URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

21. Dezember 2011(*)

„Freizügigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Recht auf Daueraufenthalt – Art. 16 – Rechtmäßiger Aufenthalt – Aufenthalt aufgrund nationalen Rechts – Aufenthaltszeit, die vor dem Beitritt des Herkunftsmitgliedstaats des betreffenden Bürgers zur Union zurückgelegt worden ist“

In den verbundenen Rechtssachen C‑424/10 und C‑425/10

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen vom 13. Juli 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 31. August 2010, in den Verfahren

Tomasz Ziolkowski (C‑424/10),

Barbara Szeja,

Maria-Magdalena Szeja,

Marlon Szeja (C‑425/10)

gegen

Land Berlin,

Beteiligter:

Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot, J. Malenovský und U. Lõhmus, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter M. Ilešič, E. Levits, T. von Danwitz und A. Arabadjiev,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juli 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Ziolkowski sowie von Frau Szeja und ihren Kindern, vertreten durch Rechtsanwalt L. Weber,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,

–        Irlands, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von B. Doherty,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki und T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Ossowski als Bevollmächtigten im Beistand von T. Ward, Barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger, M. Wilderspin und D. Maidani als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. September 2011

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, sowie – Berichtigungen – ABl. L 229, S. 35, und ABl. 2005, L 197, S. 34).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten, in denen zum einen Herr Ziolkowski und zum anderen Frau Szeja und ihre beiden minderjährigen Kinder dem Land Berlin gegenüberstehen und in denen es um die Weigerung des Landes Berlin geht, ihnen eine Bescheinigung über ihr Recht auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 der Richtlinie 2004/38 auszustellen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 3, 4, 10, 17, 18 und 29 der Richtlinie 2004/38 lauten:

„(3)      Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbständige sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.

(4)      Um diese bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts zu überwinden und die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, ist ein einziger Rechtsakt erforderlich, in dem die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft [(ABl. L 257, S. 2) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 (ABl. L 245, S. 1) geänderten Fassung] geändert und die folgenden Rechtsakte aufgehoben werden: die Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft [(ABl. L 257, S. 13)], die Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs [(ABl. L 172, S. 14)], die Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht [(ABl. L 180, S. 26)], die Richtlinie 90/365/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen [(ABl. L 180, S. 28)] und die Richtlinie 93/96/EWG des Rates vom 29. Oktober 1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten [(ABl. L 317, S. 59)].

(10)      Allerdings sollten Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Daher sollte das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen.

(17)      Wenn Unionsbürger, die beschlossen haben, sich dauerhaft in dem Aufnahmemitgliedstaat niederzulassen, das Recht auf Daueraufenthalt erhielten, würde dies ihr Gefühl der Unionsbürgerschaft verstärken und entscheidend zum sozialen Zusammenhalt – einem grundlegenden Ziel der Union – beitragen. Es gilt daher, für alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die sich gemäß den in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen fünf Jahre lang ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben und gegen die keine Ausweisungsmaßnahme angeordnet wurde, ein Recht auf Daueraufenthalt vorzusehen.

(18)      Um ein wirksames Instrument für die Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats darzustellen, in dem der Unionsbürger seinen Aufenthalt hat, sollte das einmal erlangte Recht auf Daueraufenthalt keinen Bedingungen unterworfen werden.

(29)      Diese Richtlinie sollte nicht die Anwendung günstigerer einzelstaatlicher Rechtsvorschriften berühren.“

4        In Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen“) der Richtlinie 2004/38 heißt es in Art. 1 („Gegenstand“):

„Diese Richtlinie regelt

a)      die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen;

b)      das Recht auf Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten;

…“

5        Kapitel III („Aufenthaltsrecht“) dieser Richtlinie umfasst die Art. 6 bis 15.

6        Art. 6 („Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten“) bestimmt:

„(1)      Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.

(2)      Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige im Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.“

7        Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) der Richtlinie 2004/38 lautet:

„(1)      Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a)      Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

b)      für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

c)      –       bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

–        über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder

d)      ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a, b oder c erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

(2)      Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a, b oder c erfüllt.

(3)      Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten:

a)      Er ist wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig;

b)      er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung;

c)      er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung; in diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten;

d)      er beginnt eine Berufsausbildung; die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft setzt voraus, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren.

