf nationaler Ebene weitere Maßnahmen ergriffen, um die Auswirkungen dieser Beschränkungen auf den betreffenden Sektor abzumildern(182).
128. Zweitens führten Reisebeschränkungen zu erheblichen Nachteilen für Einzelpersonen. Diese Nachteile lasten schwer auf dem Herzen des Unionsrechtlers, denn die Maßnahmen trafen das „Lieblingskind“ des Unionsrechts, den mobilen Unionsbürger, am härtesten. Dieser Status und das damit verbundene Recht auf Freizügigkeit wurden als Mittel zur Emanzipation des Einzelnen konzipiert, damit er in der gesamten Europäischen Union studieren, arbeiten, Freunde finden, Familienbande knüpfen kann usw. Damit einher ging ein Lebensstil: Für viele dieser Bürger ist das grenzüberschreitende Reisen ein wesentlicher Bestandteil des Lebens. Plötzlich wurde eben diese von der Europäischen Union geförderte Mobilität als Bedrohung angesehen und entsprechend beschnitten(183).
129. Allgemein betrachtet ist klar, dass Reisebeschränkungen je nach den Umständen unterschiedliche Auswirkungen auf die Unionsbürger haben können. Wird beispielsweise eine Person daran gehindert, nach Hause zurückzukehren und/oder mit ihren Angehörigen in einem anderen Land zusammenzukommen, stellt dies einen stärkeren Eingriff in ihr Grundrecht auf Privatsphäre und Familienleben dar als der bloße Verlust der Möglichkeit, eine touristische Reise nach Schweden zu unternehmen. Deshalb muss die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne solcher Maßnahmen in der Regel in concreto, anhand der individuellen Umstände der Betroffenen, beurteilt werden(184).
130. Ich habe oben in Nr. 70 dargelegt, dass bei Reisebeschränkungen, die als Reaktion auf die von einer epidemischen Krankheit ausgehende Gefahr erlassen werden, eine solche Einzelfallprüfung häufig nicht möglich wäre, ohne die Wirksamkeit dieser Beschränkungen zu beeinträchtigen. Insoweit können allgemeine Maßnahmen ergriffen werden. In diesem Fall muss jedoch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung in abstracto durchgeführt werden, indem zwischen verschiedenen Kategorien von Personen und Umständen unterschieden wird, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass einige Reisegründe schutzwürdiger sind als andere und Vorrang vor den Erfordernissen der öffentlichen Gesundheit haben müssen(185).
131. Die belgische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung auf Fragen des Gerichtshofs vorgebracht, dass die streitigen Reisebeschränkungen von diesem Grundgedanken ausgingen. Um die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne dieser Maßnahmen zu gewährleisten, seien insbesondere Personen, die aus „unbedingt notwendigen“ Gründen, speziell aus „zwingenden familiären Gründen“, reisten, von ihrem Anwendungsbereich ausgenommen worden.
132. Dies trug meines Erachtens, sofern die allgemeinen Kategorien der „unbedingt notwendigen“ Reisen weit genug ausgelegt wurden, um u. a. den Anforderungen des Grundrechts auf Privat- und Familienleben zu genügen, und sofern die erforderlichen Nachweise dafür, dass eine Reise „unbedingt notwendig“ war, ihre praktische Durchführung nicht übermäßig erschwerten(186), in der Tat dazu bei, die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne der streitigen Maßnahmen zu gewährleisten(187). Über diese allgemeinen Kategorien hinaus mussten die streitigen Maßnahmen meines Erachtens jedoch auch flexibel durchgesetzt werden. Sonstige besondere individuelle Umstände mussten zum Zeitpunkt der Durchsetzung in Ausnahmefällen eine Abweichung rechtfertigen. Personen, die sich vorübergehend in Belgien aufhielten, musste gestattet sein, in ihren Wohnsitzmitgliedstaat zurückzukehren, sei es nach Schweden oder in ein anderes „Hochrisikoland“(188). Auch einige weitere humanitäre Umstände konnten und mussten eine solche Ausnahme aus grundrechtsbezogenen Erwägungen rechtfertigen. Dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.
