URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

17. Dezember 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit – Art. 45 AEUV – Unionsbürgerschaft – Richtlinie 2004/38/EG – Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate – Art. 14 Abs. 4 Buchst. b – Arbeitsuchende – Angemessene Frist, um von Stellenangeboten, die für den Arbeitsuchenden in Betracht kommen, Kenntnis zu erlangen und die Maßnahmen zu ergreifen, die es ihm ermöglichen, eingestellt zu werden – Anforderungen, die der Aufnahmemitgliedstaat während dieser Zeit an den Arbeitsuchenden stellt – Voraussetzungen des Aufenthaltsrechts – Pflicht, weiterhin Arbeit zu suchen und eine begründete Aussicht zu haben, eingestellt zu werden“

In der Rechtssache C‑710/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 12. September 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 25. September 2019, in dem Verfahren

G. M. A.

gegen

État belge

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.–C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter L. Bay Larsen, M. Safjan und N. Jääskinen,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von G. M. A., vertreten durch A. Valcke, avocat,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck, C. Pochet und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von F. Motulsky, avocat,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch M. Wolff und J. Nymann-Lindegren als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Lavery und S. Brandon als Bevollmächtigte im Beistand von K. Apps, barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin, B.‑R. Killmann und E. Montaguti als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. September 2020

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 AEUV, der Art. 15 und 31 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, und Berichtigung ABl. 2004, L 229, S. 35) sowie der Art. 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen G. M. A. und dem belgischen Staat wegen dessen Weigerung, G. M. A. als Arbeitsuchendem ein Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten im belgischen Hoheitsgebiet zuzuerkennen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der neunte Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 lautet wie folgt:

„Die Unionsbürger sollten das Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten haben, ohne jegliche Bedingungen oder Formalitäten außer der Pflicht, im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses zu sein, unbeschadet einer günstigeren Behandlung für Arbeitssuchende gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs.“

4        Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.“

5        Art. 7 Abs. 1 und 3 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a)      Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

b)      für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

c)      —      bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

—      über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder

d)      ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

(3)      Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a) bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten:

a)      Er ist wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig;

b)      er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung;

c)      er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung; in diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten;

d)      er beginnt eine Berufsausbildung; die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft setzt voraus, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren.“

6        Art. 8 dieser Richtlinie schreibt für die in ihrem Art. 7 genannten Personengruppen eine Reihe von Verwaltungsformalitäten vor.

7        Art. 14 Abs. 1, 2 und 4 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„(1)      Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach Artikel 6 zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.

(2)      Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.

(4)      Abweichend von den Absätzen 1 und 2 und unbeschadet der Bestimmungen des Kapitels VI darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden, wenn

b)      die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.“

 Belgisches Recht

8        Art. 39/2 § 2 der Loi sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers (Gesetz über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern) vom 15. Dezember 1980 (Moniteur belge vom 31. Dezember 1980, S. 14584) in der zur Zeit der Ereignisse des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) bestimmt:

„Der Rat [für Ausländerstreitsachen (Belgien)] befindet auf dem Wege von Entscheiden über die übrigen Beschwerden wegen Verletzung wesentlicher oder zur Vermeidung der Nichtigkeit, der Befugnisüberschreitung oder des Befugnismissbrauchs vorgeschriebener Formen.“

9        In Art. 40 § 4 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 heißt es:

„Unionsbürger haben das Recht auf Aufenthalt im Königreich für einen Zeitraum von über drei Monaten, sofern sie die in Artikel 41 Absatz 1 erwähnte Bedingung erfüllen und:

1.      im Königreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder ins Königreich einreisen, um Arbeit zu suchen, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben eingestellt zu werden,

…“

10      In Art. 50 des Arrêté royal du 8 octobre 1981 sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers (Königlicher Erlass vom 8. Oktober 1981 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern) (Moniteur belge vom 27. Oktober 1981, S. 13740) heißt es:

„§ 1      Ein Unionsbürger, der sich länger als drei Monate auf dem Staatsgebiet des Königreichs aufhalten möchte und den Nachweis seiner Staatsangehörigkeit gemäß Artikel 41 Absatz 1 des Gesetzes [vom 15. Dezember 1980] erbringt, beantragt bei der Gemeindeverwaltung seines Aufenthaltsortes mit einem Dokument, das dem Muster in Anlage 19 entspricht, eine Anmeldebescheinigung.