(4)      Abweichend von Absatz 1 Buchstabe d und Absatz 2 haben nur der Ehegatte, der eingetragene Lebenspartner im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b und Kinder, denen Unterhalt gewährt wird, das Recht auf Aufenthalt als Familienangehörige eines Unionsbürgers, der die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe c erfüllt. Artikel 3 Absatz 2 findet Anwendung auf die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartners, denen Unterhalt gewährt wird.“

8        Art. 12 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt in den Abs. 1 und 2:

„(1)      Unbeschadet von Unterabsatz 2 berührt der Tod des Unionsbürgers oder sein Wegzug aus dem Aufnahmemitgliedstaat nicht das Aufenthaltsrecht seiner Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen.

Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, müssen sie die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 1 Buchstabe a, b, c oder d erfüllen.

(2)      Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt der Tod des Unionsbürgers für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige vor dem Tod des Unionsbürgers mindestens ein Jahr lang aufgehalten haben, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts.

Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, bleibt ihr Aufenthaltsrecht an die Voraussetzung geknüpft, dass sie nachweisen können, dass sie Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. Als ausreichende Existenzmittel gelten die in Artikel 8 Absatz 4 vorgesehenen Beträge.

Die betreffenden Familienangehörigen behalten ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage.“

9        In Art. 13 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft“) der Richtlinie 2004/38 heißt es:

„(1)      Unbeschadet von Unterabsatz 2 berührt die Scheidung oder Aufhebung der Ehe des Unionsbürgers oder die Beendigung seiner eingetragenen Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b nicht das Aufenthaltsrecht seiner Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen.

Bevor die Betreffenden das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, müssen sie die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 1 Buchstabe a, b, c oder d erfüllen.

(2)      Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt die Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder die Beendigung der eingetragenen Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn

Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, bleibt ihr Aufenthaltsrecht an die Voraussetzung geknüpft, dass sie nachweisen können, dass sie Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. Als ausreichende Existenzmittel gelten die in Artikel 8 Absatz 4 vorgesehenen Beträge.

Die betreffenden Familienangehörigen behalten ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage.“

10      Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„(1)      Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach Artikel 6 zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.

(2)      Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.

In bestimmten Fällen, in denen begründete Zweifel bestehen, ob der Unionsbürger oder seine Familienangehörigen die Voraussetzungen der Artikel 7, 12 und 13 erfüllen, können die Mitgliedstaaten prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Prüfung wird nicht systematisch durchgeführt.

(3)      Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat darf nicht automatisch zu einer Ausweisung führen.

(4)      Abweichend von den Absätzen 1 und 2 und unbeschadet der Bestimmungen des Kapitels VI darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden, wenn

a)      die Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder

b)      die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.“

11      In Kapitel IV („Recht auf Daueraufenthalt“) der Richtlinie 2004/38 lautet Art. 16 („Allgemeine Regel für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen“):

„(1)      Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.

(2)      Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.

(3)      Die Kontinuität des Aufenthalts wird weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr, noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat berührt.

(4)      Wenn das Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde, führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zu seinem Verlust.“

12      Im selben Kapitel IV sieht Art. 18 („Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt durch bestimmte Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen“) der Richtlinie 2004/38 vor:

„Unbeschadet des Artikels 17 erwerben die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, auf die Artikel 12 Absatz 2 und Artikel 13 Absatz 2 Anwendung finden und die die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, das Recht auf Daueraufenthalt, wenn sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.“

13      Art. 37 der Richtlinie 2004/38 lautet:

„Diese Richtlinie lässt Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die für die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallenden Personen günstiger sind, unberührt.“

 Nationales Recht

14      Der mit „Recht auf Einreise und Aufenthalt“ überschriebene § 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950) in der durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. 2007 I S. 1970) geänderten Fassung (im Folgenden: FreizügG/EU) bestimmt in seinen Abs. 1 und 2:

„(1)      Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.