133. Dagegen durften die Behörden bei vernünftiger Betrachtung davon ausgehen, dass touristische Reisen, so wichtig sie sein mögen, vorübergehend zugunsten der Erfordernisse der öffentlichen Gesundheit zurückstehen mussten. Im Blick zu behalten ist insoweit außerdem, dass die in Rede stehenden Beschränkungen nur für bestimmte „Hochrisikoländer“ galten, während Reisen in andere Länder zulässig waren. Auch dies trug dazu bei, die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne der streitigen Maßnahmen zu wahren.
6. Zwischenergebnis
134. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Maßnahmen grundsätzlich nicht entgegenstehen, die als Reaktion auf eine von einer Pandemie ausgehende ernste und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit umgesetzt werden und zum einen in einem Verbot von Reisen in bestimmte Länder und aus bestimmten Ländern mit einer epidemiologischen Lage, die im Vergleich schlechter ist als die Lage in dem betreffenden Mitgliedstaat, und zum anderen in Quarantäne- und Testvorschriften für Gebietsansässige bei ihrer Rückkehr aus solchen Ländern bestehen.
B. Rechtmäßigkeit der zur Durchsetzung der streitigen Reisebeschränkungen durchgeführten Kontrollen (zweite Frage)
135. Nordic Info hat vor dem vorlegenden Gericht geltend gemacht, die belgischen Behörden hätten zur Umsetzung der im Rahmen meiner Würdigung der ersten Frage erörterten Reisebeschränkungen zur maßgebenden Zeit an den Grenzen zwischen Belgien und anderen Schengen-Staaten Kontrollen unter Verstoß gegen die Vorschriften des Schengener Grenzkodex durchgeführt.
136. Der Schengener Grenzkodex sieht zur Verwirklichung des Ziels der Europäischen Union, einen „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von … Personen … gewährleistet ist“(189), zu schaffen, als Grundsatz vor, dass Personen bei der Überschreitung der „Binnengrenzen“(190) zwischen Ländern wie Belgien und Schweden, für die der Schengen-Besitzstand gilt(191), nicht kontrolliert werden. Dieser Grundsatz kommt in Art. 22 des Kodex zum Ausdruck, wonach die Binnengrenzen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen. Nach den Art. 25 bis 35 des Kodex ist jedoch ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen die vorübergehende Wiedereinführung solcher Kontrollen zulässig.
137. Nordic Info macht vorliegend geltend, die streitigen Kontrollen seien unter Verstoß gegen Art. 22 des Schengener Grenzkodex durchgeführt worden. Außerdem seien die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen in den Art. 25 ff. des Kodex nicht erfüllt gewesen.
138. Das nationale Gericht geht in der Vorlageentscheidung offenbar davon aus, dass die von den belgischen Behörden durchgeführten Kontrollen tatsächlich „[Grenz]kontrollen“ im Sinne von Art. 22 des Schengener Grenzkodex darstellten, und wirft daher allein die Frage nach ihrer Rechtmäßigkeit anhand der Art. 25 ff. des Kodex auf. Die belgische Regierung tritt dieser Prämisse in ihrem Vorbringen jedoch entgegen. Die zweite Frage ist außerdem weit und offen formuliert, so dass von ihr auch dieser Punkt umfasst sein könnte. Daher sind meines Erachtens einige Klarstellungen zur Einstufung der streitigen Kontrollen angebracht (1), bevor die Voraussetzungen für die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen zu prüfen sind (2).
1. Einstufung der streitigen Kontrollen
139. Das Vorabentscheidungsersuchen ist vage, soweit es um die von den belgischen Behörden zur maßgebenden Zeit durchgeführten Kontrollen zur Durchsetzung der streitigen Reisebeschränkungen geht. Das vorlegende Gericht führt lediglich aus – und weist mit der Formulierung seiner zweiten Frage darauf hin –, dass das in Art. 18 des angefochtenen Erlasses(192) vorgesehene Reiseverbot im Fall eines Verstoßes „kontrolliert und mit Sanktionen belegt“ wurde und von den zuständigen Behörden „von Amts wegen umgesetzt“ werden konnte. Im Übrigen gibt das Gericht den Inhalt einiger einschlägiger Bestimmungen des belgischen Rechts wieder, ohne zu erläutern, welche praktischen Folgen sie hatten. Gleichwohl sind den Akten und insbesondere den Antworten der belgischen Regierung auf die an sie gerichteten Fragen des Gerichtshofs folgende Punkte zu entnehmen.
