SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 25. November 2021(1)

Rechtssache C519/20

K,

Verfahrensbeteiligter:

Landkreis Gifhorn

(Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Hannover [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Gemeinsame Normen und Verfahren im Bereich der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Art. 16 Abs. 1 – Begriff ‚spezielle Hafteinrichtung‘ – Art. 18 Abs. 1 – Begriff ‚Notlage‘ – Nationale Regelung, nach der die Haft bei Vorliegen einer Notlage in gewöhnlichen Haftanstalten vollzogen werden kann – Umfang der Beurteilung durch die für die Inhaftnahme zuständige Justizbehörde“






I.      Einleitung

1.        In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof ersucht, mehrere in der Richtlinie 2008/115/EG(2) genannte Modalitäten für die Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen im Einklang mit den Urteilen vom 17. Juli 2014, Bero und Bouzalmate(3), vom 17. Juli 2014, Pham(4), sowie vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main(5), zu präzisieren.

2.        Bei dieser Rechtssache handelt es sich um den besonderen Fall, dass sich die Bundesrepublik Deutschland auf eine Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie beruft, um von der Regel abzuweichen, nach der diese Drittstaatsangehörigen für die Zwecke ihrer Abschiebung in speziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden. Auf der Grundlage dieser Rechtslage wurde K, ein pakistanischer Staatsangehöriger, im September 2020 in der Abteilung Langenhagen der Justizvollzugsanstalt der Stadt Hannover (Deutschland) inhaftiert.

3.        Das Amtsgericht Hannover (Deutschland) muss nun die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme im Hinblick auf die Bestimmungen der Art. 16 und 18 der Richtlinie 2008/115 beurteilen. Zu diesem Zweck hat es dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

4.        Zunächst ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klarstellung der Voraussetzungen, unter denen sich ein Mitgliedstaat auf eine Notlage im Sinn von Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie berufen kann, um die Inhaftierung abzuschiebender Drittstaatsangehöriger in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu gestatten. Sodann ersucht dieses Gericht den Gerichtshof, die Befugnisse der für die Inhaftnahme zuständigen Justizbehörde in diesem Zusammenhang festzulegen. Schließlich möchte dieses Gericht wissen, ob die Abteilung Langenhagen, in der K untergebracht wurde, als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen werden kann. Diese Frage wird es dem Gerichtshof ermöglichen, die Kriterien festzulegen, anhand deren sich eine spezielle Hafteinrichtung von einer gewöhnlichen Haftanstalt unterscheidet, vor allem in Bezug auf die Leitung der Einrichtung, die Haftregelung und die materiellen Haftbedingungen.

5.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich in einem ersten Schritt die Gründe darlegen, weshalb ich der Ansicht bin, dass eine nationale Regelung, die für die Dauer von drei Jahren die Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in Justizvollzugsanstalten erlaubt, die vom Unionsgesetzgeber in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 angeführten Voraussetzungen für eine Notlage nicht erfüllt.

6.        In einem zweiten Schritt werde ich erklären, dass der Erlass außergewöhnlicher Maßnahmen auf der Grundlage dieses Artikels die für die Inhaftnahme zuständige Justizbehörde nicht daran hindern kann, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Umstände, die die Anerkennung einer Notlage gerechtfertigt haben, noch vorliegen.

7.        In einem dritten Schritt werde ich die Gründe darlegen, weshalb ich der Auffassung bin, dass eine Einstufung der Abteilung Langenhagen der Justizvollzugsanstalt der Stadt Hannover als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinn von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 am Tag der Inhaftnahme von K in Anbetracht der Angaben sowohl des vorlegenden Gerichts als auch der deutschen Regierung nicht möglich zu sein scheint.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Richtlinie 2008/115

8.        In den Erwägungsgründen 13, 16, 17 und 24 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„(13)      Der Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele ausdrücklich den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Wirksamkeit unterliegen. […] Die Mitgliedstaaten sollten über verschiedene Möglichkeiten verfügen, Rückführungen zu überwachen.

(16)      Das Mittel der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung sollte nur begrenzt zum Einsatz kommen und sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen. Eine Inhaftnahme ist nur gerechtfertigt, um die Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen und wenn weniger intensive Zwangsmaßnahmen ihren Zweck nicht erfüllen.

(17)      In Haft genommene Drittstaatsangehörige sollten eine menschenwürdige Behandlung unter Beachtung ihrer Grundrechte und im Einklang mit dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht erfahren. Unbeschadet des ursprünglichen Aufgriffs durch Strafverfolgungsbehörden, für den einzelstaatliche Rechtsvorschriften gelten, sollte die Inhaftierung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgen.

(24)      Die Richtlinie wahrt die Grundrechte und Grundsätze, die vor allem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind.“

9.        Art. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des [Unions‑] und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

10.      Art. 16 („Haftbedingungen“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt in seinem Abs. 1:

„Die Inhaftierung erfolgt grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht.“

11.      In Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie heißt es:

„Bis zur Abschiebung in Haft genommene Familien müssen eine gesonderte Unterbringung erhalten, die ein angemessenes Maß an Privatsphäre gewährleistet.“

12.      Art. 18 („Notlagen“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Führt eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals, so kann der betreffende Mitgliedstaat, solange diese außergewöhnliche Situation anhält, … dringliche Maßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen ergreifen, die von den Haftbedingungen nach den Artikeln 16 Absatz 1 und 17 Absatz 2 abweichen.

(2)      Ein Mitgliedstaat, der auf diese außergewöhnlichen Maßnahmen zurückgreift, setzt die [Europäische] Kommission davon in Kenntnis. Er unterrichtet die Kommission ebenfalls, sobald die Gründe für die Anwendung dieser außergewöhnlichen Maßnahmen nicht mehr vorliegen.

(3)      Dieser Artikel ist nicht so auszulegen, als gestatte er den Mitgliedstaaten eine Abweichung von ihrer allgemeinen Verpflichtung, alle geeigneten – sowohl allgemeinen als auch besonderen – Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren aus dieser Richtlinie hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen.“

13.      Im Rahmen ihres Vorschlags für eine Neufassung der Richtlinie 2008/115(6) schlägt die Kommission keine Änderung der in den Art. 16 und 18 dieser Richtlinie enthaltenen Regeln vor.

B.      Deutsches Recht

14.      Nach den Art. 83 und 84 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ist es Aufgabe der Bundesländer, die zur Sicherung der Abschiebung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger angeordnete Haft zu vollziehen.

15.      § 62a Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet(7) vom 30. Juli 2004 in der vom 29. Juli 2017 bis 20. August 2019 geltenden Fassung, mit dem Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 umgesetzt werden sollte, lautete:

„Die Abschiebungshaft wird grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen im Bundesgebiet nicht vorhanden oder geht von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus, kann sie in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen.“

16.      Diese Vorschrift wurde nach dem Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht(8) vom 15. August 2019 geändert.

17.      Art. 1 Nr. 22 dieses Gesetzes bestimmt:

„§ 62a Absatz 1 [AufenthG] wird wie folgt gefasst:

‚(1) Abschiebungsgefangene sind getrennt von Strafgefangenen unterzubringen. Werden mehrere Angehörige einer Familie inhaftiert, so sind diese getrennt von den übrigen Abschiebungsgefangenen unterzubringen. Ihnen ist ein angemessenes Maß an Privatsphäre zu gewährleisten.‘“

18.      In der Begründung dieses Gesetzesentwurfs heißt es zu Art. 1 Nr. 22(9):

„Durch die Änderung des § 62a Absatz 1 sind Abschiebungshaftgefangene vorübergehend nach Maßgabe des Artikels 18 Absatz 1 der [Richtlinie 2008/115] nicht mehr in speziellen Hafteinrichtungen unterzubringen. Demnach kann Abschiebungshaft in sämtlichen Hafteinrichtungen vorübergehend und mit bis zu 500 Haftplätzen in Justizvollzugsanstalten vollzogen werden. Eine getrennte Unterbringung der Abschiebungsgefangenen von Strafgefangenen innerhalb von Haftanstalten ist weiterhin vorgeschrieben. Zudem gilt die bisherige Maßgabe zur Unterbringung von mehreren Angehörigen einer Familie nach § 62a Absatz 1 Satz 3 und 4 sowie die Vorgaben der Artikel 16 und 17 der [Richtlinie 2008/115]. Auch die Prüfung und Entscheidung, ob eine Unterbringung in einer Haftanstalt in einem konkreten Einzelfall beispielsweise bei vulnerablen Gruppen zumutbar beziehungsweise zulässig ist, muss weiterhin erfolgen. Es ist vorgesehen, dass die Justizbehörden der Länder bis zu 500 Haftplätze für Abschiebungshaftgefangene bereitstellen, damit in Zusammenschau mit dem vorgesehenen Aufwuchs von Abschiebungshaftplätzen in den Haftanstalten der Länder insgesamt circa 1000 Abschiebungshaftplätze zur Verfügung stehen. … Artikel 18 Absatz 1 der [Richtlinie 2008/115] eröffnet für Notlagen die Möglichkeit, vom Trennungsgebot nach Artikel 16 Absatz 1 sowie von der Vorgabe des Artikel 17 Absatz 2, nach der Familien gesonderte Unterbringung erhalten müssen, abzuweichen. Das Trennungsgebot ist bislang im deutschen Recht in § 62a Absatz 1 Satz 1 und 2 umgesetzt. Die Vorgabe an die Unterbringung von Familien ist national in § 62a Absatz 1 Satz 3 und 4 geregelt. Die Voraussetzung für die Abweichungsmöglichkeit nach Artikel 18 Absatz 1 ist, dass eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen oder des Verwaltungs- oder Justizpersonals führt. Diese Voraussetzung ist für Deutschland erfüllt. In Deutschland besteht nur eine Kapazität von bundesweit etwa 487 (Stand 27. März 2019) Abschiebungshaftplätzen. Aufgrund des Missverhältnisses von vollziehbar Ausreisepflichtigen und Abschiebungshaftplätzen ist diese bestehende Kapazität deutlich überlastet. Diese Überlastung ist in der Praxis ein wesentlicher Engpass, der der Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht entgegensteht. Die bestehenden Abschiebungshaftplätze werden bereits bundesweit durch Koordination der Länder bestmöglich genutzt. Zur Verbesserung der Vermittlung von Abschiebungshaftplätzen dient auch das im Jahr 2017 eingerichtete Gemeinsame Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr (ZUR) [Deutschland]. Die Vermittlungsquote von Haftplätzen bundesweit aus dem ZUR liegt im unteren zweistelligen Prozentbereich. Damit können in der Praxis trotz Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen zahlreiche Haftanträge nicht gestellt werden. Die Überlastung der Kapazitäten war auch unvorhersehbar. Nachdem die Zahl der neu-ankommenden Schutzsuchenden vor 2015 über Jahre gesunken war, hatten die Länder entsprechend des zu diesem Zeitpunkt geringeren Bedarfs Kapazitäten an Abschiebungshaftplätzen in den Jahren zuvor nach unten angepasst. Mit der veränderten Situation im Jahr 2015 und dem sprunghaften Anstieg der Zahl der [internationalen Schutz Suchenden] waren Bund und Länder primär verpflichtet, Kapazitäten für die Versorgung der Menschen aufzubauen. Diese Verpflichtung ergibt sich unter anderem aus [dem Unionsrecht], insbesondere der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie) [ABl. 2013, L 180, S. 96] sowie der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations-Richtlinie) [ABl. 2011, L 337, S. 9] und darüber hinaus aus der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention)[(10)]. Die Versorgung der neuankommenden Menschen in dieser Situation hatte Vorrang vor dem Ausbau der Haftkapazitäten, mit dem Zweck, zu einem späteren Zeitpunkt (nach Abschluss des Asyl- und Rechtsmittelverfahrens) die Regelanforderungen der Rückführungsrichtlinie erfüllen zu können. Denn Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung des Artikels 18 [dieser Richtlinie] ist gerade, in dieser Situation den Behörden die Möglichkeit zu geben, die Versorgung der Neuankommenden prioritär zu bearbeiten, ohne absehbar Rechtspflichten in der Zukunft zu verletzen. Die [Richtlinie 2008/115] stellt nicht nur Anforderungen an die Haftbedingungen, sie schreibt auch in Artikel 8 Absatz 1 fest, dass die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu ergreifen haben. Artikel 18 der [Richtlinie 2008/115] dient gerade der Auflösung des möglichen Zielkonflikts in einer unvorhersehbaren Ausnahmesituation, wie sie in den Jahren 2015 und folgende vorlag, so dass seine Anwendung gegenwärtig geboten ist. Nach Beendigung der Ausnahmesituation haben die Länder den Ausbau der Haftkapazitäten unmittelbar begonnen und bereits eine Steigerung der Zahl auf bundesweit 487 (Stand 27. März 2019) Haftplätze erreicht. Entsprechend des üblichen Zeitaufwandes, der für Bauvorhaben beziehungsweise die Errichtung von Abschiebungshaftanstalten besteht, ist eine vollständige Anpassung der Zahl der Abschiebungshaftplätze an den gegenwärtigen Bedarf noch nicht erreicht. Eine den Bedarf deckende Zahl an Abschiebungshaftplätzen ist aufgrund der eingeleiteten Maßnahmen zum 30. Juni 2022 zu erwarten. Bis zu diesem Zeitpunkt liegt ein Anhalten der außergewöhnlichen Situation vor, so dass § 62a Absatz 1 bis zu diesem Zeitpunkt außer Kraft zu setzen ist. Danach tritt wieder die derzeit geltende Rechtslage ein.“