§ 2      Bei Einreichung des Antrags oder spätestens drei Monate nach dessen Einreichung muss der Unionsbürger … folgende Dokumente vorlegen:

3. für Arbeitsuchende:

a)      eine Eintragung beim zuständigen Amt für Arbeitsbeschaffung oder eine Kopie von Bewerbungsschreiben und

b)      einen Nachweis, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Betreffenden, insbesondere der Diplome, die er erhalten hat, der eventuell besuchten oder vorgesehenen Berufsausbildungen und der Dauer der Arbeitslosigkeit, eine begründete Aussicht eingestellt zu werden besteht.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11      Am 27. Oktober 2015 beantragte der griechische Staatsangehörige G. M. A. gemäß Art. 50 § 1 des Königlichen Erlasses vom 8. Oktober 1981 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern die Ausstellung einer Bescheinigung über seine Registrierung als Arbeitsuchender in Belgien, um in diesem Mitgliedstaat ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate zu erhalten. Der Zeitpunkt, zu dem G. M. A. in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats eingereist war, geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht hervor.

12      Am 18. März 2016 wurde dieser Antrag durch eine Entscheidung des Office des étrangers (Belgische Ausländerbehörde, im Folgenden: Amt) mit der Begründung abgelehnt, dass G. M. A. die nach belgischem Recht für ein Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten erforderlichen Voraussetzungen nicht erfülle (im Folgenden: Entscheidung des Amtes). Nach Auffassung des Amtes ließen die von G. M. A. vorgelegten Unterlagen nicht darauf schließen, dass er eine begründete Aussicht habe, im belgischen Hoheitsgebiet eingestellt zu werden. Folglich wurde G. M. A. aufgegeben, das belgische Hoheitsgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Erlass dieser Entscheidung zu verlassen.

13      Mit Entscheid vom 28. Juni 2018 wies der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien, im Folgenden: CCE), der für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidungen des Amtes in erster Instanz zuständig ist, die von G. M. A. gegen die Entscheidung des Amtes erhobene Klage ab.

14      G. M. A. legte daraufhin beim vorlegenden Gericht, dem Conseil d’État (Staatsrat, Belgien), Kassationsbeschwerde ein und machte erstens geltend, im Licht des Urteils vom 26. Februar 1991, Antonissen (C‑292/89, EU:C:1991:80), ergebe sich aus Art. 45 AEUV, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, Arbeitsuchenden aus einem anderen Mitgliedstaat eine „angemessene Frist“ einzuräumen, um es ihnen zu ermöglichen, von Stellenangeboten Kenntnis zu erlangen, die für sie geeignet sein könnten, und die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um eingestellt zu werden. Diese Frist dürfe keinesfalls auf weniger als sechs Monate bemessen sein, wie sich aus einer analogen Auslegung von Art. 7 Abs. 3 in Verbindung mit den Art. 11 und 16 der Richtlinie 2004/38 ergebe.

15      Außerdem brauche der Arbeitsuchende während der gesamten Dauer dieses Zeitraums nicht nachzuweisen, dass er eine begründete Aussicht auf eine Einstellung habe.

16      Zweitens machte G. M. A. geltend, dass ihn das Europäische Parlament, nachdem die Entscheidung des Amtes erlassen worden sei, am 6. April 2016 als Praktikanten eingestellt habe. Das zeige, dass er eine begründete Aussicht auf eine Einstellung gehabt habe und ihm folglich ein Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten hätte eingeräumt werden können.

17      Somit habe der CCE dadurch, dass er die Einstellung von G. M. A. nicht berücksichtigt habe, gegen die Art. 15 und 31 der Richtlinie 2004/38 sowie gegen die Art. 41 und 47 der Charta verstoßen. Aus diesen Bestimmungen ergebe sich nämlich, dass die Gerichte, die für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsentscheidung über das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers zuständig seien, alle relevanten Umstände umfassend prüfen und alle ihnen zur Kenntnis gebrachten Tatsachen berücksichtigen müssten, selbst wenn diese zeitlich nach der fraglichen Entscheidung eingetreten seien.

18      Aus diesen Gründen hätte der CCE die nationale Verfahrensvorschrift, mit der die Art. 15 und 31 der Richtlinie 2004/38 fehlerhaft in das belgische Recht umgesetzt worden seien, nämlich Art. 39/2 § 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 – auf dessen Grundlage dieses Gericht seine nach Erlass der Entscheidung des Amtes erfolgte Einstellung als Praktikant außer Acht gelassen habe – unangewendet lassen müssen.

19      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hängt die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung des Art. 45 AEUV, der Art. 15 und 31 der Richtlinie 2004/38 sowie der Art. 41 und 47 der Charta durch den Gerichtshof ab. Sollten diese Bestimmungen in dem von G. M. A. vertretenen Sinne auszulegen sein, stünde ihm nämlich ein Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten im belgischen Hoheitsgebiet zu.

20      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 45 AEUV so auszulegen und anzuwenden, dass der Aufnahmemitgliedstaat verpflichtet ist, erstens, einem Arbeitsuchenden einen angemessenen Zeitraum einzuräumen, um es ihm zu ermöglichen, von in Betracht kommenden Stellenangeboten Kenntnis zu nehmen und die für eine Einstellung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, zweitens, anzuerkennen, dass der Zeitraum für die Arbeitsuche keinesfalls weniger als sechs Monate betragen dürfe, und, drittens, es einem Arbeitsuchenden zu gestatten, sich während dieses gesamten Zeitraums in seinem Hoheitsgebiet aufzuhalten, ohne von ihm den Nachweis zu verlangen, dass er eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden?

2.      Sind die Art. 15 und 31 der Richtlinie 2004/38 und die Art. 41 und 47 der Charta sowie die allgemeinen Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts und der praktischen Wirksamkeit von Richtlinien so auszulegen und anzuwenden, dass die nationalen Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats im Rahmen einer Klage auf Aufhebung einer Entscheidung, mit der die Anerkennung eines mehr als dreimonatigen Aufenthaltsrechts eines Unionsbürgers verweigert wird, verpflichtet sind, neue Gesichtspunkte, die nach der Entscheidung der nationalen Behörden eingetreten sind, zu berücksichtigen, wenn sie eine Änderung der Situation des Betroffenen bewirken können, die keine Beschränkung seiner Aufenthaltsrechte im Aufnahmemitgliedstaat mehr zuließe?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

21      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht (Urteil vom 23. April 2020, Land Niedersachsen [Einschlägige Vordienstzeiten], C‑710/18, EU:C:2020:299, Rn. 18).

22      Im vorliegenden Fall ersucht das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage zwar nur um eine Auslegung von Art. 45 AEUV; gleichwohl ist zu beachten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 speziell auf Arbeitsuchende abzielt. Nach dieser Bestimmung darf gegen Unionsbürger nämlich keine Ausweisung verfügt werden, wenn sie zum einen in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um dort Arbeit zu suchen, und solange sie zum anderen nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.

23      Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 45 AEUV und Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass der Aufnahmemitgliedstaat verpflichtet ist, einem Arbeitsuchenden eine angemessene Frist einzuräumen, damit er von Stellenangeboten, die für ihn in Betracht kommen, Kenntnis erlangen und die für seine Einstellung erforderlichen Maßnahmen ergreifen kann, dass diese Frist auf keinen Fall weniger als sechs Monate betragen darf und dass der Aufnahmemitgliedstaat während dieses Zeitraums vom Arbeitsuchenden den Nachweis verlangen kann, dass er eine Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.

24      Was als Erstes die Frage betrifft, ob der Aufnahmemitgliedstaat verpflichtet ist, Arbeitsuchenden eine „angemessene Frist“ einzuräumen, damit sie von für sie geeigneten Stellenangeboten Kenntnis erlangen und die für ihre Einstellung erforderlichen Maßnahmen ergreifen können, ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 45 AEUV ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, der nicht eng ausgelegt werden darf (Urteil vom 21. Februar 2013, N., C‑46/12, EU:C:2013:97, Rn. 39). Insbesondere ist derjenige, der tatsächlich eine Arbeit sucht, als „Arbeitnehmer“ zu qualifizieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix, C‑507/12, EU:C:2014:2007, Rn. 35).

25      Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu den Grundlagen der Union gehört und die Vorschriften, in denen diese Freiheit verankert ist, daher weit ausgelegt werden müssen. Insbesondere würde eine enge Auslegung von Art. 45 Abs. 3 AEUV die Chancen eines arbeitsuchenden Angehörigen eines Mitgliedstaats vermindern, in den anderen Mitgliedstaaten eine Stelle zu finden, und dieser Bestimmung damit ihre praktische Wirksamkeit nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 1991, Antonissen, C‑292/89, EU:C:1991:80, Rn. 11 und 12).

26      Daraus folgt, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer das Recht der Angehörigen der Mitgliedstaaten einschließt, sich im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten frei zu bewegen und sich dort aufzuhalten, um eine Stelle zu suchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 1991, Antonissen, C‑292/89, EU:C:1991:80, Rn. 13), ein Recht, das der Unionsgesetzgeber in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 kodifiziert hat. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die praktische Wirksamkeit von Art. 45 AEUV gewahrt ist, wenn der Zeitraum, den das Unionsrecht oder in Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung das Recht eines Mitgliedstaats dem Betroffenen einräumt, um im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats von Stellenangeboten, die seinen beruflichen Qualifikationen entsprechen, Kenntnis nehmen und sich gegebenenfalls bewerben zu können, angemessen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 1991, Antonissen, C‑292/89, EU:C:1991:80, Rn. 16).

27      Folglich ist davon auszugehen, dass der Aufnahmemitgliedstaat den Arbeitsuchenden einen angemessenen Zeitraum einräumen muss, der es ihnen ermöglicht, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats von den Stellenangeboten, die ihren beruflichen Qualifikationen entsprechen, Kenntnis zu nehmen und die für ihre Einstellung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

28      Was als Zweites die Dauer dieses Zeitraums betrifft, ist erstens darauf hinzuweisen, dass alle Unionsbürger nach Art. 6 der Richtlinie 2004/38 das Recht haben, sich für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufzuhalten, und dass dieses Recht an keine weiteren Bedingungen oder Formalitäten geknüpft ist, außer der Verpflichtung, im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses zu sein.

29      Art. 7 der Richtlinie 2004/38 regelt die Fälle, in denen ein Unionsbürger ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate haben kann.

30      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Art. 14 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie die Voraussetzungen festlegt, unter denen Unionsbürger das in Art. 6 oder in Art. 7 der Richtlinie vorgesehene Aufenthaltsrecht gegebenenfalls aufrechterhalten können.

31      Insbesondere bleibt nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 das in ihrem Art. 6 genannte Aufenthaltsrecht bestehen, solange die Betroffenen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Art. 14 Abs. 2 dieser Richtlinie sieht u. a. vor, dass Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen ein Aufenthaltsrecht für mehr als drei Monate zusteht, solange sie die Voraussetzungen des Art. 7 dieser Richtlinie erfüllen.

32      Wie sich aus Rn. 22 des vorliegenden Urteils ergibt, zielt Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38, der eine Ausnahme von Art. 14 Abs. 1 und 2 vorsieht, speziell auf Arbeitsuchende ab.

33      Daraus folgt, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 speziell die Voraussetzungen festlegt, von denen die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts von Unionsbürgern abhängt, die ihren Herkunftsmitgliedstaat verlassen haben, um im Aufnahmemitgliedstaat Arbeit zu suchen. Diese Bestimmung, die der Unionsgesetzgeber erlassen hat, um die Lehren zu kodifizieren, die sich aus dem – das auf Art. 45 AEUV gestützte Aufenthaltsrecht von Arbeitsuchenden betreffenden – Urteil vom 26. Februar 1991, Antonissen (C‑292/89, EU:C:1991:80), ergeben, regelt gleichwohl auch unmittelbar das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern, die den Status von Arbeitsuchenden haben, wie sich insbesondere aus Rn. 52 des Urteils vom 15. September 2015, Alimanovic (C‑67/14, EU:C:2015:597), ergibt.

34      Reist ein Unionsbürger in das Hoheitsgebiet eines Aufnahmemitgliedstaats ein, um dort Arbeit zu suchen, fällt sein Aufenthaltsrecht daher ab dem Zeitpunkt seiner Registrierung als Arbeitsuchender unter Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38.

35      Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Art. 6 der Richtlinie 2004/38 seinem Wortlaut nach unterschiedslos für alle Unionsbürger gilt, unabhängig von der Absicht, mit der sie in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats einreisen. Daraus folgt, dass das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers auch dann, wenn er in das Hoheitsgebiet eines Aufnahmemitgliedstaats einreist, um dort Arbeit zu suchen, während der ersten drei Monate unter Art. 6 der Richtlinie 2004/38 fällt.

36      Unter diesen Umständen darf von dem Unionsbürger während des in dieser Bestimmung genannten Zeitraums von drei Monaten zum einen nicht verlangt werden, eine andere Voraussetzung zu erfüllen als die, ein gültiges Ausweisdokument zu besitzen.

37      Zum anderen ist davon auszugehen, dass die in Rn. 27 des vorliegenden Urteils genannte angemessene Frist ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der betreffende Unionsbürger beschlossen hat, sich im Aufnahmemitgliedstaat als Arbeitsuchender registrieren zu lassen.

38      Was zweitens die Möglichkeit betrifft, die Mindestdauer dieser angemessenen Frist zu bestimmen, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 hierzu keinen Hinweis enthält.

39      Unter diesen Umständen ist zunächst daran zu erinnern, dass eine solche Frist, wie sich aus Rn. 26 des vorliegenden Urteils ergibt, geeignet sein muss, die praktische Wirksamkeit von Art. 45 AEUV zu gewährleisten.

40      Sodann hat der Gerichtshof in Rn. 21 des Urteils vom 26. Februar 1991, Antonissen (C‑292/89, EU:C:1991:80), zwar keine Mindestdauer der angemessenen Frist festgelegt, aber entschieden, dass ein Zeitraum von sechs Monaten ab der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Aufnahmemitgliedstaats wie des in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, in Rede stehenden diese praktische Wirksamkeit nicht in Frage stellen kann.

41      Schließlich ist in diesem Zusammenhang den Zielen der Richtlinie 2004/38 Rechnung zu tragen, die die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und dieses Recht stärken soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. April 2019, Tarola, C‑483/17, EU:C:2019:309, Rn. 23).

42      In Anbetracht dieser Erwägungen erscheint ein Zeitraum von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Registrierung grundsätzlich nicht als unzureichend und stellt die praktische Wirksamkeit von Art. 45 AEUV nicht in Frage.

43      Was als Drittes die Verpflichtungen betrifft, die der Aufnahmemitgliedstaat dem Arbeitsuchenden während dieses angemessenen Zeitraums auferlegen kann, ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38, wie aus Rn. 22 des vorliegenden Urteils hervorgeht, dass gegen den Arbeitsuchenden keine Ausweisung verfügt werden darf, wenn er nachweist, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. Diese Bestimmung übernimmt im Wesentlichen den in Rn. 21 des Urteils vom 26. Februar 1991, Antonissen (C‑292/89, EU:C:1991:80), aufgestellten Grundsatz, wonach der Betroffene nicht gezwungen werden darf, das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu verlassen, wenn er nach Ablauf eines angemessenen Zeitraums nachweist, dass er „weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht“.

44      Da der Arbeitsuchende mithin nach Ablauf dieses angemessenen Zeitraums „weiterhin“ Arbeit suchen muss, um das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats nicht verlassen zu müssen, ist daraus abzuleiten, dass der Aufnahmemitgliedstaat bereits während dieses Zeitraums von ihm verlangen kann, Arbeit zu suchen. Hingegen kann dieser Mitgliedstaat während dieses Zeitraums vom Betroffenen nicht den Nachweis verlangen, dass er eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.

45      Diese Auslegung wird dadurch gestützt, dass der Zweck eines solchen angemessenen Zeitraums, wie sich aus Rn. 27 des vorliegenden Urteils ergibt, darin besteht, es dem Arbeitsuchenden zu ermöglichen, von den seinen persönlichen Qualifikationen entsprechenden Stellenangeboten Kenntnis zu nehmen und die für seine Einstellung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen; erst nach Ablauf eines solchen Zeitraums sind die zuständigen nationalen Behörden in der Lage, zu beurteilen, ob der Betroffene weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.

46      Somit muss der Arbeitsuchende erst nach Ablauf dieses angemessenen Zeitraums nachweisen, dass er nicht nur weiterhin Arbeit sucht, sondern auch, dass er eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.

47      Es ist Sache der Behörden und Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats, die von dem betreffenden Arbeitsuchenden hierfür vorgelegten Beweise zu würdigen. Insoweit werden diese Behörden und Gerichte im Rahmen einer Gesamtbetrachtung alle relevanten Gesichtspunkte prüfen müssen, z. B., wie der Generalanwalt in den Nrn. 75 und 76 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ob dieser Arbeitsuchende sich bei der für Arbeitsuchende zuständigen nationalen Stelle hat registrieren lassen, ob er sich regelmäßig mit Bewerbungsschreiben an potenzielle Arbeitgeber wendet oder ob er sich zu Vorstellungsgesprächen begibt. Bei dieser Beurteilung müssen die genannten Behörden und Gerichte die Lage in dem Bereich des nationalen Arbeitsmarkts berücksichtigen, der den persönlichen Qualifikationen des betreffenden Arbeitsuchenden entspricht. Dagegen kann der Umstand, dass der Arbeitsuchende Stellenangebote abgelehnt hat, die seinen beruflichen Qualifikationen nicht entsprechen, kein Grund für die Annahme sein, dass er die Voraussetzungen von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 nicht erfüllt.

48      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den vorstehenden Erwägungen, dass G. M. A. zu dem Zeitpunkt, als er seinen Antrag auf Registrierung als Arbeitsuchender stellte, d. h. am 27. Oktober 2015, zumindest über einen angemessenen Zeitraum verfügen musste, in dem die belgischen Behörden von ihm lediglich den Nachweis verlangen konnten, dass er auf der Suche nach Arbeit war.

49      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen geht hervor, dass die Entscheidung des Amtes, mit der G. M. A. ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate im belgischen Hoheitsgebiet verweigert wurde, damit begründet worden war, dass die von G. M. A. zur Stützung seines Antrags vorgelegten Beweise nicht geeignet seien, eine begründete Aussicht auf Einstellung zu belegen.

50      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass Art. 45 AEUV und Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 einer nationalen Regelung entgegenstehen, die für einen Arbeitsuchenden, der sich in einer Situation wie der von G. M. A. befindet, ein solches Erfordernis aufstellt.

51      Nach alledem ist die erste Frage wie folgt zu beantworten:

–        Art. 45 AEUV und Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 sind dahin auszulegen, dass der Aufnahmemitgliedstaat verpflichtet ist, einem Unionsbürger einen angemessenen Zeitraum einzuräumen, der zu dem Zeitpunkt beginnt, zu dem sich dieser Unionsbürger als Arbeitsuchender hat registrieren lassen, um es ihm zu ermöglichen, von Stellenangeboten, die für ihn in Betracht kommen, Kenntnis zu nehmen und die für eine Einstellung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

–        Während dieses Zeitraums kann der Aufnahmemitgliedstaat vom Arbeitsuchenden den Nachweis verlangen, dass er auf der Suche nach Arbeit ist. Erst nach Ablauf dieses Zeitraums kann dieser Mitgliedstaat vom Arbeitsuchenden verlangen, nicht nur nachzuweisen, dass er weiterhin Arbeit sucht, sondern auch, dass er eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.

 Zur zweiten Frage

52      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 15 und 31 der Richtlinie 2004/38, die Art. 41 und 47 der Charta sowie die Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts und der praktischen Wirksamkeit dahin auszulegen sind, dass die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats verpflichtet sind, im Rahmen der Prüfung eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, mit der einem Arbeitsuchenden ein Recht auf Aufenthalt von mehr als drei Monaten verweigert wurde, eine unbeschränkte Nachprüfung vorzunehmen und Umstände zu berücksichtigen, die nach dieser Entscheidung eingetreten sind, wenn diese Umstände geeignet sind, die Situation dieses Arbeitsuchenden zu ändern und die Gewährung dieses Aufenthaltsrechts zu rechtfertigen.

53      Aus der Antwort auf die erste Frage ergibt sich, dass die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats während des Zeitraums, der der in Rn. 51 des vorliegenden Urteils genannten angemessenen Frist entspricht, von dem betreffenden Arbeitsuchenden nicht den Nachweis verlangen können, dass er eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. Da G. M. A. im vorliegenden Fall durch die Entscheidung des Amtes Verpflichtungen auferlegt wurden, die gegen Art. 45 AEUV und Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 verstoßen, erscheint es somit nicht erforderlich, zu prüfen, ob die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats nach dieser Entscheidung eingetretene Umstände berücksichtigen müssen, um dem Kläger des Ausgangsverfahrens ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchender zuzuerkennen.

54      Unter diesen Umständen braucht die zweite Vorlagefrage nicht beantwortet zu werden.

 Kosten

55      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 45 Abs. 1 AEUV und Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG sind dahin auszulegen, dass der Aufnahmemitgliedstaat verpflichtet ist, einem Unionsbürger einen angemessenen Zeitraum einzuräumen, der zu dem Zeitpunkt beginnt, zu dem sich dieser Unionsbürger als Arbeitsuchender hat registrieren lassen, um es ihm zu ermöglichen, von Stellenangeboten, die für ihn in Betracht kommen, Kenntnis zu nehmen und die für eine Einstellung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

Während dieses Zeitraums kann der Aufnahmemitgliedstaat vom Arbeitsuchenden den Nachweis verlangen, dass er auf der Suche nach Arbeit ist. Erst nach Ablauf dieses Zeitraums kann dieser Mitgliedstaat vom Arbeitsuchenden verlangen, nicht nur nachzuweisen, dass er weiterhin Arbeit sucht, sondern auch, dass er eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.