140. Zum einen ist unstreitig, dass die belgischen Behörden zur maßgebenden Zeit an den Binnengrenzen Belgiens zu anderen Schengen-Staaten keine förmlichen Grenzkontrollen gemäß Art. 25 ff. des Schengener Grenzkodex wieder eingeführt hatten. Zum anderen wurden zu dieser Zeit von Polizeibeamten Kontrollen durchgeführt, und zwar speziell
– an Flughäfen, grundsätzlich für alle Flüge; allerdings wurden Fluggäste bei Flügen aus „Hochrisiko“-/„roten“ Schengen-Ländern stichprobenartig kontrolliert;
– an Bahnhöfen, wo Beamte bestimmte Fahrgäste internationaler Hochgeschwindigkeitszüge, die aus Nachbarländern kamen, beim Aussteigen im ersten Bahnhof, an dem die Züge nach der Erreichung des belgischen Hoheitsgebiets hielten, stichprobenartig kontrollierten;
– an grenzüberschreitenden Straßen, wo mobile Einheiten von Beamten während ihrer normalen Arbeitszeit stichprobenartige Kontrollen durchführten.
141. Nach Ansicht der belgischen Regierung handelte es sich dabei nicht um „[Grenz]kontrollen“ im Sinne von Art. 22 des Schengener Grenzkodex. Es habe sich lediglich um Fälle der „Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts … in Grenzgebieten“ im Sinne von Art. 23 Buchst. a des Kodex gehandelt, die auch nicht die „gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen“ hätten. Daher fielen sie nicht unter das Verbot von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen, wie die letztgenannte Bestimmung verdeutliche.
142. Die richtige Einstufung der streitigen Kontrollen ist selbstverständlich eine Frage, über die das vorlegende Gericht zu entscheiden hat. Um ihm hierfür Hinweise zu geben, werde ich gleichwohl einige wenige Anmerkungen machen.
143. Einerseits könnten die streitigen Kontrollen auf den ersten Blick die Definition von „Grenzkontrollen“ im Sinne von Art. 2 Nr. 11 des Schengener Grenzkodex erfüllen. Erstens sind sie offenbar „an den Grenzübergangsstellen … erfolg[t]“ oder in deren Nähe, zumindest was Straßen und Flughäfen betraf(193), wenngleich sich auch der Fall der Bahnhöfe hiervon nicht sehr unterscheidet(194). Zweitens erfolgten sie wohl, „um festzustellen, ob die betreffenden Personen … in das Hoheitsgebiet [eines Mitgliedstaats] einreisen oder aus [dessen] Hoheitsgebiet ausreisen dürfen“, da die Polizeibeamten offenbar überprüften, ob Reisende zumindest eine der zur maßgebenden Zeit geltenden Voraussetzungen erfüllten, um in das belgische Hoheitsgebiet einreisen oder aus ihm ausreisen zu dürfen, d. h., ob sie aus einem „unbedingt notwendigen Grund“ reisten und nicht aus einem „Hochrisikoland“ kamen oder dorthin ausreisen wollten.
144. Andererseits sind der Umstand, dass die streitigen Kontrollen offenbar nicht in festen Einrichtungen, sondern durch mobile Einheiten von Polizeibeamten an wechselnden Orten und zu verschiedenen Zeiten durchgeführt wurden, sowie der Umstand, dass es keine systematischen Kontrollen(195), sondern zufällige „Stichproben“ waren, starke Anzeichen(196) dafür, dass es sich dabei, wie von der belgischen Regierung geltend gemacht, um Fälle der „Ausübung der polizeilichen Befugnisse … in Grenzgebieten“ im Sinne von Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex handelte. Sofern diese Kontrollen nach Intensität und Häufigkeit – was vom vorlegenden Gericht anhand der einschlägigen Vorschriften des belgischen Rechts zu prüfen ist – nicht „die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen“ hatten, wurden sie in der Tat nicht von dem Verbot in Art. 22 des Kodex erfasst(197). Dass Art. 23 Buchst. a Ziff. ii Kontrollen nur bei „Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit“ und nicht bei „Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit“ vorsieht, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Diese Bestimmung bietet nämlich weder eine Rechtsgrundlage, noch definiert sie die Gründe, aus denen „polizeiliche Befugnisse“ ausgeübt werden können – da diese Gründe im einschlägigen nationalen Recht definiert sind –, und das Szenario der Kontrollen im Zusammenhang mit der öffentlichen Sicherheit wird lediglich beispielhaft genannt(198).