(2)      Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind:

5.      nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4,

…“

15      § 4 („Nicht erwerbstätige Freizügigkeitsberechtigte“) FreizügG/EU bestimmt:

„Nicht erwerbstätige Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und ihre Lebenspartner, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, haben das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. …“

16      § 4a („Daueraufenthaltsrecht“) Abs. 1 FreizügG/EU sieht vor:

„Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und Lebenspartner, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, haben unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht).“

17      § 5 Abs. 6 FreizügG/EU lautet:

„Auf Antrag wird Unionsbürgern unverzüglich ihr Daueraufenthalt bescheinigt.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18      Herr Ziolkowski ist ein polnischer Staatsangehöriger, der im September 1989 nach Deutschland einreiste. Er erhielt für die Zeit von Juli 1991 bis April 2006 eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.

19      Frau Szeja ist eine polnische Staatsangehörige, die im Jahr 1988 nach Deutschland einreiste. Sie erhielt für die Zeit von Mai 1990 bis Oktober 2005 eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Ihre Kinder wurden 1994 und 1996 in Deutschland geboren. Sie erhielten Aufenthaltserlaubnisse, die derjenigen ihrer Mutter angepasst waren. Der Vater der Kinder ist ein türkischer Staatsangehöriger, der von Frau Szeja getrennt lebt, jedoch das Sorgerecht für die Kinder gemeinsam mit ihr ausübt.

20      Im Jahr 2005 beantragten Herr Ziolkowski sowie Frau Szeja und ihre Kinder beim Land Berlin die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnisse bzw. die Ausstellung einer Bescheinigung über ihr Daueraufenthaltsrecht aufgrund des Unionsrechts. Der Antrag von Frau Szeja und ihren Kindern wurde abgelehnt. Herr Ziolkowski erhielt die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis bis April 2006, doch in der Folge wurde sein erneuter Verlängerungsantrag ebenfalls abgelehnt. Sämtliche Betroffenen wurden über ihre etwaige Abschiebung in ihren Herkunftsmitgliedstaat unterrichtet, sollten sie binnen einer bestimmten Frist nach Unanfechtbarkeit dieser Ablehnungsbescheide des Landes Berlin nicht aus dem deutschen Hoheitsgebiet ausgereist sein.

21      Nach den Ausführungen des Landes Berlin konnten die Aufenthaltserlaubnisse der Kläger der Ausgangsverfahren nicht verlängert werden, da ihr Lebensunterhalt nicht gesichert gewesen sei. Die Anerkennung eines Rechts auf Daueraufenthalt nach dem Unionsrecht sei ebenfalls nicht möglich gewesen, da sie nicht gearbeitet hätten und auch keinen gesicherten Lebensunterhalt hätten nachweisen können.

22      Das Verwaltungsgericht gab den von den Klägern der Ausgangsverfahren bei ihm erhobenen Klagen statt und entschied, dass das Recht auf Daueraufenthalt nach dem Unionsrecht jedem Unionsbürger, der sich fünf Jahre lang rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten habe, gewährt werden müsse, ohne dass es darauf ankomme, ob er über ausreichende Existenzmittel verfüge. Auf die Berufung des Landes Berlin gegen die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts änderte das Oberverwaltungsgericht Berlin‑Brandenburg mit Urteilen vom 28. April 2009 diese Entscheidungen ab.

23      Nach diesen Urteilen können für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt nach dem Unionsrecht nur die Zeiten Berücksichtigung finden, die der betreffende Bürger seit dem Zeitpunkt zurückgelegt habe, zu dem sein Herkunftsstaat Mitglied der Europäischen Union geworden sei. Außerdem könne für die Zwecke eines solchen Erwerbs als rechtmäßig nur ein Aufenthalt gelten, der auf dem Art. 7 der Richtlinie 2004/38 entsprechenden § 2 Abs. 2 FreizügG/EU beruhe. Da die Kläger der Ausgangsverfahren zum Zeitpunkt des Beitritts ihres Herkunftsstaats zur Europäischen Union, also am 1. Mai 2004, keine Arbeitnehmer gewesen seien und auch nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt hätten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und keine Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen zu müssen, erfüllten sie nicht die in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Voraussetzungen und hätten daher kein Daueraufenthaltsrecht im Sinne von § 4 dieses Gesetzes erworben.

24      Die Kläger der Ausgangsverfahren legten gegen die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg Revision an das vorlegende Gericht ein.

25      Das vorlegende Gericht macht sich die Feststellungen des Berufungsgerichts zu eigen, wonach sich die Kläger der Ausgangsverfahren nicht im Einklang mit den im Unionsrecht festgelegten Bedingungen, sondern nur aufgrund nationalen Rechts in Deutschland aufgehalten haben. Es ist jedoch der Auffassung, dass es, wenn ein solcher Aufenthalt nicht zum Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 führen könne, vor einer Entscheidung gleichwohl verpflichtet sei, den Gerichtshof zu befassen.

26      Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden, in den beiden Rechtssachen C‑424/10 und C‑425/10 gleichlautenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38 so auszulegen, dass er einem Unionsbürger, der sich seit über fünf Jahren nur aufgrund nationalen Rechts rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, in dieser Zeit aber die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nicht erfüllt hat, ein Recht auf Daueraufenthalt in diesem Mitgliedstaat verleiht?

2.      Sind auf den rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 auch Aufenthaltszeiten des Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat vor dem Beitritt seines Herkunftsstaats zur Europäischen Union anzurechnen?

27      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 6. Oktober 2010 sind die Rechtssachen C‑424/10 und C‑425/10 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

28      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 so auszulegen ist, dass ein Unionsbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur aufgrund des nationalen Rechts dieses Staates zurückgelegt hat, so zu betrachten ist, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt nach dieser Bestimmung erworben, wenn er während dieses Aufenthalts nicht die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie erfüllt hat.

 Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

29      Nach Ansicht der Kläger der Ausgangsverfahren verlangt Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nicht, dass der Unionsbürger die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie erfüllt. Um den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt nach diesem Art. 16 Abs. 1 geltend machen zu können, genüge es, einen auch nur nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats rechtmäßigen Aufenthalt nachzuweisen, und weder der Umstand, dass der Antragsteller Sozialhilfeleistungen in Anspruch genommen habe, noch die Tatsache, dass während dieses Aufenthalts ein Grund bestanden habe, der die Ausländerbehörde zur Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts berechtigt hätte, seien insoweit von Bedeutung.

30      Alle Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben, und die Europäische Kommission sind mit dem vorlegenden Gericht der Auffassung, dass der Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 voraussetze, dass sich der betreffende Unionsbürger im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie fünf Jahre lang ununterbrochen aufgehalten habe, und dass daher ein Aufenthalt, der diese Voraussetzungen nicht erfülle, nicht als „rechtmäßiger Aufenthalt“ im Sinne dieses Art. 16 Abs. 1 angesehen werden könne.

 Antwort des Gerichtshofs

31      Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38 hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten.

32      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs aus dem Gebot der einheitlichen Anwendung des Rechts der Union wie auch aus dem Gleichheitssatz folgt, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen (Urteile vom 19. September 2000, Linster, C‑287/98, Slg. 2000, I‑6917, Randnr. 43, und vom 18. Oktober 2011, Brüstle, C‑34/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 25).

33      Der Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38 enthält zwar keinen Hinweis darauf, wie die Wendung „sich rechtmäßig“ im Aufnahmemitgliedstaat „aufgehalten hat“ zu verstehen ist, doch verweist diese Richtlinie in Bezug auf die Bedeutung dieser Wendung auch nicht auf die nationalen Rechtsvorschriften. Die Wendung ist daher für die Anwendung dieser Richtlinie als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen, der in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen ist.

34      Insoweit ist zu beachten, dass Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Recht der Union nicht definiert, insbesondere unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der Ziele der Regelung, zu der sie gehören, zu bestimmen sind (vgl. u. a. Urteile vom 10. März 2005, easyCar, C‑336/03, Slg. 2005, I‑1947, Randnr. 21, vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, Slg. 2008, I‑11061, Randnr. 17, vom 29. Juli 2010, UGT‑FSP, C‑151/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 39, und Brüstle, Randnr. 31).

35      Was zunächst die Ziele der Richtlinie 2004/38 betrifft, wird in deren erstem Erwägungsgrund daran erinnert, dass die Unionsbürgerschaft jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht verleiht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. Urteile vom 7. Oktober 2010, Lassal, C‑162/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 29, und vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 27).

36      Es trifft zwar zu, dass die Richtlinie 2004/38 die Ausübung des jedem Unionsbürger unmittelbar verliehenen elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und verstärken soll, doch betrifft ihr Gegenstand – wie aus ihrem Art. 1 Buchst. a und b hervorgeht – die Bedingungen, unter denen dieses Recht und das Recht auf Daueraufenthalt ausgeübt werden, wobei das letztgenannte Recht – außer für die aus dem Erwerbsleben im Aufnahmemitgliedstaat ausgeschiedenen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen – mit dieser Richtlinie erstmals in die Unionsrechtsordnung eingeführt wurde.

37      Den Erwägungsgründen 3 und 4 der Richtlinie 2004/38 zufolge sollen mit ihr die bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts überwunden werden, um die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, indem ein einziger Rechtsakt ausgearbeitet wird, in dem die vor dem Erlass dieser Richtlinie bestehenden Instrumente des Unionsrechts kodifiziert und überarbeitet werden.

38      Was sodann den Gesamtzusammenhang der Richtlinie 2004/38 angeht, ist darauf hinzuweisen, dass diese hinsichtlich des Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat ein abgestuftes System vorgesehen hat, das unter Übernahme im Wesentlichen der Stufen und Bedingungen, die in den vor dem Erlass dieser Richtlinie bestehenden einzelnen Instrumenten des Unionsrechts vorgesehen waren, sowie der zuvor ergangenen Rechtsprechung im Recht auf Daueraufenthalt mündet.

39      Erstens nämlich beschränkt Art. 6 der Richtlinie 2004/38 für Aufenthalte bis zu drei Monaten die für das Aufenthaltsrecht geltenden Bedingungen oder Formalitäten auf das Erfordernis des Besitzes eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses und erhält Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie das Aufenthaltsrecht für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen aufrecht, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.

40      Zweitens ist bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten die Ausübung des Aufenthaltsrechts von den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 abhängig, und nach Art. 14 Abs. 2 dieser Richtlinie steht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen dieses Recht nur so lange zu, wie sie diese Voraussetzungen erfüllen. Insbesondere dem zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ist zu entnehmen, dass diese Voraussetzungen u. a. verhindern sollen, dass diese Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen.

41      Drittens geht aus Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 hervor, dass jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht hat, sich dort auf Dauer aufzuhalten, und dass dieses Recht nicht den in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen unterworfen ist. Wie im 18. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ausgeführt wird, sollte das einmal erlangte Recht auf Daueraufenthalt, um ein wirksames Instrument für die Integration in die Gesellschaft dieses Staates darzustellen, keinen Bedingungen unterworfen werden.

42      Schließlich ist zum besonderen Kontext der Richtlinie 2004/38 im Hinblick auf das Recht auf Daueraufenthalt darauf hinzuweisen, dass es im 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt, dass es gelte, für alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die sich „gemäß den in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen“ fünf Jahre lang ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben und gegen die keine Ausweisungsmaßnahme angeordnet wurde, ein solches Recht vorzusehen.

43      Diese Präzisierung wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens, das zum Erlass der Richtlinie 2004/38 geführt hat, durch den vom Rat der Europäischen Union am 5. Dezember 2003 angenommenen gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 (ABl. 2004, C 54 E, S. 12) in diesen Erwägungsgrund aufgenommen. Der Mitteilung an das Europäische Parlament vom 30. Dezember 2003 (SEK/2003/1293 endg.) zufolge wurde diese Erläuterung aufgenommen, „[u]m den Inhalt des Begriffs rechtmäßiger Aufenthalt [im Sinne von Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie] zu präzisieren“.

44      Ferner sieht Art. 18 der Richtlinie 2004/38, der im selben Kapitel zu finden ist wie Art. 16 dieser Richtlinie und der den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt durch bestimmte Familienangehörige eines Unionsbürgers betrifft, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, vor, dass diese Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers, bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft, wie in Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehen, sich „rechtmäßig“ fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat „aufgehalten haben“ müssen, um das Recht auf Daueraufenthalt zu erwerben, und verweist insoweit auf die Art. 12 Abs. 2 und 13 Abs. 2 dieser Richtlinie, nach deren jeweiligem Abs. 2 von den Betroffenen neben anderen Voraussetzungen verlangt wird, dass sie, bevor sie das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, selbst nachweisen können, dass sie die gleichen Voraussetzungen erfüllen, wie sie in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, b oder d dieser Richtlinie genannt sind.

45      Gleichermaßen müssen die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nach den Art. 12 Abs. 1 und 13 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, auch wenn der Tod des Unionsbürgers oder sein Wegzug oder auch die Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder die Beendigung der eingetragenen Partnerschaft nicht das Aufenthaltsrecht dieser Familienangehörigen berührt, bevor sie das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, ebenfalls selbst nachweisen, dass sie die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie erfüllen.

46      Folglich ist der Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts, den die Wendung „der sich rechtmäßig … aufgehalten hat“ in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 enthält, als ein im Einklang mit den in dieser Richtlinie vorgesehenen, insbesondere mit den in deren Art. 7 Abs. 1 aufgeführten Voraussetzungen stehender Aufenthalt zu verstehen.

47      Daher kann ein im Einklang mit dem Recht eines Mitgliedstaats stehender Aufenthalt, der jedoch nicht die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erfüllt, nicht als ein „rechtmäßiger“ Aufenthalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen werden.

48      Eine gegenteilige Auslegung kann insoweit nicht mit Erfolg auf der Grundlage von Art. 37 der Richtlinie 2004/38 geltend gemacht werden, wonach deren Bestimmungen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die für die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallenden Personen günstiger sind, unberührt lässt.

49      Der Umstand, dass nationale Bestimmungen, die in Bezug auf das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger günstiger sind als die der Richtlinie 2004/38, unberührt bleiben, bedeutet keineswegs, dass diese Bestimmungen in das mit dieser Richtlinie eingeführte System aufzunehmen wären.

50      Art. 37 der Richtlinie 2004/38 sieht lediglich vor, dass diese Richtlinie der Einführung einer Regelung im Recht der Mitgliedstaaten, die günstiger ist als die durch die Bestimmungen dieser Richtlinie eingeführte, nicht entgegensteht. Allerdings hat jeder Mitgliedstaat nicht nur zu entscheiden, ob er eine solche Regelung einführt, sondern auch, welche Voraussetzungen und Wirkungen diese insbesondere in Bezug auf die Rechtsfolgen eines nur aufgrund des nationalen Rechts gewährten Aufenthaltsrechts hat.

51      Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 so auszulegen ist, dass ein Unionsbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur aufgrund des nationalen Rechts dieses Staates zurückgelegt hat, nicht so betrachtet werden kann, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt nach dieser Bestimmung erworben, wenn er während dieses Aufenthalts die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht erfüllt hat. 

 Zur zweiten Frage

52      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat vor dem Beitritt dieses Drittstaats zur Union in Ermangelung spezifischer Bestimmungen in der Beitrittsakte zu berücksichtigen sind.

 Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

53      Irland und die Kommission halten eine Beantwortung der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts für nicht erforderlich, da feststehe, dass die Kläger der Ausgangsverfahren zu keinem Zeitpunkt die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, auch nicht während der Aufenthaltszeiten vor dem Beitritt ihres Herkunftsstaats zur Union, erfüllt hätten.

54      Nach Ansicht der deutschen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs können die Aufenthaltszeiten vor dem Beitritt des Herkunftsstaats des betreffenden Unionsbürgers zur Union für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 keine Berücksichtigung finden, da dieses Aufenthaltsrecht voraussetze, dass die Person, die es beantrage, sich in der Eigenschaft als Unionsbürger aufgehalten habe, während die Kläger der Ausgangsverfahren vor dem Beitritt der Republik Polen zur Union keine Unionsbürger gewesen und daher auch nicht in den Genuss der durch die Instrumente des Unionsrechts verliehenen Rechte gelangt seien.

55      Die griechische Regierung ist demgegenüber der Ansicht, dass aus dem Wortlaut, der Zweckbestimmung und dem Aufbau von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 hervorgehe, dass diese Bestimmung unabhängig vom Zeitpunkt des Beitritts des Herkunftsstaats des betreffenden Bürgers zur Union anzuwenden sei. Daher seien die Aufenthaltszeiten vor dem Beitritt zu berücksichtigen, sofern sie die in dieser Richtlinie festgelegten Voraussetzungen erfüllten.

 Antwort des Gerichtshofs

56      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Akte über den Beitritt eines neuen Mitgliedstaats im Wesentlichen auf dem allgemeinen Grundsatz der sofortigen und vollständigen Anwendung der Bestimmungen des Unionsrechts auf diesen Staat beruht, wobei Abweichungen nur insoweit zulässig sind, als sie in Übergangsbestimmungen ausdrücklich vorgesehen sind (vgl. Urteil vom 28. April 2009, Apostolides, C‑420/07, Slg. 2009, I‑3571, Randnr. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57      Wie der Gerichtshof zu Art. 6 EWG-Vertrag (später Art. 6 EG-Vertrag, nach Änderung dann Art. 12 EG) sowie zu den Art. 48 und 51 EG-Vertrag (nach Änderung Art. 39 EG und 42 EG) bereits entschieden hat, gelten diese Artikel, wenn die Akte über die Bedingungen des Beitritts eines Mitgliedstaats keine Übergangsregelung für deren Geltung enthält, ab dem Zeitpunkt des Beitritts dieses Mitgliedstaats zur Union dort unmittelbar und sind bindend, so dass Bürger aus allen Mitgliedstaaten sich von diesem Zeitpunkt an auf sie berufen können und sie auf die gegenwärtigen und künftigen Wirkungen von Sachverhalten angewandt werden können, die vor dem Beitritt dieses Staates zur Union entstanden sind (Urteile vom 2. Oktober 1997, Saldanha und MTS, C‑122/96, Slg. 1997, I‑5325, Randnr. 14, vom 30. November 2000, Österreichischer Gewerkschaftsbund, C‑195/98, Slg. 2000, I‑10497, Randnr. 55, und vom 18. April 2002, Duchon, C‑290/00, Slg. 2002, I‑3567, Randnr. 44).

58      Im Übrigen hat der Gerichtshof auch entschieden, dass die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft seit ihrem Inkrafttreten anwendbar und deshalb auf die gegenwärtigen Wirkungen von zuvor entstandenen Sachverhalten anzuwenden sind (vgl. Urteile vom 11. Juli 2002, D’Hoop, C‑224/98, Slg. 2002, I‑6191, Randnr. 25, und Lassal, Randnr. 39).

59      Im vorliegenden Fall gibt es in der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33) keine Übergangsbestimmung hinsichtlich der Geltung der unionsrechtlichen Bestimmungen über Freizügigkeit für die Republik Polen, abgesehen von einigen in den Anhängen zu dieser Akte enthaltenen Übergangsbestimmungen betreffend die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und den freien Dienstleistungsverkehr.

60      Daher können Unionsbürger sich auf die Bestimmungen von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 berufen und können diese auf die gegenwärtigen und künftigen Wirkungen von Sachverhalten angewandt werden, die vor dem Beitritt der Republik Polen zur Union entstanden sind.

61      Insoweit trifft zwar zu, dass die von dem Angehörigen eines anderen Staates vor dessen Beitritt zur Union im Aufnahmemitgliedstaat zurückgelegten Aufenthaltszeiten nicht unter das Unionsrecht, sondern nur unter das nationale Recht dieses Aufnahmemitgliedstaats fielen.

62      Sofern der Betroffene nachweisen kann, dass solche Zeiten im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 zurückgelegt wurden, hat die Berücksichtigung dieser Zeiten ab dem Zeitpunkt des Beitritts des betreffenden Mitgliedstaats zur Union jedoch nicht zur Folge, dass Art. 16 dieser Richtlinie Rückwirkung verliehen wird, sondern nur, dass Sachverhalten, die vor dem Datum für die Umsetzung der Richtlinie entstanden sind, eine gegenwärtige Wirkung beigemessen wird (vgl. Urteil Lassal, Randnr. 38).

63      Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat vor dem Beitritt dieses Drittstaats zur Union in Ermangelung spezifischer Bestimmungen in der Beitrittsakte zu berücksichtigen sind, soweit sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie zurückgelegt wurden.

 Kosten

64      Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist so auszulegen, dass ein Unionsbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur aufgrund des nationalen Rechts dieses Staates zurückgelegt hat, nicht so betrachtet werden kann, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt nach dieser Bestimmung erworben, wenn er während dieser Aufenthaltszeit die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht erfüllt hat.

2.      Für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 sind Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat vor dem Beitritt dieses Drittstaats zur Europäischen Union in Ermangelung spezifischer Bestimmungen in der Beitrittsakte zu berücksichtigen, soweit sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie zurückgelegt wurden.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.