19.      Art. 6 („Weitere Änderung des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Juli 2022“) des Zweiten Gesetzes zur Verbesserung der Durchsetzung der Ausreisepflicht lautet:

„§ 62a Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), das zuletzt durch Artikel 1 dieses Gesetzes geändert worden ist, wird wie folgt gefasst:

‚Die Abschiebungshaft wird grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen im Bundesgebiet nicht vorhanden oder geht von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus, kann sie in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen. Werden mehrere Angehörige einer Familie inhaftiert, so sind diese getrennt von den übrigen Abschiebungsgefangenen unterzubringen. Ihnen ist ein angemessenes Maß an Privatsphäre zu gewährleisten.‘“

III. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

20.      Der Beschwerdeführer K ist pakistanischer Staatsangehöriger und wurde am 11. August 2020 in der Abteilung Langenhagen der Justizvollzugsanstalt der Stadt Hannover in Abschiebungshaft genommen. Diese Maßnahme wurde mit Beschluss vom 25. September 2020 bis 12. November 2020 verlängert. Der Beschwerdeführer legte gegen diesen Beschluss Beschwerde ein und begründete sie damit, dass die Maßnahme seiner Inhaftierung vom 25. September bis 2. Oktober 2020 gegen die Pflicht zur Unterbringung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in einer „speziellen Hafteinrichtung“ im Sinne von § 62a Abs. 1 AufenthG in der vom 29. Juli 2017 bis 20. August 2019 geltenden Fassung verstoße.

21.      Im Rahmen der Beurteilung der Begründetheit dieser Beschwerde möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die durch § 62a Abs. 1 AufenthG ab dem 15. August 2019 eingeführten Änderungen im Hinblick auf die in Art. 18 der Richtlinie 2008/115 genannten Voraussetzungen rechtmäßig sind.

22.      Da es hinsichtlich der Auslegung dieser Vorschrift Zweifel hegt, hat das Amtsgericht Hannover beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Unionsrecht, insbesondere Art. 18 Abs. 1 und Abs. 3 der Richtlinie 2008/115, dahin gehend auszulegen, dass ein nationales Gericht, das über die Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung entscheidet, in jedem Einzelfall die Voraussetzungen der Vorschrift, insbesondere, dass die außergewöhnliche Situation noch anhält, überprüfen muss, wenn der nationale Gesetzgeber unter Berufung auf Art. 18 Abs. 1 im nationalen Recht von den Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 1 abgewichen ist?

2.      Ist Unionsrecht, insbesondere Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin gehend auszulegen, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, welche vorübergehend bis zum 1. Juli 2022 die Unterbringung von Abschiebungsgefangenen in einer Justizvollzugsanstalt erlaubt, obwohl spezielle Hafteinrichtungen in dem Mitgliedstaat vorhanden sind und keine Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dies zwingend erfordert?

3.      Ist Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin gehend auszulegen, dass eine „spezielle Hafteinrichtung“ für die Inhaftierung von Abschiebungsgefangenen allein schon deshalb nicht vorliegt, wenn:

–        die „spezielle Hafteinrichtung“ mittelbar demselben Regierungsmitglied wie Hafteinrichtungen für Strafgefangene, nämlich der Justizministerin, untersteht,

–        die „spezielle Hafteinrichtung“ als Abteilung einer Justizvollzugsanstalt organisiert ist und damit zwar eine eigene Leiterin hat, aber als eine von mehreren Abteilungen der Justizvollzugsanstalt insgesamt der Leitung der Justizvollzugsanstalt untersteht?

4.      Falls die Frage 3 mit Nein beantwortet wird:

Ist Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin gehend auszulegen, dass eine Unterbringung in einer „speziellen Hafteinrichtung“ für Abschiebungsgefangene vorliegt, wenn eine Justizvollzugsanstalt eine spezielle Abteilung für ein Abschiebungsgefängnis einrichtet, diese Abteilung ein spezielles Gelände mit drei Gebäuden innerhalb der Umzäunung für Abschiebungsgefangene betreibt und von diesen drei Gebäuden ein Gebäude vorübergehend ausschließlich mit Strafgefangenen belegt wird, die Ersatzfreiheitsstrafen oder kurze Freiheitsstrafen verbüßen, wobei von der Justizvollzugsanstalt auf eine Trennung der Abschiebungsgefangenen und Strafgefangenen geachtet wird, insbesondere jedes Haus über eigene Einrichtungen (eigene Kleiderkammer, eigene Krankenstation, eigener Sportraum) verfügt und der Hof/Außenbereich zwar von allen Häusern sichtbar ist, aber für jedes Haus ein eigener, mit Maschendrahtzaun umzäunter Bereich für die Gefangenen besteht und so zwischen den Häusern kein direkter Zugang besteht?

23.      Der Beschwerdeführer, die deutsche und die niederländische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der niederländischen Regierung haben diese Beteiligten auch die Fragen beantwortet, die ihnen der Gerichtshof zur schriftlichen Beantwortung gestellt hat, und in der Sitzung vom 16. September 2021 mündlich verhandelt.

IV.    Würdigung

24.      Ich werde die Vorlagefragen in einer anderen Reihenfolge beantworten als der, in der das vorlegende Gericht sie gestellt hat.

25.      Zunächst werde ich die zweite Frage beantworten, bei der es um die Umstände geht, unter denen sich ein Mitgliedstaat auf das Vorliegen einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 berufen kann, um die Unterbringung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt anzuordnen. Diese Problematik scheint mir im Mittelpunkt des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens zu stehen. Der Gerichtshof hat sich zwar bereits über dringliche Maßnahmen geäußert, die vom Rat der Europäischen Union als Reaktion auf die Migrationskrise des Jahres 2015 erlassen wurden(11), er hat jedoch noch keine Gelegenheit gehabt, Hinweise zur Tragweite von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 zu geben, insbesondere zur Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt aus Gründen sicherzustellen, die mit dem Vorliegen einer nationalen Notlage zusammenhängen.

26.      Sodann werde ich die erste Frage prüfen, die die Rolle des für die Inhaftnahme zuständigen Richters betrifft, um festzustellen, inwieweit dieser in jedem Einzelfall prüfen muss, ob eine Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie vorliegt oder andauert.

27.      Schließlich werde ich zur Beantwortung der dritten und vierten Frage die Kriterien erläutern, anhand deren die Situation, in der der Drittstaatsangehörige in einer speziellen Hafteinrichtung untergebracht wird, von jener zu unterscheiden ist, in der er in einer gewöhnlichen Haftanstalt getrennt von Strafgefangenen untergebracht wird, vor allem in Bezug auf die Leitung der Einrichtung, die Haftregelung und die materiellen Haftbedingungen.

A.      Gründe, die die Inhaftierung abzuschiebender Drittstaatsangehöriger in einer gewöhnlichen Haftanstalt rechtfertigen (zweite Frage)

28.      Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen vom Gerichtshof wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 einer nationalen Regelung entgegensteht, die es gestattet, abzuschiebende Drittstaatsangehörige während eines Zeitraums von drei Jahren in einer Justizvollzugsanstalt unterzubringen, obwohl keine Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie vorliegt.

29.      Bevor ich diese Frage beantworte, werde ich in einem ersten Schritt auf die Grundsätze eingehen, die der Gerichtshof in den Urteilen Bero und Bouzalmate, Pham sowie Stadt Frankfurt am Main zu den Haftbedingungen aufgestellt hat, die der Unionsgesetzgeber in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in ihrer französischen Sprachfassung festlegt(12). Diese Urteile ergingen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten über die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Inhaftierungen auf der Grundlage von § 62a Abs. 1 AufenthG in seinen früheren Fassungen.

30.      Sodann werde ich in einem zweiten Schritt prüfen, inwiefern sich ein Mitgliedstaat auf das Vorliegen einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 berufen kann, um die Vollstreckung der Haft in einer gewöhnlichen Haftanstalt unabhängig von den besonderen Umständen des Einzelfalls zu rechtfertigen.

31.      Schließlich werde ich in einem dritten Schritt prüfen, inwiefern Rechtsvorschriften wie die des § 62a Abs. 1 AufenthG in seiner ab dem 15. August 2019 geltenden Fassung die in diesem Artikel genannten Voraussetzungen erfüllen.

1.      Allgemeine Regelung nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115

32.      Im Einklang mit Art. 79 Abs. 2 AEUV besteht das Ziel der Richtlinie 2008/115 in der Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik, die auf gemeinsamen Normen und rechtlichen Garantien beruht, die gewährleisten, dass die Betroffenen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden(13).

33.      Aus den Erwägungsgründen 13 und 16 sowie dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten die Abschiebung illegal aufhältiger Personen unter Einsatz möglichst wenig intensiver Zwangsmaßnahmen vornehmen müssen. Um die Effizienz von Abschiebungsverfahren zu gewährleisten, sieht diese Richtlinie daher eine Abstufung von Maßnahmen vor, die von der die Freiheit des Betroffenen am wenigsten beschränkenden Maßnahme – der Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise – bis zu den diese Freiheit am stärksten beschränkenden Maßnahmen – der Inhaftierung in einer speziellen Einrichtung – reichen. Nur wenn die Vollstreckung der Rückführungsentscheidung mittels Abschiebung nach einer anhand jedes Einzelfalls vorzunehmenden Beurteilung durch das Verhalten des Betroffenen gefährdet zu werden droht, können die Mitgliedstaaten ihm durch Inhaftnahme die Freiheit entziehen(14).