2. Voraussetzungen für die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen
145. Im vorstehenden Abschnitt habe ich erläutert, weshalb es sich bei Kontrollen wie den zur maßgebenden Zeit von den belgischen Behörden zur Durchsetzung der streitigen Reisebeschränkungen durchgeführten vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht meines Erachtens nicht um verbotene „Grenzkontrollen“ an den Binnengrenzen im Sinne von Art. 22 des Schengener Grenzkodex handelte. Daher dürfte es auf die Frage, ob die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Wiedereinführung von Grenzkontrollen an diesen Grenzen in Belgien seinerzeit erfüllt waren, nicht mehr ankommen. Der Vollständigkeit halber werde ich dennoch darauf eingehen(199).
146. Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex legt den allgemeinen Rahmen für die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen fest. Insbesondere können diese Kontrollen demnach wieder eingeführt werden, wenn in einem Mitgliedstaat „die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit … ernsthaft bedroht [ist]“. Es müssen noch weitere verfahrensrechtliche und materiell-rechtliche Voraussetzungen erfüllt sein, wie ich nachfolgend erläutern werde(200).
147. Unabhängig davon, ob diese weiteren Voraussetzungen zur maßgebenden Zeit in Belgien erfüllt waren, macht Nordic Info indes geltend, dass die Wiedereinführung von Grenzkontrollen unter den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umständen schon deshalb eindeutig nicht möglich gewesen sei, weil in Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex die „öffentliche Gesundheit“ als Rechtfertigung einer solchen Maßnahme nicht genannt werde. Dieser Aspekt steht, wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, im Mittelpunkt der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts. Daher werde ich zunächst in abstrakter Form erörtern, welchen Anwendungsbereich diese Bestimmung hat (a), und anschließend einige kurze Bemerkungen dazu machen, ob die Voraussetzungen für die Umsetzung einer solchen Maßnahme unter den in Rede stehenden Umständen erfüllt waren (b).
a) Anwendungsbereich von Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex
148. Das Vorbringen von Nordic Info zu den Gründen, aus denen Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nach Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex rechtmäßig wieder eingeführt werden dürfen, hat meines Erachtens gewisses Gewicht(201).
149. Während nämlich in Art. 27 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie ausdrücklich die „öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ (Hervorhebung nur hier) als zulässige Gründe für eine Beschränkung der Freizügigkeit genannt sind, ist in Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex, soweit es um Grenzkontrollen an den Binnengrenzen geht, nur davon die Rede, dass „die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit … ernsthaft bedroht“ ist, während die „öffentliche Gesundheit“ offenbar außer Betracht gelassen wird. Die Abwehr von „Gefahr[en] für die … öffentliche Gesundheit“ der Mitgliedstaaten wird in diesem Kodex zwar erwähnt, aber nur in Bezug auf die Einreise von Drittstaatsangehörigen, die an den Außengrenzen ankommen(202).
150. Auch eine Analyse der Entstehungsgeschichte des Kodex deutet darauf hin, dass es sich bei diesen unterschiedlichen Regelungen nicht um ein bloßes Versäumnis, sondern um eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers handelt. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in dem Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen(203), unterzeichnet am 19. Juni 1990 in Schengen(204), weder im Zusammenhang mit den Einreisevoraussetzungen für Drittausländer noch im Zusammenhang mit der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen die „öffentliche Gesundheit“ erwähnt wird(205). In ihrem Legislativvorschlag, aus dem die erste Fassung des Schengener Grenzkodex wurde(206), hatte die Kommission allerdings u. a. vorgeschlagen, die bestehenden Einreisevoraussetzungen dahin gehend zu ergänzen, dass Drittausländer keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen dürfen(207) und dass Grenzkontrollen im Fall einer „schwerwiegenden Bedrohung für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Gesundheit oder die innere Sicherheit“ wieder eingeführt werden können(208). In der ersten Lesung des Texts änderte das Europäische Parlament jedoch die Bestimmungen über Grenzkontrollen an den Binnengrenzen in der Weise ab, dass alle Bezüge auf die „öffentliche Gesundheit“ gestrichen wurden(209). Die betreffende Änderung überdauerte das weitere Gesetzgebungsverfahren.
151. Ich bin gleichwohl wie die belgische, die norwegische und die schweizerische Regierung sowie die Kommission der Ansicht, dass „Gefahren für die öffentliche Gesundheit“ zwar für sich genommen die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex nicht rechtfertigen könnten, dass einige mit der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang stehende Situationen jedoch so ernst sind, dass sie unter die in dieser Bestimmung verwendete Formulierung subsumiert werden können, dass „die öffentliche Ordnung … ernsthaft bedroht [ist]“(210).
152. Die ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung wird zwar im Schengener Grenzkodex nicht definiert, doch ergibt sich aus seinem 27. Erwägungsgrund, dass nach dem Willen des Unionsgesetzgebers insoweit die vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zur Freizügigkeit aufgestellte Definition gelten sollte. Nach der einschlägigen Rechtsprechung setzt der Begriff „öffentliche Ordnung“ voraus, dass „eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“(211).
153. Erstens können der Schutz der Bevölkerung vor Schäden, insbesondere durch die Bekämpfung epidemischer Krankheiten, sowie ihre Gesundheitsversorgung ohne Weiteres als Teil dieser „Grundinteressen der Gesellschaft“ angesehen werden. Sie können sogar zu den „grundlegenden Funktionen des Staates“ gehören, die die Europäische Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV zu „achten“ hat. Zweitens können die von solchen Krankheiten ausgehenden Risiken unter bestimmten Umständen schwerwiegend genug sein, um eine diese „Interessen“ berührende „tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr“ darzustellen(212).
154. Sofern eine beispielsweise durch eine Pandemie verursachte Situation die obige Definition der „öffentlichen Ordnung“ erfüllt, sehe ich keinen Grund, sie vom Anwendungsbereich von Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex auszuschließen. Der Wortlaut dieser Bestimmung enthält keine Einschränkung im Hinblick darauf, welcher Art die „Bedrohungen für die öffentliche Ordnung“ sind, die eine Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen rechtfertigen können. Jede „ernsthafte“ Bedrohung wird erfasst. Die oben erörterte Entstehungsgeschichte schließt diese Auslegung meines Erachtens nicht aus(213). Dies bedeutet allerdings nicht, dass „öffentliche Gesundheit“ und „öffentliche Ordnung“ deckungsgleich wären und dass Erstere eine solche Maßnahme stets rechtfertigen kann. Dies wäre nur unter außergewöhnlichen Umständen der Fall, wenn die Lage im Bereich der öffentlichen Gesundheit so schwerwiegend ist, dass sie eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung darstellt(214).
b) Waren die Voraussetzungen für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen unter den in Rede stehenden Umständen erfüllt?
155. Da das vorlegende Gericht nicht ausdrücklich danach fragt, ob die Voraussetzungen für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen unter den in Rede stehenden Umständen erfüllt waren, und da etwaige Klarstellungen hierzu für das Ausgangsverfahren überdies unerheblich sein dürften, werde ich mich auf wenige Anmerkungen zu diesem Aspekt beschränken.
156. Zum einen lässt sich, wie ich soeben erläutert habe, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nach Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex damit rechtfertigen, dass „die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht“ ist. Zu der Frage, ob die Covid‑19-Pandemie zur maßgebenden Zeit tatsächlich eine solche „Bedrohung“ darstellte, verweise ich auf die obigen Nrn. 76 bis 86.
157. Zum anderen ergibt sich aus Art. 25 Abs. 2 und Art. 26 des Schengener Grenzkodex, dass bei der Umsetzung einer solchen Maßnahme der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden muss(215).
158. Erstens ist zu der Frage, ob die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen ein geeignetes Mittel ist, um die ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung abzuwehren, die Covid‑19 zur maßgebenden Zeit dargestellt haben könnte, auf die Nrn. 97 bis 102 der vorliegenden Schlussanträge zu verweisen, in denen die (begrenzte) Wirkung von Beschränkungen des internationalen Personenverkehrs auf die Ausbreitung einer epidemischen Krankheit erörtert wird. Soweit jedoch Reisebeschränkungen wie die in Rede stehenden hierfür geeignet waren, gilt dies meines Erachtens ebenso für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen. Sie trug nämlich zur Durchsetzung dieser Beschränkungen und damit zu ihrer systematischen und kohärenten Anwendung bei (oder hätte dazu beitragen können).