34.      Bei der letztgenannten Maßnahme handelt es sich um die einschneidendste freiheitsbeschränkende Maßnahme, die die Richtlinie 2008/115 im Rahmen eines Verfahrens der zwangsweisen Abschiebung gestattet(15). Sie stellt grundsätzlich ein letztes Mittel dar(16). Sie ist daher durch den Unionsgesetzgeber in Kapitel IV dieser Richtlinie strikt begrenzt worden, um zum einen die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele und zum anderen die Beachtung der Grundrechte der betroffenen Drittstaatsangehörigen zu gewährleisten(17).

35.      In diesem Zusammenhang legt Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 die Vorschriften über die Haftbedingungen und ‑regelung fest.

36.      Gemäß dem ersten Satz dieses Artikels erfolgt die Inhaftierung von illegal aufhältigen Abschiebungsgefangenen aus Drittländern grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Falls ein Mitgliedstaat dieses Erfordernis „nicht [erfüllen] kann“ und die Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt anordnet, verlangt der zweite Satz dieses Artikels, dass Drittstaatsangehörige gesondert von den Strafgefangenen unterzubringen sind.

37.      Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 soll die Achtung der Menschenwürde und der Grundrechte einer Person gewährleisten, die keine Straftat begangen hat, und sicherstellen, dass sich die Maßnahme der Inhaftierung von der Vollstreckung einer Strafe unterscheidet und unter Bedingungen und im Rahmen einer Regelung erfolgt, die an den rechtlichen Status dieser Person angepasst sind.

38.      Was die in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 genannte Verpflichtung zur Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung anbelangt, so hat der Gerichtshof entschieden, dass ihre Beachtung den Mitgliedstaaten als solche obliegt, und zwar unabhängig von ihrer jeweiligen Verwaltungs- oder Verfassungsstruktur(18). Die für die Unterbringung zuständigen Justizbehörden müssen daher in der Lage sein, die Inhaftierung in speziellen Hafteinrichtungen anzuordnen, indem sie gegebenenfalls auf Vereinbarungen über die Verwaltungszusammenarbeit zurückgreifen, die zu diesem Zweck abgeschlossen wurden(19).

39.      Was die in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 angeführte Ausnahme anlangt, so ist sie eng auszulegen(20). Nach Ansicht des Gerichtshofs dürfen nach dieser Vorschrift „die Mitgliedstaaten … ausnahmsweise und über die in … Art. 18 Abs. 1 [dieser Richtlinie] ausdrücklich genannten Fälle hinaus, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige zur Sicherung der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt unterbringen, wenn diese Mitgliedstaaten die Inhaftierung in speziellen Hafteinrichtungen aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht sicherstellen und dadurch die mit [dieser] Richtlinie verfolgten Ziele nicht einhalten können“(21). Der Gerichtshof hat entschieden, dass dies der Fall sein kann, wenn das individuelle Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats berührt(22), wobei die Anforderungen der öffentlichen Ordnung eng zu verstehen sind(23). Hingegen ist der Gerichtshof der Ansicht, dass weder der Wille des Betroffenen(24) noch das Fehlen einer speziellen Hafteinrichtung in einem Bundesland der Bundesrepublik Deutschland(25) für sich den Vollzug der Abschiebungshaft in einer gewöhnlichen Haftanstalt nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 rechtfertigen kann.

40.      Hinsichtlich der in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Verpflichtung, in einer gewöhnlichen Haftanstalt in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den Strafgefangenen unterzubringen, hat der Gerichtshof entschieden, dass sie unbedingt ist(26), „ohne Ausnahme gilt und die Wahrung der Rechte garantiert, die der Unionsgesetzgeber … ausdrücklich einräumt“(27).

2.      Außergewöhnliche Maßnahmen nach Art. 18 der Richtlinie 2008/115

41.      Mit Art. 18 („Notlagen“) der Richtlinie 2008/115 sollen die Voraussetzungen festgelegt werden, unter denen ein Mitgliedstaat aufgrund einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen dringliche Maßnahmen ergreifen „kann“, die von den in Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Haftbedingungen abweichen. Es handelt sich um eine fakultative Vorschrift, wobei es im Ermessen der Mitgliedstaaten liegt, zu beurteilen, inwiefern die Bewältigung des Migrationsdrucks, dem sie ausgesetzt sind, eine Abweichung von den in Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Bedingungen und Haftregelungen von Drittstaatsangehörigen verlangt.

42.      Der Umfang dieses Ermessens ist jedoch nicht unbegrenzt.

43.      Ich bin der Auffassung, dass der Erlass von dringlichen Maßnahmen für die betroffenen Drittstaatsangehörigen außerordentlich schwerwiegende Folgen haben kann, da die Regelung der Vollstreckung der Haft dann mit der Regelung der Vollstreckung einer Strafe vermischt werden kann.

44.      Aus dem Wortlaut von Art. 18 der Richtlinie 2008/115 geht hervor, dass die dringlichen Maßnahmen von den Haftbedingungen nach den „Artikeln 16 Absatz 1 und 17 Absatz 2“ dieser Richtlinie abweichen können. Der Unionsgesetzgeber hat zwischen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 dieser Richtlinie (Grundsatz der Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung) und Satz 2 dieses Artikels (Verpflichtung, Drittstaatsangehörige gesondert von den Strafgefangenen unterzubringen, falls sie in einer gewöhnlichen Haftanstalt untergebracht sind) nicht unterschieden. Mit anderen Worten erlaubt es das Vorliegen einer Notlage den Mitgliedstaaten, abzuschiebende Drittstaatsangehörige in gewöhnlichen Haftanstalten zu inhaftieren, ohne dass sie verpflichtet sind, ihre gesonderte Unterbringung von Strafgefangenen zu gewährleisten(28) oder für Familien eine gesonderte Unterbringung zur Verfügung zu stellen.

45.      Zwar dürfen die Mitgliedstaaten selbst in den in Art. 18 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Notlagen von den Verpflichtungen nicht abweichen, die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und in Art. 17 Abs. 1 und 3 bis 5 dieser Richtlinie genannt sind und die Beachtung der Rechte von Drittstaatsangehörigen und vor allem von in Haft genommenen Minderjährigen schützen sollen(29). Gleichwohl halte ich dies nicht für ausreichend, um die Beachtung der Menschenwürde und der Grundrechte der betroffenen Personen zu gewährleisten, insbesondere in einer Situation, in der die Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt nicht vom besonderen Verhalten dieser Personen, sondern von der administrativen und rechtlichen Situation des Mitgliedstaats abhängt, in dem sie sich befinden. Es ist klar, dass die Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt an sich eine Beeinträchtigung der Freiheit darstellt, die stärker ist als die mit einer Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung verbundene Beschränkung. Zudem besteht die Gefahr, dass die fehlende Trennung von Drittstaatsangehörigen und Strafgefangenen in Haftanstalten dazu führt, dass auf diese Drittstaatsangehörigen die Regelung für die Vollstreckung von Strafen angewandt wird. Die Inhaftierung erfolgt somit de facto in Form einer Strafmaßnahme(30).

46.      Angesichts der soeben beschriebenen Schwere der Folgen, die die in Art. 18 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Ausnahmeregelung mit sich bringt, halte ich es daher für wesentlich, dass diese ausnahmsweise und unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage einer engen Auslegung der vom Unionsgesetzgeber aufgestellten materiellen Voraussetzungen durchgeführt wird(31).

47.      Ich werde diese Voraussetzungen in einem ersten Schritt auf der Grundlage einer wörtlichen Auslegung von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 prüfen und sodann in einem zweiten Schritt ihre Tragweite in Bezug auf die Systematik und den Zweck dieser Richtlinie klarstellen.

a)      Wörtliche Auslegung von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115

48.      Der Erlass der in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen dringlichen Maßnahmen ist an die Einhaltung einer Reihe von materiellen und formalen Voraussetzungen geknüpft, die einen strengen Rahmen für den Rückgriff auf diese Ausnahmeregelung bilden sollen.

49.      Erstens erfordert Art. 18 der Richtlinie 2008/115, wie seine Überschrift besagt, eine Notlage.

50.      Der Ausdruck „Dringlichkeit“ wird im Wörterbuch Larousse als „Beschaffenheit … dessen, was keinen Aufschub duldet“, definiert.

51.      Im verfahrensrechtlichen Bereich wird Dringlichkeit als eine Situation beschrieben, in der ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden eintreten kann, wenn nicht kurzfristig Abhilfe geschaffen wird, indem das Gericht bestimmte Maßnahmen im Wege eines Eilverfahrens erlassen kann(32). Im Unionsrecht und insbesondere im Rahmen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ermöglicht das Eilvorabentscheidungsverfahren somit eine Prüfung innerhalb „kurzer Fristen“, wenn dem Betroffenen die Freiheit entzogen wird(33).

52.      Im Bereich der Einwanderungs- und Asylpolitik werden vom Unionsgesetzgeber in zahlreichen Texten des Primär- und Sekundärrechts die Schwierigkeiten bei der Steuerung der Migrationsströme und die dafür erforderlichen dringlichen Maßnahmen angeführt.

53.      Beispielsweise wird Dringlichkeit in Art. 78 Abs. 3 AEUV beschrieben, der auf eine Situation abzielt, in der die Mitgliedstaaten mit einem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen konfrontiert sind(34). Auf der Grundlage dieser Vorschrift hat der Rat infolge der Migrationskrise der Jahre 2014 und 2015 ab September 2015 einen vorübergehenden und außergewöhnlichen Umsiedlungsmechanismus für Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, eingerichtet(35).

54.      Die Dringlichkeit wird auch in Art. 29 der Verordnung (EU) 2016/399(36) veranschaulicht, der auf Situationen abzielt, in denen die Mitgliedstaaten ausnahmsweise und umgehend die Kontrollen an den Binnengrenzen wieder einführen können, wenn die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit sofortiges Handeln erfordern(37). Die Bundesrepublik Deutschland hat auf der Grundlage von Art. 25 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006(38), der durch Art. 29 der Verordnung 2016/399 ersetzt wurde, als Reaktion auf die Migrationskrise der Jahre 2014 und 2015 die Kontrolle an ihren Binnengrenzen im Jahr 2015 wieder eingeführt.

55.      Wie diese Rechtstexte zeigen, verlangt eine Notlage daher ein schnelles, ja sofortiges Handeln.

56.      Zweitens stelle ich fest, dass der Unionsgesetzgeber die Umstände detailliert festlegt, unter denen sich ein Mitgliedstaat im Zusammenhang mit der Abschiebung von Drittstaatsangehörigen auf das Vorliegen einer Notlage berufen kann. Nach Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 muss diese Situation durch „eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, [gekennzeichnet sein, die] zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals [führt]“.

57.      Die genaue Beschreibung dieser Gründe impliziert meines Erachtens, dass der Mitgliedstaat eine möglichst vollständige und aktuelle Bewertung der Umstände vornehmen muss, aus denen sich ergibt, dass dringliche Maßnahmen zu treffen sind.

58.      In diesem Zusammenhang reicht es meiner Ansicht nach nicht, wenn ein Mitgliedstaat Angaben über die Anzahl der Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, übermittelt. Meiner Ansicht nach ermöglichen es diese Angaben nicht, die tatsächliche und aktuelle Belastung der Kapazität der speziellen Hafteinrichtungen mit der erforderlichen Genauigkeit zu beurteilen. Zum einen stellt die Inhaftnahme gegenüber Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, ein letztes Mittel dar. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten dem Betroffenen nur dann, wenn die Abschiebung nach einer anhand jedes Einzelfalls vorzunehmenden Beurteilung durch sein Verhalten gefährdet zu werden droht und es keine andere Möglichkeit gibt, durch Inhaftnahme die Freiheit entziehen können(39). Zum anderen variiert die Haftquote von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, erheblich je nach Mitgliedstaat und, in einem Mitgliedstaat wie der Bundesrepublik Deutschland, je nach Bundesland.

59.      Zudem geht aus dem Wortlaut von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 hervor, dass die vom Mitgliedstaat übermittelten Angaben den Nachweis einer „unvorhersehbaren Überlastung“ der materiellen und personellen Kapazitäten des Mitgliedstaats ermöglichen müssen. Diese beiden Kriterien sind kumulativ. Die Bezugnahme auf eine „unvorhersehbare“ Belastung zeugt vom Willen des Unionsgesetzgebers, die Anwendung der in Art. 18 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahmeregelung nur auf Fälle zu beschränken, in denen der Mitgliedstaat mit einem solchen Druck auf die Kapazitäten seiner speziellen Hafteinrichtungen oder sein Personal nicht rechnen konnte. Indem er hingegen auf eine „Überlastung“ Bezug nimmt, verlangt er nicht den Nachweis, dass die Kapazitäten erreicht sind.

60.      Drittens stellt der Unionsgesetzgeber schließlich in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 klar, dass der Mitgliedstaat dringliche Maßnahmen nur ergreifen kann, solange die außergewöhnliche Situation anhält. Daraus folgt zum einen, dass diese Maßnahmen aufgehoben werden müssen, sobald die außergewöhnliche Situation beendet ist, und zum anderen, dass durch diese Richtlinie keine Höchstdauer für diese Maßnahmen festgelegt wird. Diese Richtlinie unterscheidet sich von anderen Instrumenten des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, nach denen dringliche Maßnahmen für einen kurzen und verlängerbaren Zeitraum erlassen werden müssen. Die in Rede stehenden Maßnahmen müssen gleichwohl die gleichen Merkmale aufweisen. Die „außergewöhnliche“ Natur der Situation erfordert an sich bereits Maßnahmen von kurzer Dauer. So schlägt das Europäische Parlament im Rahmen der Vorarbeiten zur Neufassung der Richtlinie 2008/115 vor, die Dauer dieser Maßnahmen auf drei Monate zu begrenzen(40). Zudem verlangt der Unionsgesetzgeber, indem er die Anwendung dieser Maßnahmen von der Fortdauer der Notlage abhängig macht, von den Mitgliedstaaten, dass sie eine regelmäßige Neubewertung der Lage vornehmen, um im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sicherzustellen, dass die Dauer der dringlichen Maßnahmen nicht über die für die Bewältigung der Krise zwingend erforderliche Dauer hinausgeht.

61.      Die Tragweite dieser Voraussetzungen ist auch anhand der Systematik, in die sich Art. 18 der Richtlinie 2008/115 einfügt, und anhand der vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziele zu prüfen.

b)      Systematik und Ziele der Richtlinie 2008/115

62.      Wie ich ausgeführt habe, soll mit der Richtlinie 2008/115 eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik festgelegt werden, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die Betroffenen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden(41).

63.      Art. 18 dieser Richtlinie zielt darauf ab, diese Ziele trotz einer nationalen Notlage zu erreichen.

64.      Zum einen möchte der Unionsgesetzgeber, indem er die Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in gewöhnlichen Haftanstalten ohne Trennung von Strafgefangenen erlaubt, den Mitgliedstaaten die Mittel geben, deren Abschiebung trotz der Gefahr einer Überlastung der Aufnahmekapazitäten der Hafteinrichtungen sicherzustellen. Diese Maßnahme soll daher zur Schaffung einer wirksamen Abschiebungspolitik und ganz allgemein zur wirksamen Steuerung von Migrationsströmen beitragen, die nach Art. 79 Abs. 1 AEUV eines der Ziele der Union ist(42).

65.      Zum anderen hat der Unionsgesetzgeber in Art. 18 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 auch klargestellt, dass den Mitgliedstaaten trotz der Dringlichkeit der Situation keine Abweichung von ihrer allgemeinen Verpflichtung gestattet ist, alle geeigneten – sowohl allgemeinen als auch besonderen – Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren Verpflichtungen aus dieser Richtlinie nachkommen(43).

66.      Diese Bestimmung zeugt vom Willen des Unionsgesetzgebers, unabhängig von der Dringlichkeit der Situation die Wahrung des Rechts auf Menschenwürde und der Grundrechte der betroffenen Drittstaatsangehörigen – im Einklang mit Art. 1 sowie den Erwägungsgründen 2, 17 und 24 der Richtlinie 2008/115 – aber auch des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – gemäß den Erwägungsgründen 13 und 16 dieser Richtlinie – zu gewährleisten(44). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit voraus, dass die auf diese Weise erlassenen Maßnahmen durch ihre Dauer und die Art ihrer Anwendung nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist(45).

67.      Daraus folgt erstens, dass die dringlichen Maßnahmen nicht zu einem Mechanismus führen können, durch den die Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt ohne Trennung von Strafgefangenen systematisch und allgemein üblich wird. Die Dringlichkeit, die für die in Art. 18 der Richtlinie 2008/115 genannte Situation kennzeichnend ist, rechtfertigt dies nicht, da die besonders starke Belastung der Aufnahmekapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen die für die Inhaftnahme zuständigen Behörden nicht daran hindern kann, stets und vorrangig zu prüfen, ob in diesen Hafteinrichtungen Plätze frei sind.

68.      Daraus folgt zweitens, dass die dringlichen Maßnahmen nicht dazu führen können, dass die für die Inhaftnahme zuständigen Verwaltungs- oder Justizbehörden keine Einzelfallprüfung vornehmen, um festzustellen, ob die Inhaftierung, wenn sie in einer gewöhnlichen Haftanstalt stattfinden soll, die zudem keine Trennung von Strafgefangenen vorsieht, verhältnismäßig ist(46).

69.      Zum einen muss daher in einer Situation, in der die Gefahr einer Überlastung der Kapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen besteht, geprüft werden, ob nicht eine weniger restriktive Maßnahme ins Auge gefasst werden könnte, um der festgestellten Notlage wirksam abzuhelfen(47). In diesem Zusammenhang denke ich, dass die gemäß Art. 18 der Richtlinie 2008/115 erlassenen dringlichen Maßnahmen mit einem verstärkten Rückgriff auf Alternativen zur Inhaftnahme im Sinne von Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie einhergehen sollten, insbesondere gegenüber besonders schutzbedürftigen Personen(48).

70.      Zum anderen bedeutet dies, dass in jedem Fall zu prüfen ist, ob die Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt mit der Möglichkeit, dass keine Trennung von den Strafgefangenen stattfindet, der Situation des betreffenden Drittstaatsangehörigen beispielsweise aufgrund seines Alters, seiner körperlichen oder geistigen Gesundheit, seines Status oder seiner familiären Situation angemessen ist. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, von ihren Verpflichtungen aus Art. 16 Abs. 2 bis 5 sowie Art. 17 Abs. 1 und 3 bis 5 dieser Richtlinie abzuweichen, die die Situation schutzbedürftiger Personen und Minderjähriger betreffen(49). Diese Regel ist nur sinnvoll, wenn die zuständigen nationalen Behörden eine Prüfung der besonderen Situation jedes betroffenen Drittstaatsangehörigen im Hinblick auf die materiellen Bedingungen für die Vollstreckung seiner Haft vornehmen können.

71.      Diese Auslegung wird meines Erachtens durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützt.

72.      Dieser ist der Auffassung, dass allgemeine oder automatische Entscheidungen über die Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK(50) verstoßen können, wenn ihnen keine individuelle Beurteilung der besonderen Bedürfnisse der Betroffenen vorangeht. Die zuständigen nationalen Behörden sind somit verpflichtet, für den Betroffenen zu sorgen, indem sie angemessene Maßnahmen erlassen, und zu prüfen, ob es möglich ist, diese durch eine weniger einschneidende Maßnahme zu ersetzen(51). So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Rahimi/Griechenland(52) die Hellenische Republik mit der Begründung verurteilt, dass die Entscheidung, einem unbegleiteten Minderjährigen seine Freiheit zu entziehen, „das Ergebnis der automatischen Anwendung“ der Rechtsvorschriften gewesen sei und diese Entscheidung erlassen worden sei, ohne dass die griechischen Behörden seine besondere Situation als unbegleiteter Minderjähriger geprüft und das Kindeswohl berücksichtigt hätten(53).

73.      Drittens ergibt sich aus der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, dass die Dauer der Anwendung der Ausnahmeregelung nicht über das hinausgehen darf, was unbedingt erforderlich ist, um auf die Notlage zu reagieren. Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 verlangt im Übrigen, dass die Mitgliedstaaten die Kommission unterrichten, sobald die Gründe für die Anwendung der außergewöhnlichen Maßnahmen nicht mehr vorliegen. Diese Regelung sollte daher so kurz wie möglich sein und verlangt von den Mitgliedstaaten, dass sie eine Neubewertung der Situation vorsehen, so dass diese Regelung ständig an die Umstände angepasst wird.

74.      Anhand all dieser Gesichtspunkte ist zu beurteilen, ob eine Rechtsvorschrift wie die des § 62a Abs. 1 AufenthG in seiner ab 15. August 2019 geltenden Fassung die Voraussetzungen von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 erfüllt.

3.      Beurteilung der nationalen Regelung

75.      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die (Bundes-)Länder nach der in Rede stehenden Rechtsvorschrift nicht verpflichtet sind, die Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in speziellen Hafteinrichtungen anzuordnen. Sie können sie in gewöhnlichen Haftanstalten unterbringen, wenn bei dieser Unterbringung eine Trennung von Strafgefangenen gewährleistet und die gesonderte Unterbringung von Familien sichergestellt ist. Außerdem muss sichergestellt werden, dass eine Unterbringung in einer Haftanstalt „in einem konkreten Einzelfall … zumutbar beziehungsweise zulässig ist“, beispielsweise bei vulnerablen Gruppen(54).

76.      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen geht auch hervor, dass diese Rechtsvorschrift der Kommission am 27. August 2019 auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 zur Kenntnis gebracht wurde und dass die deutsche Regierung sowohl ihr Inkrafttreten als auch ihre Geltungsdauer angegeben hat. Die dringlichen Maßnahmen und die damit einhergehende Abweichung von den Unionsvorschriften gelten für einen Zeitraum von drei Jahren, und zwar vom 15. August 2019 bis zum 30. Juni 2022, dem Tag, an dem die deutsche Regierung das Ende der Notlage erwartet.

77.      Aus den nachfolgend dargelegten Gründen bin ich der Ansicht, dass die in Rede stehende Regelung insbesondere unter Berücksichtigung ihrer Natur und des damit verfolgten Ziels die in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt.

78.      Zwar sieht diese Rechtsvorschrift unzweifelhaft einen befristeten Mechanismus vor, so dass ihr vorläufiger Charakter nicht bestritten werden kann. Allerdings glaube ich nicht, dass die Situation, der mit dieser Rechtsvorschrift abgeholfen werden soll, als „Notlage“ im Sinne von Art. 18 dieser Richtlinie eingestuft werden kann.

79.      Erstens erfordert eine Notlage, dass eine rasche und unmittelbare Entscheidung getroffen wird. Die in Rede stehende Regelung wurde am 15. August 2019, also vier Jahre nach Beginn der Migrationskrise, erlassen, was weder der Schnelligkeit noch der Unmittelbarkeit entspricht, die in einer Notlage geboten sind. Es ist zwar unbestreitbar, dass die Lage im Jahr 2015 als „Ausnahmesituation“ und „unvorhersehbar“ eingestuft werden konnte – wie in der Begründung des Entwurfs des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht betont wird –, ich bin jedoch der Ansicht, dass die zuständigen nationalen Behörden vernünftigerweise mit einem exponentiellen Anstieg des Drucks auf die Kapazitäten ihrer Hafteinrichtungen in den folgenden Jahren rechnen konnten, da die Daten des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO), der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) sowie des Statistischen Amts der Europäischen Union (Eurostat) einen starken und stetigen Anstieg der Anzahl illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in den Jahren 2015 bis 2017 auswiesen, bevor sich die Zahlen stabilisierten und dann abnahmen. Unter diesen Umständen bin ich der Ansicht, dass die Belastung der Kapazität der speziellen Hafteinrichtungen im Jahr 2019 nicht als „unvorhersehbar“ im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 eingestuft werden kann.

80.      Zweitens scheint mir die Dauer der Anwendung der in Rede stehenden Regelung über das hinauszugehen, was für die Bewältigung einer Ausnahmesituation im Sinne von Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie unbedingt erforderlich ist. Der deutsche Gesetzgeber hat sich dafür entschieden, diese Regelung nicht nur während eines kurzen und verlängerbaren Zeitraums anzuwenden, sondern während eines festen Zeitraums von drei Jahren, nämlich bis 30. Juni 2022, dem Zeitpunkt, zu dem die Projekte zur Errichtung spezieller Hafteinrichtungen abgeschlossen sein sollen. In der Begründung des Entwurfs des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht betont der Gesetzgeber, dass „bis [30. Juni 2022] … ein Anhalten der außergewöhnlichen Situation [vorliegt]“. Dies scheint mir schwerlich mit dem sich aus Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie ergebenden Erfordernis vereinbar zu sein, die Situation regelmäßig neu zu bewerten. Dies scheint mir auch im Widerspruch zu der Behauptung der deutschen Regierung zu stehen, dass sie wiederholt Untersuchungen zur Belegung der speziellen Hafteinrichtungen durchführe, um diese Neubewertung vorzunehmen.

81.      Drittens lässt sich den Akten nichts dazu entnehmen, inwieweit die in Rede stehende Regelung auf einer genauen Bewertung des Verhältnisses zwischen der Zahl der Drittstaatsangehörigen, gegen die eine Haftentscheidung ergangen ist, und der Kapazität der speziellen Hafteinrichtungen im Jahr 2019 beruht. Die deutsche Regierung führt an, sie verfüge weder für August 2019 noch für die folgenden Monate über diese Informationen. In gleicher Weise weist die Kommission darauf hin, dass die Unterrichtung nach Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 vom 27. August 2019 keine dieser Angaben für das Jahr 2019 oder für die Vorjahre enthalten habe, sondern der deutsche Gesetzgeber lediglich auf die unzureichende Zahl von Plätzen in speziellen Hafteinrichtungen in Anbetracht der hohen Zahl von zum Verlassen des Hoheitsgebiets verpflichteten Drittstaatsangehörigen hingewiesen habe.

82.      In Wirklichkeit frage ich mich, ob die in Rede stehende Regelung nicht zu Unrecht auf Art. 18 der Richtlinie 2008/115 gestützt wird, dessen Durchführungsbedingungen nicht erfüllt sind, während die Gründe, die zum Erlass dieser Regelung geführt haben, ganz andere zu sein scheinen.

83.      Ich weise zunächst darauf hin, dass diese Regelung zwar vorsieht, dass die Inhaftierung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgt, dass jedoch abzuschiebende Drittstaatsangehörige getrennt von Strafgefangenen unterzubringen sind und dass die gesonderte Unterbringung von Familien sicherzustellen ist. Wie ich bereits dargelegt habe, soll die Durchführung von Art. 18 der Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnen, sowohl von der Verpflichtung abzuweichen, Drittstaatsangehörige von Strafgefangenen zu trennen, als auch von der Verpflichtung, die gesonderte Unterbringung von Familien sicherzustellen. Diese Regelung bewirkt somit nur, dass eine Inhaftierung in gewöhnlichen Haftanstalten möglich ist, was Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 erlaubt, wenn die Mitgliedstaaten die Inhaftierung in speziellen Hafteinrichtungen aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht sicherstellen und dadurch die mit der Richtlinie verfolgten Ziele nicht einhalten können(55).

84.      Sodann scheint aus der Begründung des Entwurfs des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht hervorzugehen, dass diese Regelung vor allem ein Programmgesetz ist. Sie wurde erlassen, um den unzureichenden Aufnahmekapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen abzuhelfen, wobei die deutsche Regierung der Aufnahme von Personen, die während der Migrationskrise der Jahre 2014 und 2015 internationalen Schutz beantragten, Priorität einräumte. Diese Regelung soll nun während eines Zeitraums von drei Jahren die Errichtung spezieller Hafteinrichtungen in ausreichender Zahl ermöglichen. In dieser Begründung wird in Bezug auf Art. 1 Nr. 22 des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht klargestellt, dass „[m]it der veränderten Situation im Jahr 2015 und dem sprunghaften Anstieg der Zahl der [internationalen Schutz Suchenden] … Bund und Länder primär verpflichtet [waren], Kapazitäten für die Versorgung der Menschen aufzubauen. … Die Versorgung der neuankommenden Menschen in dieser Situation hatte Vorrang vor dem Ausbau der Haftkapazitäten, mit dem Zweck, zu einem späteren Zeitpunkt (nach Abschluss des Asyl- und Rechtsmittelverfahrens) die Regelanforderungen der [Richtlinie 2008/115] erfüllen zu können. Denn Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung des Artikels 18 [dieser Richtlinie] ist gerade, in dieser Situation den Behörden die Möglichkeit zu geben, die Versorgung der Neuankommenden prioritär zu bearbeiten, ohne absehbar Rechtspflichten in der Zukunft zu verletzen. … Artikel 18 der [Richtlinie 2008/115] dient gerade der Auflösung des möglichen Zielkonflikts in einer unvorhersehbaren Ausnahmesituation“.

85.      Ich teile jedoch nicht den Standpunkt, den der deutsche Gesetzgeber in der genannten Begründung zum Ausdruck gebracht hat. Die in der Richtlinie 2013/33 enthaltenen Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, und die in der Richtlinie 2008/115 enthaltenen Normen über die Inhaftnahme von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen fallen zwar unter das Gemeinsame Europäische Asylsystem, diese Richtlinien haben aber einen eigenen Anwendungsbereich und verfolgen unterschiedliche Ziele. Keine der in diesen Richtlinien aufgestellten Normen lässt die Annahme zu, dass die Wahrung der Grundrechte der Ersteren zum Nachteil der Rechte der Letzteren erfolgen muss.

86.      Nach alledem bin ich der Auffassung, dass § 62a Abs. 1 AufenthG in seiner ab 15. August 2019 geltenden Fassung die Voraussetzungen des Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 nicht erfüllt, und zwar sowohl wegen der vom deutschen Gesetzgeber zur Rechtfertigung der Vollstreckung der Haft von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in gewöhnlichen Haftanstalten genannten Gründe als auch aufgrund der Voraussetzungen für den Erlass dieser Regelung und ihrer Anwendungsmodalitäten. Andernfalls würde die Nichterfüllung der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie entschuldigt, was das Ziel dieser Richtlinie und ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigen würde.

87.      Ich gehe davon aus, dass diese Ansicht auch von der Kommission geteilt wird. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission dem Gerichtshof mitgeteilt, dass sie gemäß der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 des Rates vom 7. Oktober 2013 zur Einführung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung des Beschlusses des Exekutivausschusses vom 16. September 1998 bezüglich der Errichtung des Ständigen Ausschusses Schengener Durchführungsübereinkommen(56) ab Februar 2020 Ortsbesichtigungen vorgenommen habe. Da sie bei diesen Besichtigungen habe feststellen können, dass in Deutschland keine Notlage vorgelegen sei, habe die Kommission diesem Mitgliedstaat empfohlen, die Lage erneut zu bewerten und einen Aktionsplan vorzulegen.

88.      In Anbetracht all dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, für Recht zu erkennen, dass Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für die Dauer von drei Jahren die Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in gewöhnlichen Haftanstalten erlaubt, wenn weder die Gründe, auf denen diese Regelung beruht, noch die Voraussetzungen für ihren Erlass und ihre Anwendungsmodalitäten eine Notlage im Sinne dieses Artikels erkennen lassen.

B.      Umfang der Befugnisse der für die Inhaftnahme zuständigen Justizbehörde (erste Frage)

89.      Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob Art. 18 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er von der für die Inhaftnahme zuständigen Justizbehörde verlangt, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine Notlage, die die Inhaftierung des Betroffenen in einer gewöhnlichen Haftanstalt rechtfertigt, vorliegt oder andauert.

90.      Aus den im Folgenden dargelegten Gründen bin ich der Ansicht, dass die für die Inhaftnahme zuständige Justizbehörde stets in der Lage sein muss, zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie, die den Erlass außergewöhnlicher Maßnahmen rechtfertigen, erfüllt sind.

91.      Zwar fallen die Feststellungen zum Vorliegen einer Notlage und der sich daraus ergebende Erlass außergewöhnlicher Maßnahmen vor allem in die Verantwortung des Mitgliedstaats. In Anbetracht der Art und Schwere der in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 genannten Umstände obliegt es dem Mitgliedstaat, diese Feststellungen auf der Grundlage einer allgemeinen und eingehenden Prüfung unter Berücksichtigung aller ihm vorliegenden Angaben über die Belastung der Kapazität seiner speziellen Hafteinrichtungen oder seines Verwaltungs- und Justizpersonals zu treffen. Nach Art. 18 Abs. 2 dieser Richtlinie wird die Kommission vom Erlass und der Aufhebung dieser dringlichen Maßnahmen nur unterrichtet, ohne dass der Unionsgesetzgeber eine Ex-ante-Überprüfung dieser Maßnahmen vorsieht. Mit Ausnahme der Überprüfung, die der Unionsrichter im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vornehmen kann, unterliegen diese Maßnahmen nach ihrem Erlass nur dem durch die Verordnung Nr. 1053/2013 eingeführten Evaluierungs- und Überwachungsverfahren.

92.      Die für die Inhaftnahme eines abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen zuständige Justizbehörde muss jedoch eine Überprüfung vornehmen können.

93.      Diese Überprüfung scheint mir dadurch gerechtfertigt zu sein, dass die dringlichen Maßnahmen nach Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 nur dann aufrechterhalten werden können, wenn die außergewöhnliche Situation anhält, wobei der Mitgliedstaat gemäß Art. 18 Abs. 2 dieser Richtlinie verpflichtet ist, die Kommission zu unterrichten, „sobald die Gründe für die Anwendung dieser außergewöhnlichen Maßnahmen nicht mehr vorliegen“. Meines Erachtens muss die für die Inhaftnahme zuständige Justizbehörde daher die Möglichkeit haben, in jedem ihr vorgelegten Fall zu prüfen, ob die dringlichen Maßnahmen im Hinblick auf die in Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

94.      Eine solche Überprüfung scheint mir umso notwendiger zu sein, als das Vorliegen einer Notlage und die damit einhergehende Gefahr einer Überlastung der Kapazitäten – wenn sie erwiesen ist – objektive Kriterien darstellen, die die für die Inhaftnahme zuständige Justizbehörde bei der Entscheidung über die Inhaftnahme berücksichtigen muss. Aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass Entscheidungen über die Inhaftnahme auf Grundlage des Einzelfalls und anhand anderer objektiver Kriterien als dem des bloßen illegalen Aufenthaltes getroffen werden müssen(57). Es obliegt daher dieser Behörde, auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu prüfen, ob es möglich ist, auf eine Alternative zur Inhaftnahme zurückzugreifen, und wenn dies nicht der Fall ist, ob es möglich ist, den Betroffenen in einer speziellen Hafteinrichtung oder – im Fall einer Überlastung – in einer gewöhnlichen Haftanstalt unterzubringen.

95.      Eine solche Überprüfung erscheint mir umso unerlässlicher, als davon auszugehen ist, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 unmittelbare Wirkung hat(58). Dieser Artikel muss nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden, um dem abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann. Unter diesen Umständen und nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es Sache der Justizbehörde, eine wirksame Anwendung der Grundsätze und Anforderungen sicherzustellen, die in diesem Artikel vom Unionsgesetzgeber genannt werden.

96.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass Art. 18 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass die für die Inhaftnahme zuständige Justizbehörde in jedem Einzelfall prüfen muss, ob die in Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Umstände, die den Erlass außergewöhnlicher Maßnahmen gerechtfertigt haben, noch vorliegen.

C.      Begriff „spezielle Hafteinrichtung“ (dritte und vierte Vorlagefrage)

97.      Mit seiner dritten und seiner vierten Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen, die Kriterien zu präzisieren, anhand deren sich eine spezielle Hafteinrichtung von einer gewöhnlichen Haftanstalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 unterscheidet, vor allem in Bezug auf die Leitung der Einrichtung, die Haftregelung und die materiellen Haftbedingungen.

98.      Das vorlegende Gericht möchte zunächst wissen, ob der Begriff „spezielle Hafteinrichtung“ eine Einrichtung ausschließt, die eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt ist, deren Leitung insgesamt der Leitung der Justizvollzugsanstalt untersteht und die wie diese Anstalt der Justizministerin untersteht.

99.      Falls eine solche Einrichtung als spezielle Hafteinrichtung eingestuft werden könnte, möchte das vorlegende Gericht sodann wissen, ob der Begriff „spezielle Hafteinrichtung“ eine Einrichtung umfasst, die eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt ist, in der abzuschiebende Drittstaatsangehörige getrennt von Strafgefangenen untergebracht sind, die aus drei mit Maschendrahtzäunen umzäunten Gebäuden besteht, zwischen denen kein direkter Zugang besteht, wobei jedes Haus über eigene Einrichtungen (Kleiderkammer, Krankenstation, Sportraum, Hof) verfügt und eines dieser Gebäude vorübergehend für den Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen oder kurzen Freiheitsstrafen bestimmt ist.

100. Ich weise darauf hin, dass der Gerichtshof in seiner Entscheidung zu einem Vorabentscheidungsersuchen gegebenenfalls Klarstellungen vornehmen kann, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts zu geben. Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, die konkreten Umstände des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu überprüfen und insbesondere die Frage zu klären, ob die materiellen Haftbedingungen in der Abteilung Langenhagen der Justizvollzugsanstalt der Stadt Hannover vom 25. September bis 2. Oktober 2020 der Einstufung als „spezielle Hafteinrichtung“ entgegenstehen(59). Eine solche Prüfung betrifft Tatfragen, für die im Verfahren nach Art. 267 AEUV nicht der Gerichtshof, sondern das innerstaatliche Gericht zuständig ist.

1.      Inhaftierung in einer speziellen Einrichtung

101. Der Unionsgesetzgeber definiert die Regelung und die materiellen Kriterien für eine spezielle Hafteinrichtung nicht genau. Es ist jedoch möglich, sie im Hinblick auf die Definition des Begriffs „Haft“, die Rechte, die Drittstaatsangehörigen während ihrer Inhaftierung zugestanden werden, und die sowohl vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als auch vom Europarat aufgestellten Grundsätze herauszuarbeiten.

102. Der Begriff „Haft“ wird in der Richtlinie 2008/115 nicht definiert. Er wird jedoch im Rahmen der Richtlinie 2013/33 in Bezug auf die Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, präzisiert. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist diese Definition im Rahmen der Richtlinie 2008/115 anwendbar(60).

103. Nach Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 wird Haft als „die räumliche Beschränkung [einer Person, die internationalen Schutz beantragt,] durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat“, definiert(61). Nach Ansicht des Gerichtshofs stellt die Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung eine „freiheitsentziehende Maßnahme“(62) bzw. „eine Zwangsmaßnahme …, mit der der betreffenden Person ihre Bewegungsfreiheit entzogen wird und mit der sie vom Rest der Bevölkerung isoliert wird, indem sie dazu gezwungen wird, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten“(63), dar.

104. Art und Zweck der Inhaftierung unterscheiden sich ihrem Wesen nach von denen einer Strafmaßnahme, da die Inhaftierung keinen anderen Zweck verfolgt als den, zur Durchführung der Abschiebung des illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen beizutragen(64). Dadurch, dass der Unionsgesetzgeber in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 den Grundsatz der Inhaftierung in einer speziellen Hafteinrichtung aufgestellt hat, bringt er seinen Willen zum Ausdruck, dass im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten Zentren eingerichtet werden sollen, die speziell für die Zwecke der Vorbereitung und Durchführung der Abschiebung von Drittstaatsangehörigen bestimmt sind.

105. Zudem erfordert die in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 getroffene Unterscheidung zwischen der Inhaftierung in einer speziellen Hafteinrichtung und der Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt, dass sich Erstere sowohl durch ihre internen Vorschriften für ihren Betrieb als auch durch die Gestaltung ihrer Räumlichkeiten von Letzterer unterscheidet. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Unterscheidung zwischen diesen beiden Kategorien von Anstalten umso deutlicher sein muss, als die speziellen Hafteinrichtungen nach Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 auch dazu bestimmt sind, sicherzustellen, dass bestimmte Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, (zu anderen Zwecken als der Abschiebung) in Haft genommen werden(65).

106. Die Haftregelung und die materiellen Haftbedingungen ergeben sich auch aus den Art. 16 und 17 der Richtlinie 2008/115. Der Unionsgesetzgeber achtet darauf, die Rechte festzulegen, die die Mitgliedstaaten während der Vollstreckung der Haft zu gewährleisten haben, wie beispielsweise den Zugang zur ärztlichen Notfallversorgung oder den Kontakt mit Familienmitgliedern, Rechtsvertretern oder auch Konsularbehörden. Er regelt auch die materiellen Bedingungen, die für die Inhaftnahme von Familien und Minderjährigen erfüllt sein müssen, und verlangt von den Mitgliedstaaten, im Einklang mit den in Art. 7, in Art. 14 Abs. 1 und in Art. 24 der Charta der Grundrechte genannten Verpflichtungen, die auch im 22. Erwägungsgrund sowie in Art. 5 dieser Richtlinie angeführt werden, insbesondere das Kindeswohl zu berücksichtigen. Familien müssen somit eine gesonderte Unterbringung erhalten, die ein angemessenes Maß an Privatsphäre gewährleistet, und Minderjährige müssen Zugang zu altersgerechten Erholungsmöglichkeiten sowie gegebenenfalls zu Bildung erhalten. Unbegleitete Minderjährige müssen so weit wie möglich von qualifiziertem Personal in geeigneten Einrichtungen speziell betreut werden.

107. Schließlich ergeben sich die Haftregelung und die materiellen Haftbedingungen aus den Verpflichtungen jedes Mitgliedstaats, die Würde der Personen, denen die Freiheit entzogen wurde, sowie ihr Recht, keiner unmenschlichen und erniedrigen Behandlung ausgesetzt zu werden, zu wahren(66).

108. Die Anforderungen des Unionsgesetzgebers entsprechen im Wesentlichen den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vom Europarat aufgestellten.

109. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beurteilt die „Angemessenheit“ der Haftregelung im Hinblick auf die in den Art. 3, 5 und 8 EMRK genannten Rechte auf der Grundlage von Angaben zu Ort, Bedingungen und Dauer der Haft. Er nimmt eine Einzelfallprüfung vor und berücksichtigt dabei die kumulierten Auswirkungen der Haftbedingungen insbesondere in Bezug auf die besondere Lage der betreffenden Drittstaatsangehörigen(67).

110. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte legt besonderes Augenmerk auf die Gestaltung und Ausstattung der Räumlichkeiten sowie auf die Qualifikationen des Personals, das die Drittstaatsangehörigen betreut, vor allem bei Familien. Diese Örtlichkeiten müssen sauber sein und einen für die Zahl der Personen, die dort untergebracht werden können, ausreichenden Lebensraum bieten. Insbesondere müssen sie über frei zugängliche Sanitäreinrichtungen in ausreichender Zahl, einen Raum und die notwendigen Gegenstände für die Verpflegung sowie ein frei zugängliches Telefon verfügen. Diese Örtlichkeiten müssen ferner über medizinische Geräte verfügen und über einen Raum, der dem Empfang von Familien und Konsularbehörden vorbehalten ist. Darüber hinaus müssen sie Räume für Bildung und Freizeit und insbesondere einen Bereich für Spaziergänge im Freien bieten. Für den Fall, dass in den Räumen der Einrichtung Familien aufgenommen werden, verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schließlich, dass die Zimmer speziell mit den wesentlichen für die Unterbringung von Kleinkindern erforderlichen Vorrichtungen mit angepasstem und gesichertem Kinderpflegematerial ausgestattet sind(68).

111. Zudem verlangt Leitlinie 10 der vom Ministerkomitee des Europarates am 4. Mai 2005 angenommenen „Zwanzig Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr“, auf die im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 Bezug genommen wird, in ihrer Nr. 1, dass vor der Abschiebung in Haft genommene Personen „normalerweise“ in speziell diesem Zweck gewidmeten Örtlichkeiten untergebracht werden, die materielle Bedingungen und eine Regelung bieten, die ihrem rechtlichen Status angemessen sind(69). Sie schreibt ferner in Nr. 4 vor, diese Personen von Untersuchungshäftlingen und verurteilten Personen abzusondern. Leitlinie 11 verlangt in ihren Nrn. 2 bis 4, dass Familien zum Schutz ihrer Intimsphäre gesonderte Quartiere erhalten, die mit Personal und Einrichtungen ausgestattet sind, die den besonderen Bedürfnissen von Kindern Rechnung tragen, indem sie ihnen u. a. den Zugang zu Bildung und die Ausübung von Freizeitaktivitäten ermöglichen(70).

112. Anhand dieser Angaben lassen sich die wesentlichen Kriterien einer speziellen Hafteinrichtung ermitteln.

113. Es muss sich vor allem um eine Einrichtung handeln, die sich nach ihrem Zweck und ihrer Organisation von einer gewöhnlichen Haftanstalt unterscheidet, da andernfalls der Unterscheidung, die der Unionsgesetzgeber in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 macht, jeglicher Sinn und jede praktische Wirksamkeit genommen wird.

114. Sodann muss es sich um eine Einrichtung handeln, die es ermöglicht, die Vollstreckung der Haft durch qualifiziertes Personal unter einer Haftregelung und materiellen Bedingungen sicherzustellen, die an den rechtlichen Status der Drittstaatsangehörigen, insbesondere der besonders schutzbedürftigen Personen, angepasst sind und die Menschenwürde und die Grundrechte beachten.

115. Nunmehr sind die Umstände zu prüfen, unter denen die Inhaftierung stattfinden muss, wenn diese in einer gewöhnlichen Haftanstalt nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 erfolgt.

2.      Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt

116. Ich weise darauf hin, dass ein Mitgliedstaat, wenn er den abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen nicht in einer speziellen Hafteinrichtung unterbringen kann und ihn in einer gewöhnlichen Haftanstalt unterbringen muss, gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 dafür sorgen muss, dass er gesondert von Strafgefangenen untergebracht wird.

117. Ich weise auch darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil Pham entschieden hat, dass das Gebot der Trennung über eine bloße spezifische Durchführungsmodalität der Inhaftierung in gewöhnlichen Haftanstalten hinausgeht und eine materielle Voraussetzung für diese Unterbringung darstellt, ohne deren Erfüllung die Unterbringung grundsätzlich nicht mit der Richtlinie in Einklang stünde(71). Er hat zudem festgestellt, dass dieses Gebot der Trennung unbedingt ist und ohne Ausnahme gilt(72).

118. Die Stärke der hier vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätze impliziert eine geografische und organisatorische Trennung zwischen abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen und Strafgefangenen. Gewöhnliche Haftanstalten sind nämlich für einen anderen Zweck als die Abschiebungshaft bestimmt. Die Verwaltung und das System des Strafvollzugs spiegeln sich in internen Betriebsvorschriften sowie administrativen und materiellen Zwängen wider, die bestimmten Zielen entsprechen, die mit der Vollstreckung einer Strafe verbunden sind.

119. Die Beachtung dieses Trennungsgebots setzt daher eine strenge Trennung durch die Schaffung einer vom Rest der gewöhnlichen Haftanstalt verschiedenen und abgetrennten Einrichtung voraus. Zudem setzt sie eine unterschiedliche Behandlung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen und Strafgefangenen voraus. Der Mitgliedstaat muss somit sicherstellen, dass sich in der für die Abschiebung von Drittstaatsangehörigen vorgesehenen Einrichtung die Modalitäten für die Vollstreckung der Haft von den Modalitäten für die Vollstreckung einer Strafe unterscheiden. Dies setzt voraus, dass eine materielle Haftregelung und materielle Haftbedingungen geschaffen werden, die an ihren rechtlichen Status angepasst sind und ihren besonderen Bedürfnissen entsprechen können, was bedeutet, dass für diese Einrichtung ein Personal bereitzustellen ist, dessen Aufgabe sich von der Aufgabe unterscheidet, die bei Strafgefangenen zu erfüllen ist.

120. Auf der Grundlage dieser Faktoren ist zu prüfen, inwieweit eine Einrichtung wie die vom vorlegenden Gericht beschriebene als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinn von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 eingestuft werden kann.

3.      Die Abteilung Langenhagen der Justizvollzugsanstalt der Stadt Hannover

121. In Anbetracht der Angaben sowohl des vorlegenden Gerichts als auch der deutschen Regierung scheint mir, dass die Maßnahme der Inhaftierung von K in der Abteilung Langenhagen der Justizvollzugsanstalt der Stadt Hannover vom 25. September 2020 bis zum 2. Oktober 2020 eher eine Maßnahme der Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 als eine Maßnahme der Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung im Sinne von Satz 1 dieser Vorschrift darstellt.

122. Diese Beurteilung beruht auf einer Abwägung der verschiedenen Merkmale, die diese Einrichtung zu haben scheint.

123. Bestimmte Merkmale könnten es ermöglichen, diese Einrichtung als „spezielle Hafteinrichtung“ einzustufen. Es scheint eine geografische Trennung zwischen der Abteilung Langenhagen und der Justizvollzugsanstalt der Stadt Hannover zu geben, an die sie angegliedert ist, da Erstere einige Kilometer von Letzterer entfernt liegt. Diese Abteilung soll zudem aus drei Gebäuden bestehen, von denen jedes über eigene Einrichtungen verfügen soll, d. h. eine Krankenstation, eine Kleiderkammer, einen Sportraum und einen Hof. Es heißt, die Zimmer seien jeweils von einer einzigen Person belegt, mit Ausnahme von Fällen, in denen die betreffenden Personen eine gemeinsame Unterbringung beantragen; die Sanitäranlagen seien den ganzen Tag frei zugänglich; die inhaftierten Personen könnten jeden Tag Besuch empfangen, ein Mobiltelefon besitzen und einen Internetzugang nutzen.

124. Die Tatsache, dass die Leitung der Abteilung Langenhagen jener der Justizvollzugsanstalt der Stadt Hannover untergeordnet ist und wie diese Einrichtung der Justizministerin untersteht, reicht nicht aus, um eine solche Abteilung von der Einstufung als „spezielle Hafteinrichtung“ auszuschließen. Die Aufgaben der Strafvollzugsleitungen unterscheiden sich wie die der Ministerien je nach Mitgliedstaat, und diese können daher ihre Befugnisse in ganz unterschiedlichen Einrichtungen ausüben.

125. Die Abteilung Langenhagen weist jedoch andere Merkmale auf, die aufgrund ihrer Bedeutung die Einstufung als „spezielle Hafteinrichtung“ auszuschließen scheinen.

126. In dieser Abteilung können nämlich Strafgefangene untergebracht werden. Eines der drei Gebäude, aus denen diese Abteilung besteht, wurde zur Vollstreckung kurzer Freiheitsstrafen oder von Ersatzfreiheitsstrafen verwendet. Es ist vernünftigerweise davon auszugehen, dass die zuständigen Justizbehörden die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, auch wenn sie von kurzer Dauer oder eine Ersatzfreiheitsstrafe ist, nicht in einer Einrichtung, die eine „spezielle Hafteinrichtung“ zur Abschiebung von Drittstaatsangehörigen ist, und nach anderen als den durch das Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung(73) vom 16. März 1976 festgelegten Modalitäten angeordnet haben. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die Vollstreckung der Haft in der Abteilung Langenhagen nach der Regelung für die Vollstreckung von Strafen erfolgt und dass das für die Betreuung und Beaufsichtigung der abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen zuständige Personal das für die Strafgefangenen zuständige Strafvollzugspersonal ist. In ihren Antworten auf Fragen des Gerichtshofs hat die deutsche Regierung auch angegeben, dass „[n]ach dem Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 30. September 2020“(74) die in der Abteilung Langenhagen zu diesem Zeitpunkt dort insgesamt untergebrachten 15 Strafgefangenen „in andere Justizvollzugsanstalten des Landes“ verlegt wurden. Diese Gesichtspunkte legen nahe, dass diese Einrichtung sowohl für die Vollstreckung von Haftmaßnahmen als auch für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen unter Berücksichtigung der geltenden Regelung und der konkreten Funktionsmodalitäten verwendet werden kann.

127. Unter diesen Umständen bin ich der Ansicht, dass die Inhaftierung in der Abteilung Langenhagen der Justizvollzugsanstalt der Stadt Hannover eine Maßnahme der Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 darstellt.

128. In Anbetracht dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, für Recht zu erkennen, dass Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass eine spezielle Hafteinrichtung eine Anstalt zur Vorbereitung der Abschiebung von Drittstaatsangehörigen ist, in der die Vollstreckung der Haft nach einer freiheitsentziehenden Regelung und unter materiellen Bedingungen erfolgt, die an den rechtlichen Status und die Schutzbedürftigkeit dieser Drittstaatsangehörigen angepasst sind.

129. Eine Einrichtung, die sowohl für die Vollstreckung von Maßnahmen der Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen als auch für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen genutzt werden kann und in der die Haft nach den Rechtsvorschriften über die Vollstreckung von Strafen und unter der Aufsicht des Strafvollzugspersonals dieser Einrichtung vollzogen wird, fällt nicht unter den Begriff „spezielle Hafteinrichtung“.

V.      Ergebnis

130. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Amtsgerichts Hannover (Deutschland) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für die Dauer von drei Jahren die Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in gewöhnlichen Haftanstalten erlaubt, wenn weder die Gründe, auf denen diese Regelung beruht, noch die Voraussetzungen für ihren Erlass und ihre Anwendungsmodalitäten eine Notlage im Sinne dieses Artikels erkennen lassen.

2.      Art. 18 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass die für die Inhaftnahme zuständige Justizbehörde in jedem Einzelfall prüfen muss, ob die in Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Umstände, die den Erlass außergewöhnlicher Maßnahmen gerechtfertigt haben, noch vorliegen.

3.      Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass eine „spezielle Hafteinrichtung“ eine Anstalt zur Vorbereitung der Abschiebung von Drittstaatsangehörigen ist, in der die Vollstreckung der Haft nach einer freiheitsentziehenden Regelung und unter materiellen Bedingungen erfolgt, die an den rechtlichen Status und die Schutzbedürftigkeit dieser Drittstaatsangehörigen angepasst sind.

4.      Eine Einrichtung, die sowohl für die Vollstreckung von Maßnahmen der Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen als auch für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen genutzt werden kann und in der die Haft nach den Rechtsvorschriften über die Vollstreckung von Strafen und unter der Aufsicht des Strafvollzugspersonals dieser Einrichtung vollzogen wird, fällt nicht unter den Begriff „spezielle Hafteinrichtung“.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).


3      C‑473/13 und C‑514/13, im Folgenden: Urteil Bero und Bouzalmate, EU:C:2014:2095.


4      C‑474/13, im Folgenden: Urteil Pham, EU:C:2014:2096.


5      C‑18/19, im Folgenden: Urteil Stadt Frankfurt am Main, EU:C:2020:511.


6      Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (COM[2018] 634 final).


7      BGBl. 2004 I S. 1950, im Folgenden: AufenthG.


8      BGBl. 2019 I S. 1294.


9      Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/10047, abrufbar unter der folgenden Internetadresse: https://dserver.bundestag.de/btd/19/100/1910047.pdf (S. 44 und 45).


10      Unterzeichnet am 4. November 1950 in Rom (im Folgenden: EMRK).


11      Vgl. insoweit Urteil vom 6. September 2017, Slowakei und Ungarn/Rat (C‑643/15 und C‑647/15, EU:C:2017:631), betreffend den Beschluss (EU) 2015/1601 des Rates vom 22. September 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland (ABl. 2015, L 248, S. 80).


12      Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ist nicht in allen Sprachfassungen gleich formuliert, wie der Gerichtshof im Urteil Bero und Bouzalmate festgestellt hat (Rn. 26 und 27).


13      Vgl. Art. 1 sowie Erwägungsgründe 2 und 11 der Richtlinie 2008/115 sowie Urteil Stadt Frankfurt am Main (Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14      Vgl. insoweit Urteil vom 28. April 2011, El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 39 und 41).


15      Vgl. insoweit Urteil vom 28. April 2011, El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 42).


16      So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 19. Januar 2012, Popov/Frankreich, CE:ECHR:2012:0119JUD003947207, § 119, darauf hingewiesen, dass „die Unterbringung in Verwaltungshaft ein letztes Mittel [ist], für das es keine Alternative geben [kann]“. Vgl. auch die am 28. Januar 2010 angenommene Resolution 1707 (2010) („Administrativhaft von Asylbewerbern und illegalen Migranten in Europa“), in der die Parlamentarische Versammlung des Europarats feststellt, dass „die Inhaftierung von … illegalen Migranten … eine Ausnahme [ist], die nur angewandt werden darf, wenn alle anderen Möglichkeiten geprüft wurden und sich keine von ihnen als tragfähig erwiesen hat“ (Ziff. 9.1.1).


17      Vgl. Erwägungsgründe 13, 16, 17 und 24 der Richtlinie 2008/115.


18      Vgl. Urteil Bero und Bouzalmate (Rn. 28).


19      Vgl. Urteil Bero und Bouzalmate (Rn. 31).


20      Vgl. Urteil Stadt Frankfurt am Main (Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Urteil Stadt Frankfurt am Main (Rn. 39).


22      Vgl. Urteil Stadt Frankfurt am Main (Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


23      Urteil Stadt Frankfurt am Main (Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


24      Vgl. Urteil Pham (Rn. 22).


25      Urteil Bero und Bouzalmate (Rn. 31).


26      Vgl. Urteil Pham (Rn. 17).


27      Urteil Pham (Rn. 19).


28      Ich weise jedoch darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil Pham im Rahmen der Auslegung von Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 entschieden hat, dass das Gebot der Trennung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger von Strafgefangenen „ohne Ausnahme gilt“ und „eine materielle Voraussetzung für [die Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen in gewöhnlichen Haftanstalten darstellt], ohne deren Erfüllung die Unterbringung grundsätzlich nicht mit [dieser] Richtlinie in Einklang stünde“ (Rn. 19 und 21).


29      Vgl. zur Veranschaulichung Urteil vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid ([Rückführung] eines unbegleiteten Minderjährigen) (C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 42), sowie Returning unaccompanied children: fundamental rights considerations, Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), September 2019, S. 7.


30      Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangt, dass ein Zusammenhang zwischen dem für den zulässigen Freiheitsentzug angeführten Grund und dem Ort und der Art und Weise der Inhaftierung besteht. Vgl. insbesondere Urteil des EGMR vom 13. Dezember 2011, Kanagaratnam u. a./Belgien, CE:ECHR:2011:1213JUD001529709, § 84.


31      Die Kommission schlägt im Rahmen ihres Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl vor, diesen Spielraum noch enger zu begrenzen (COM[2020] 613 final). Nach Ansicht der Kommission ist „[d]as Recht auf Freiheit und Freizügigkeit … geschützt; zwar kann im Rahmen der Ausnahmevorschriften zum Asyl- und Rückführungsverfahren an der Grenze Haft angewandt werden, diese Ausnahmevorschriften dürfen jedoch nur in einem streng geregelten Rahmen und für einen begrenzten Zeitraum angewandt werden“ (Ziff. 3.3, S. 14). Vgl. auch Empfehlung (EU) 2020/1366 der Kommission vom 23. September 2020 über einen Vorsorge- und Krisenmanagementmechanismus der EU für Migration (Vorsorge- und Krisenplan für Migration) (ABl. 2020, L 317, S. 26).


32      Vgl. Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 14. Januar 2016, AGC Glass Europe u. a./Kommission (C‑517/15 P-R, EU:C:2016:21, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


33      Zur Veranschaulichung vgl. Beschluss vom 12. Februar 2019, RH (C‑8/19 PPU, EU:C:2019:110, Rn. 33 und 34).


34      Nach Art. 78 Abs. 3 AEUV kann der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen, wenn sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden.


35      Vgl. beispielsweise Beschluss 2015/1601.


36      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1).


37      Vgl. die derzeit beim Gerichtshof anhängigen verbundenen Rechtssachen Landespolizeidirektion Steiermark (Höchstdauer der Kontrolle an den Binnengrenzen) (C‑368/20) und Bezirkshauptmannschaft Leibnitz (Höchstdauer der Kontrolle an den Binnengrenzen) (C‑369/20).


38      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1).


39      Vgl. Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 sowie Urteil vom 28. April 2011, El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 39 und 41).


40      Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Parlament im Rahmen der Vorarbeiten zur Neufassung der Richtlinie 2008/115 vorschlägt, diesen Ermessensspielraum weiter einzuschränken, indem die Wendung „solange diese außergewöhnliche Situation anhält“ durch einen genau festgelegten Zeitraum von maximal drei Monaten ersetzt wird. Vgl. vom Parlament eingereichte Änderungsanträge zu dem in Fn. 6 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Richtlinienvorschlag, abrufbar unter folgender Internetadresse: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/LIBE-AM-658738_DE.pdf zu Art. 21 Abs. 1 (S. 357).


41      Vgl. insbesondere Urteile Stadt Frankfurt am Main (Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid ([Rückführung] eines unbegleiteten Minderjährigen) (C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 24. Februar 2021, M u. a. (Überstellung in einen Mitgliedstaat) (C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 28).


42      Im Rahmen der Europäischen Migrationsagenda stellt die effektive Rückführung von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen wesentlichen Bestandteil dar, wie aus dem in Fn. 6 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Richtlinienvorschlag hervorgeht (S. 1).


43      Vgl. Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 264 und die dort angeführte Rechtsprechung).


44      Vgl. Urteile vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 274 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie Stadt Frankfurt am Main (Rn. 38).


45      Vgl. entsprechend Urteil vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).


46      Vgl. im Zusammenhang mit der Inhaftnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt, Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 258 und die dort angeführte Rechtsprechung).


47      Aus den Erwägungsgründen 13 und 16 sowie aus Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 geht hervor, dass die Mitgliedstaaten die Abschiebung unter Einsatz möglichst wenig intensiver Zwangsmaßnahmen vornehmen müssen. Vermögen mehrere Maßnahmen das angestrebte Ziel zu erreichen, so sollte der am wenigsten einschränkenden Maßnahme der Vorzug gegeben werden. Vgl. insoweit Urteil vom 22. Juni 2021, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. (Präventive Maßnahmen im Hinblick auf die Abschiebung) (C‑718/19, EU:C:2021:505, Rn. 58).


48      Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen für die Dauer der Frist für die freiwillige Ausreise Verpflichtungen zur Vermeidung einer Fluchtgefahr auferlegen können, wobei die diesbezüglich ausdrücklich aufgezählten Pflichten eine regelmäßige Meldepflicht bei den Behörden, die Hinterlegung einer angemessenen finanziellen Sicherheit, das Einreichen von Papieren oder die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, beinhalten.


49      Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist der Ansicht, dass Letztere stärker geschützt werden müssen, wenn es um die Beurteilung der Schwere einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme oder gar um das Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung geht (vgl. insbesondere Urteil des EGMR vom 28. Februar 2019, Khan/Frankreich, CE:ECHR:2019:0228JUD001226716).


50      Vgl. insbesondere Urteile des EGMR vom 23. Juli 2013, Suso Musa/Malta, CE:ECHR:2013:0723JUD004233712, vom 22. November 2016, Abdullahi Elmi und Aweys Abubakar/Malta, CE:ECHR:2016:1122JUD002579413, sowie vom 4. April 2017, Thimothawes/Belgien, CE:ECHR:2017:0404JUD003906111.


51      Vgl. Urteile des EGMR vom 5. April 2011, Rahimi/Griechenland, CE:ECHR:2011:0405JUD000868708, sowie vom 13. Dezember 2011, Kanagaratnam u. a./Belgien, CE:ECHR:2011:1213JUD001529709, betreffend die Inhaftierung der Beschwerdeführer (einer Mutter und ihrer drei Kinder) in einem geschlossenen Gebäude für Erwachsene.


52      EGMR, 5. April 2011, CE:ECHR:2011:0405JUD000868708.


53      § 108 dieses Urteils.


54      Vgl. Begründung des Entwurfs des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht.


55      Vgl. Urteil Stadt Frankfurt am Main (Rn. 39).


56      ABl. 2013, L 295, S. 27.


57      Vgl. Urteil Stadt Frankfurt am Main (Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


58      Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht, sofern es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts entgegensteht, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, unangewendet zu lassen (Urteil vom 15. April 2021, Braathens Regional Aviation [C‑30/19, EU:C:2021:269, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung]).


59      Vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 79 ff.).


60      Vgl. Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 224).


61      Diese Definition ist im Zusammenhang mit einer nach der Richtlinie 2008/115 angeordneten Inhaftnahme gemäß Art. 8 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie 2013/33 relevant.


62      Beschluss vom 3. Juni 2021, Republika Slovenija (Inhaftnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt) (C‑186/21 PPU, EU:C:2021:447, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).


63      Vgl. Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 216 bis 223).


64      Vgl. Art. 15 der Richtlinie 2008/115. Vgl. insoweit auch die Erörterung dieser Frage durch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen in den Rechtssachen Bero und Bouzalmate (C‑473/13, C‑474/13 und C‑514/13, EU:C:2014:295, Nrn. 91ff.). Nach Ansicht von Generalanwalt Bot setzt der Unionsgesetzgeber damit die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte um, wonach ein Freiheitsentzug nur dann mit Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK vereinbar ist, wenn er in Durchführung eines Ausweisungsverfahrens erfolgt und in angemessenem Verhältnis zu diesem Ziel steht (vgl. Urteile des EGMR vom 15. November 1996, Chahal/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1996:1115JUD002241493, § 112 und 113, sowie vom 19. Januar 2012, Popov/Frankreich, CE:ECHR:2012:0119JUD003947207, § 140) (Fn. 33 [der angeführten Schlussanträge]).


65      Die Begriffe „Haft“ und „spezielle Hafteinrichtung“ sind mehreren Rechtsinstrumenten des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gemeinsam.


66      Vgl. 24. Erwägungsgrund und Art. 1 der Richtlinie 2008/115. Vgl. auch Urteil des EGMR vom 15. Dezember 2016, Khlaifia u. a./Italien, CE:ECHR:2016:1215JUD001648312, § 161 ff.


67      Vgl. insbesondere Urteile des EGMR vom 19. Januar 2012, Popov/Frankreich, CE:ECHR:2012:0119JUD003947207, § 89 ff., und vom 15. Dezember 2016, Khlaifia u. a./Italien, CE:ECHR:2016:1215JUD001648312, § 163 ff.


68      Vgl. Urteil des EGMR vom 19. Januar 2012, Popov/Frankreich, CE:ECHR:2012:0119JUD003947207.


69      Vgl. auch Bericht des Ausschusses für Migration, Flüchtlinge und Bevölkerung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 11. Januar 2010 mit dem Titel „Administrativhaft von Asylbewerbern und illegalen Migranten in Europa“, insbesondere Leitlinie 8 von Anhang 1 der „[z]ehn Leitlinien zur Festlegung der Umstände, unter denen die Inhaftierung von Asylbewerbern und illegalen Migranten rechtlich zulässig ist“; darin führt die Parlamentarische Versammlung des Europarats aus, dass der Ort, die Bedingungen und die Art und Weise der Inhaftierung angemessen sein müssen. Vgl. ferner das Themenpapier des Menschenrechtskommissars des Europarats „The Human Rights of Irregular Migrants in Europe“ (Abschnitt III Ziff. ii, S. 16 und 17).


70      Derselbe Gedankengang liegt der Forderung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in den „Fünfzehn europäische[n] Regeln zur Festlegung von Mindestnormen für die Haftbedingungen von illegalen Migranten und Asylbewerbern“ in Nr. 9.2 ihrer Resolution 1707 (2010) (vgl. Fn. 16 der vorliegenden Schlussanträge) zugrunde, dass inhaftierte Personen in Zentren untergebracht werden, die speziell für die Inhaftierung in Zusammenhang mit der Einwanderung ausgestaltet sind, und nicht in Gefängnissen (Regel 2). Sie sieht ferner vor, dass die zu diesem Zweck bestimmten Örtlichkeiten materielle Bedingungen und eine Haftregelung bieten, die an den rechtlichen Status und die faktische Situation der Betroffenen angepasst sind (Regeln 5 und 6).


71      Vgl. Urteil Pham (Rn. 21).


72      Vgl. Urteil Pham (Rn. 17 und 19).


73      BGBl. 1976 I S. 581.


74      Die dem Gerichtshof vorliegenden Akten enthalten keinen anderen Hinweis auf diesen Beschluss vom 30. September 2020.