159. Zweitens hängt die Frage, ob die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen erforderlich war, im Wesentlichen davon ab, ob alternative Maßnahmen zur Durchsetzung der streitigen Reisebeschränkungen weniger belastend, aber ebenso wirksam gewesen wären. Hierfür gilt, dass im Hoheitsgebiet, einschließlich der Grenzgebiete, durchgeführte zufällige „Stichproben“ in Verbindung mit wirksamen und abschreckenden Sanktionen im Fall eines Verstoßes gegen diese Maßnahmen wahrscheinlich ein weniger belastender, aber ebenso wirksamer Weg zu ihrer Durchsetzung hätten sein können – und genau dies war offenbar die von den belgischen Behörden zur maßgebenden Zeit gewählte Vorgehensweise(216).
160. Was drittens die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen angeht, verweise ich auf meine obigen Ausführungen in den Nrn. 120 bis 133 zu der Frage, ob Beschränkungen des internationalen Personenverkehrs aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ in einer demokratischen Gesellschaft akzeptabel sind. Hinzufügen möchte ich, dass Grenzkontrollen über die Unannehmlichkeiten durch substanzielle Reisebeschränkungen hinaus auch als solche gewisse Nachteile mit sich bringen(217). Die von den Mitgliedstaaten während der Pandemie durchgeführten Grenzkontrollen behinderten in erheblichem Maß den Verkehr von Personen, für die – weil sie aus „unbedingt notwendigen“ Gründen reisten – keine Reiseverbote galten und für die ein ungehinderter grenzüberschreitender Verkehr von zentraler Bedeutung war. Ihre Auswirkungen auf Grenzgänger und Beschäftigte im Gesundheitswesen waren bisweilen erheblich, insbesondere wenn sie zu langen Warteschlangen und beträchtlichen Verzögerungen führten. Dies gilt gleichermaßen für den grenzüberschreitenden Warenverkehr. Zumindest mussten, um die möglichen Vor- und Nachteile von Grenzkontrollen „auszutarieren“, Maßnahmen wie das von der Kommission empfohlene System von „Green lanes“ eingeführt werden, um die freie Fahrt für „wesentliche“ Personen und Waren zu erleichtern(218).
161. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass bei der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen ein besonderes Verfahren einzuhalten ist. Insbesondere müssen die nationalen Behörden dies nach Art. 27 des Schengener Grenzkodex ihren Amtskollegen in den übrigen Mitgliedstaaten und der Kommission spätestens vier Wochen vor der geplanten Wiedereinführung mitteilen. Ausnahmsweise hätten sie die Grenzkontrollen nach Art. 28 sofort wieder einführen und diese Maßnahme gleichzeitig mitteilen können. Eine Mitteilung war in jedem Fall erforderlich. Daran hielten sich offenbar nicht alle Mitgliedstaaten, die während der Pandemie eine solche Maßnahme ergriffen(219).
3. Zwischenergebnis
162. Im Licht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex einen Mitgliedstaat grundsätzlich nicht daran hindert, als Reaktion auf eine Pandemie Kontrollen an den Binnengrenzen vorübergehend wieder einzuführen, sofern die Pandemie so schwerwiegend ist, dass sie im Sinne dieser Bestimmung „die öffentliche Ordnung … ernsthaft bedroht“, und sofern alle dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
V. Ergebnis
163. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (niederländischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel, Belgien) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
1. Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG
sind dahin auszulegen, dass
sie nationalen Maßnahmen grundsätzlich nicht entgegenstehen, die als Reaktion auf eine von einer Pandemie ausgehende ernste und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit umgesetzt werden und zum einen in einem Verbot von Reisen in bestimmte Länder und aus bestimmten Ländern mit einer epidemiologischen Lage, die im Vergleich schlechter ist als die Lage in dem betreffenden Mitgliedstaat, und zum anderen in Quarantäne- und Testvorschriften für Gebietsansässige bei ihrer Rückkehr aus solchen Ländern bestehen.
2. Art. 25 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex)
ist dahin auszulegen, dass
er einen Mitgliedstaat grundsätzlich nicht daran hindert, als Reaktion auf eine Pandemie Kontrollen an den Binnengrenzen vorübergehend wieder einzuführen, sofern die Pandemie so schwerwiegend ist, dass sie im Sinne dieser Bestimmung „die öffentliche Ordnung … ernsthaft bedroht“, und sofern alle dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind.