URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

19. Oktober 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Zulässigkeit der Strafverfolgung eines wegen Bestechung Angeklagten in einem Mitgliedstaat nach Einstellung des Strafverfahrens gegen ihn wegen derselben Tat durch die Staatsanwaltschaft eines anderen Mitgliedstaats – Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit der Angeklagte als rechtskräftig abgeurteilt angesehen werden kann – Voraussetzung der Prüfung in der Sache – Erfordernis eingehender Ermittlungen – Fehlende Vernehmung des Beschuldigten“

In der Rechtssache C‑147/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 20. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 1. März 2022, in dem Strafverfahren gegen

Terhelt5,

Beteiligte:

Központi Nyomozó Főügyészség,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Terhelt5, vertreten durch B. Gyalog, Ügyvéd,

–        der Központi Nyomozó Főügyészség, vertreten durch G. Egri und P. Fürcht als Bevollmächtigte,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, K. Szíjjártó und M. Tátrai als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und E. Samoilova als Bevollmächtigte,

–        der schweizerischen Regierung, vertreten durch L. Lanzrein und V. Michel als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Béres und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Juli 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) (im Folgenden: SDÜ) sowie von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das in Ungarn von der Központi Nyomozó Főügyészség (Zentrale ermittelnde Oberstaatsanwaltschaft, Ungarn) (im Folgenden: KNF) gegen Terhelt5, einen ungarischen Staatsangehörigen (im Folgenden: Beschuldigter), im Wesentlichen wegen des Vorwurfs einer Bestechung eingeleitet wurde, derentwegen er bereits in Österreich strafrechtlich verfolgt worden war; diese Strafverfolgung wurde durch Verfügung der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (Österreich) (im Folgenden: WKStA) eingestellt.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 54 SDÜ gehört zu Titel III Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“) des SDÜ und bestimmt:

„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

4        Art. 57 Abs. 1 SDÜ bestimmt:

„Ist eine Person im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wegen einer Straftat angeschuldigt und haben die zuständigen Behörden dieser Vertragspartei Grund zu der Annahme, dass die Anschuldigung dieselbe Tat betrifft, derentwegen der Betreffende im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei bereits rechtskräftig abgeurteilt wurde, so ersuchen sie, sofern sie es für erforderlich halten, die zuständigen Behörden der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet die Entscheidung ergangen ist, um sachdienliche Auskünfte.“

 Ungarisches Recht

5        Art. XXVIII Abs. 6 des Magyarország Alaptörvénye (Grundgesetz Ungarns) bestimmt:

„Niemand darf außer in den gesetzlich vorgesehenen Fällen außerordentlicher Rechtsbehelfe wegen einer Straftat strafrechtlich verfolgt oder verurteilt werden, derentwegen er in Ungarn oder – soweit dies durch ein internationales Abkommen oder einen Rechtsakt der Europäischen Union bestimmt wird – in einem anderen Staat bereits rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist.“

6        Gemäß § 4 Abs. 3 des A büntetőeljárásról szóló 2017. évi XC. törvény (Gesetz Nr. XC von 2017 über das Strafverfahren) darf kein Strafverfahren eingeleitet werden bzw. muss ein bereits eingeleitetes Strafverfahren eingestellt werden, wenn hinsichtlich der vom Täter begangenen Tat bereits ein rechtskräftiges Urteil ergangen ist, unbeschadet Verfahren über außerordentliche Rechtsbehelfe und bestimmte besondere Verfahren.

7        Nach § 4 Abs. 7 dieses Gesetzes darf kein Strafverfahren eingeleitet werden bzw. muss ein eingeleitetes Strafverfahren eingestellt werden, wenn hinsichtlich der vom Täter begangenen Tat in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ein rechtskräftiges Urteil ergangen ist oder wenn in einem Mitgliedstaat hinsichtlich der Tat eine Entscheidung in der Sache ergangen ist, die nach dem Recht des diese Entscheidung treffenden Mitgliedstaats hinsichtlich derselben Tat sowohl der Einleitung eines neuen Strafverfahrens als auch der Fortführung des Strafverfahrens, sei es von Amts wegen oder infolge eines ordentlichen Rechtsbehelfs, entgegensteht.

8        § 254 des A Büntető Törvénykönyvről szóló 1978. évi IV. törvény (Gesetz Nr. IV von 1978 über das Strafgesetzbuch) sah vor:

„(1)      Wer einem Angestellten oder einem Mitglied eines Haushaltsorgans, einer Wirtschaftsorganisation oder eines Vereins oder einer anderen Person im eigenen Interesse dafür einen ungerechtfertigten Vorteil gewährt oder verspricht, dass sie ihre Pflicht verletzen, begeht eine Straftat und wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.

(2)      Die Straftat wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft, wenn der ungerechtfertigte Vorteil einem Angestellten oder einem Mitglied eines Haushaltsorgans, einer Wirtschaftsorganisation oder eines Vereins, der bzw. das befugt ist, eigenständig Maßnahmen zu ergreifen, gewährt oder versprochen wird.“

 Österreichisches Recht

9        § 190 („Einstellung des Ermittlungsverfahrens“) der Strafprozessordnung (im Folgenden: StPO) bestimmt:

„Die Staatsanwaltschaft hat von der Verfolgung einer Straftat abzusehen und das Ermittlungsverfahren insoweit einzustellen, als

1.      die dem Ermittlungsverfahren zu Grunde liegende Tat nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist oder sonst die weitere Verfolgung des Beschuldigten aus rechtlichen Gründen unzulässig wäre oder

2.      kein tatsächlicher Grund zur weiteren Verfolgung des Beschuldigten besteht.“

10      § 193 („Fortführung des Verfahrens“) StPO bestimmt:

„(1)      Nach der Einstellung des Verfahrens sind weitere Ermittlungen gegen den Beschuldigten zu unterlassen; erforderlichenfalls hat die Staatsanwaltschaft seine Freilassung anzuordnen. Sofern jedoch für eine Entscheidung über die Fortführung des Verfahrens bestimmte Ermittlungen oder Beweisaufnahmen erforderlich sind, kann die Staatsanwaltschaft solche im Einzelnen anordnen oder durchführen.

(2)      Die Fortführung eines nach den §§ 190 oder 191 beendeten Ermittlungsverfahrens kann die Staatsanwaltschaft anordnen, solange die Strafbarkeit der Tat nicht verjährt ist und wenn

1.      der Beschuldigte wegen dieser Tat nicht vernommen … und kein Zwang gegen ihn ausgeübt wurde oder

2.      neue Tatsachen oder Beweismittel entstehen oder bekannt werden, die für sich allein oder im Zusammenhalt mit übrigen Verfahrensergebnissen geeignet erscheinen, die Bestrafung des Beschuldigten … zu begründen.

…“

11      Gemäß § 195 StPO kann ein Opfer einer Straftat unter bestimmten Voraussetzungen einen Antrag auf Fortführung eines beendeten Ermittlungsverfahrens stellen, solange diese Straftat noch nicht verjährt ist. Erachtet die Staatsanwaltschaft den Antrag des Opfers für berechtigt, so hat sie das Verfahren unabhängig von den Voraussetzungen des § 193 Abs. 2 Z 1 oder 2 StPO fortzuführen.

12      § 307 („Bestechung“) Abs. 1 des Strafgesetzbuchs (im Folgenden: StGB) sah in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung vor:

„Wer

6.      … einem ausländischen Beamten für die pflichtwidrige Vornahme oder Unterlassung eines Amtsgeschäftes, um im internationalen Geschäftsverkehr einen Auftrag oder sonst einen unbilligen Vorteil zu erlangen oder zu behalten, für ihn oder einen Dritten einen Vorteil anbietet, verspricht oder gewährt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13      Am 22. August 2012 leitete die WKStA in Österreich gegen zwei österreichische Staatsangehörige wegen des Verdachts der Geldwäsche, der Untreue und der Bestechung gemäß § 307 Abs. 1 Z 6 StGB und gegen den Beschuldigten wegen des Verdachts der Bestechung im Sinne dieser Vorschrift ein Strafverfahren ein.

14      Die Ermittlungen betrafen Ereignisse, die sich zwischen 2005 und 2010 zugetragen hatten, und bezogen sich auf mutmaßliche Bestechungsgelder, die an öffentliche Bedienstete über mehrere Gesellschaften mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten mit dem Ziel geflossen seien, die Entscheidung zu beeinflussen, die in einem öffentlichen Vergabeverfahren über die Lieferung neuer Züge für zwei U-Bahn-Linien in Budapest (Ungarn) ergehen sollte. Es handelte sich insbesondere um Überweisungen von Beträgen in Höhe von insgesamt mehreren Millionen Euro als Vergütung für Beratungsleistungen, die in dem Verdacht standen, zu keiner Zeit tatsächlich erbracht worden zu sein.

15      Der Beschuldigte, der sich der fiktiven Natur der Beratungsverträge und ihres tatsächlichen Zwecks bewusst gewesen sein soll, wurde verdächtigt, mit dem Ziel, diesen öffentlichen Auftrag zu erhalten, versucht zu haben, die Person oder die Personen zu bestechen, die in der Lage war bzw. waren, die für diesen Auftrag maßgeblichen Entscheidungsträger zu beeinflussen. Konkret soll er zwischen dem 5. April 2007 und dem 8. Februar 2010 mit aus einer Gesellschaft stammenden Mitteln mehrere Zahlungen in Höhe von insgesamt mehr als 7 000 000 Euro an öffentliche Bedienstete geleistet haben, die sich der Bestechlichkeit schuldig machten und unerkannt blieben.

16      Dieser Verdacht gegen den Beschuldigten beruhte auf Informationen, die vom Serious Fraud Office (Amt zur Bekämpfung schweren Betrugs, Vereinigtes Königreich) (im Folgenden: SFO) im Rahmen eines Ersuchens um justizielle Zusammenarbeit im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen eine Gruppe britischer Unternehmen übermittelt worden waren, auf der Auswertung von Bankdaten einer österreichischen Gesellschaft, deren Vorlage von der WKStA angeordnet worden war, und auf Vernehmungen der in Rn. 13 des vorliegenden Urteils genannten österreichischen Beschuldigten, die als Zeugen vernommen wurden.

17      Da die Ermittlungsmaßnahme der WKStA vom 26. Mai 2014 zur Feststellung seines Aufenthalts erfolglos blieb, war der Beschuldigte im Rahmen der Ermittlungen der WKStA nicht als Tatverdächtigter vernommen worden.

18      Mit Verfügung vom 3. November 2014 stellte die WKStA das Ermittlungsverfahren ein, da es unter Bezugnahme auf die Ergebnisse der bis dahin von den österreichischen, britischen und ungarischen Behörden durchgeführten Ermittlungen der Ansicht war, dass kein tatsächlicher Grund zur weiteren Strafverfolgung im Sinne von § 190 Z 2 StPO vorliege. Da es keinen Beweis dafür gebe, dass einer der in Rn. 13 des vorliegenden Urteils genannten Verdächtigen und der Beschuldigte tatsächlich Bestechungshandlungen im Sinne von § 307 Abs. 1 Z 6 StGB begangen hätten, seien diese Taten nicht mit für eine strafrechtliche Verurteilung ausreichenden Gewissheit nachgewiesen worden, so dass eine Einstellung geboten sei.

19      Die WKStA unterzog diese Einstellungsentscheidung mehrmals einer erneuten Prüfung, musste aber jedes Mal feststellen, dass die Voraussetzungen für eine Fortführung des Verfahrens nach den §§ 193 und 195 StPO nicht erfüllt seien, da insbesondere die Bestechungshandlungen, die dem Beschuldigten zur Last gelegt worden seien, in Österreich spätestens seit 2015 verjährt seien.

20      Am 10. April und am 29. August 2019 brachte die KNF beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), dem vorlegenden Gericht, eine Anklageschrift ein, auf deren Grundlage in Ungarn gegen den Beschuldigten ein Strafverfahren wegen Bestechung im Sinne von § 254 Abs. 1 und 2 des in Rn. 8 des vorliegenden Urteils genannten Gesetzes Nr. IV von 1978 über das Strafgesetzbuch eingeleitet wurde.

21      Da das vorlegende Gericht der Ansicht war, dass die dem Beschuldigten vorgeworfenen Bestechungshandlungen dieselben seien wie diejenigen, die bereits Gegenstand von Ermittlungen der WKStA in Österreich vor ihrer Einstellung durch diese Staatsanwaltschaft gewesen seien, stellte es mit Beschluss vom 8. Dezember 2020 diese Strafverfolgung in Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem gemäß § 4 Abs. 3 und 7 des in Rn. 6 des vorliegenden Urteils genannten Gesetzes Nr. XC von 2017 über das Strafverfahren ein.

22      Dieser Beschluss wurde mit Beschluss des Fővárosi Ítélőtábla (Hauptstädtisches Tafelgericht, Ungarn) vom 15. Juni 2021 aufgehoben, das die Rechtssache an das vorlegende Gericht zurückverwies.

23      Nach Ansicht des Fővárosi Ítélőtábla (Hauptstädtisches Tafelgericht) kann die in Rn. 18 des vorliegenden Urteils genannte Verfügung der WKStA vom 3. November 2014 über die Einstellung der Ermittlungen nicht als eine rechtskräftige Entscheidung im Sinne von Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ angesehen werden, da sich aus den vorliegenden Akten nicht klar entnehmen lasse, dass die Einstellungsentscheidung auf einer hinreichend sorgfältigen und vollständigen Beweiswürdigung beruhe. Insbesondere sei nicht erwiesen, dass die WKStA neben der Vernehmung der beiden in Rn. 13 des vorliegenden Urteils genannten österreichischen Verdächtigen weitere Beweiserhebungen durchgeführt habe oder dass sie irgendeine der von der KNF in ihrer Anklageschrift genannten circa 90 Personen zum Zweck ihrer Vernehmung oder Aussage angehört habe. Ferner sei der Beschuldigte nicht als Verdächtiger gehört worden.

24      Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Steht der in Art. 50 der Charta und in Art. 54 SDÜ verankerte Grundsatz ne bis in idem der Durchführung eines Strafverfahrens entgegen, das in einem Mitgliedstaat gegen dieselbe Person und wegen derselben Tat eingeleitet worden ist, derentwegen bereits in einem anderen Mitgliedstaat ein Strafverfahren stattgefunden hat, das durch eine staatsanwaltliche Entscheidung zur Einstellung der Ermittlungen endgültig beendet worden ist?

2.      Ist der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft eine Fortführung des Verfahrens von Amts wegen nicht für gerechtfertigt gehalten hat, obwohl bei einer staatsanwaltschaftlichen Entscheidung, mit der die Einstellung des Strafverfahrens (im Ermittlungsverfahren) in einem Mitgliedstaat angeordnet wird, die Möglichkeit besteht, das Verfahren bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Straftat verjährt, fortzuführen, mit dem in Art. 50 der Charta und in Art. 54 SDÜ verankerten Grundsatz ne bis in idem vereinbar, und verhindert dieser Umstand endgültig die Einleitung eines neuen Strafverfahrens gegen dieselbe Person in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat?

3.      Ist die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens mit dem in Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ verankerten Grundsatz ne bis in idem vereinbar und können die Ermittlungen als hinreichend sorgfältig und erschöpfend angesehen werden, wenn sie einen Beschuldigten betreffen, der zu einer seine Mitbeschuldigten betreffenden Straftat nicht als Beschuldigter vernommen wurde, auch wenn gegen ihn als Beschuldigten Ermittlungsmaßnahmen stattgefunden haben und wenn die Verfahrenseinstellung auf Ermittlungsergebnissen, die infolge eines Ersuchens um justizielle Zusammenarbeit eingeholt wurden, sowie auf Angaben über Bankkonten und auf der Beschuldigtenvernehmung von Mitbeschuldigten beruht?

 Zu den Vorlagefragen

25      Mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der in Art. 54 SDÜ verankerte Grundsatz ne bis in idem im Licht von Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine einen Beschuldigten freisprechende Entscheidung, der in einem ersten Mitgliedstaat im Anschluss an ein Ermittlungsverfahren ergangen ist, das im Wesentlichen Bestechungshandlungen betraf, als rechtskräftige Entscheidung im Sinne dieser Artikel zu qualifizieren ist, wenn dieser Beschuldigte wegen derselben Handlungen in einem zweiten Mitgliedstaat erneut strafrechtlich verfolgt wird und wenn

–        die ihn freisprechende Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats ohne Verhängung einer Strafe und ohne Mitwirkung eines Gerichts erlassen und mit der Feststellung begründet wurde, dass es keine Beweise dafür gebe, dass der Beschuldigte die ihm vorgeworfene Straftat tatsächlich begangen habe,

–        nach dem im ersten Mitgliedstaat geltenden nationalen Recht die Staatsanwaltschaft ungeachtet der Rechtskraft einer solchen freisprechenden Entscheidung über die Möglichkeit verfügt, das Verfahren unter genau festgelegten Voraussetzungen, wie z. B. bei Entstehen neuer bedeutsamer Tatsachen oder Beweismittel, fortzuführen, soweit die Straftat jedenfalls nicht verjährt ist, und

–        die Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats während des Ermittlungsverfahrens Daten erhoben hat, ohne jedoch den Beschuldigten, der Staatsbürger eines anderen Mitgliedstaats ist, als Verdächtigen zu befragen, da die Ermittlungsmaßnahme mit Zwangsgewalt zur Feststellung seines Aufenthalts sich letztlich als erfolglos erwiesen hat.

26      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zweierlei voraussetzt, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Was die zweite dieser Voraussetzungen anbelangt, so geht das vorlegende Gericht ausdrücklich davon aus, dass diese im vorliegenden Fall erfüllt sei.

28      Was die erste Voraussetzung anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Betroffene als „rechtskräftig abgeurteilt“ im Sinne des Art. 54 SDÜ anzusehen ist, wenn zum einen die Strafklage infolge des Erlasses der in Rede stehenden strafrechtlichen Entscheidung, wie im vorliegenden Fall eine ihn vom Tatvorwurf entlastende Entscheidung, „endgültig verbraucht“ ist; zum anderen muss diese Entscheidung nach einer „Prüfung in der Sache“ erfolgen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski, C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 34 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Als Erstes ist im vorliegenden Fall hinsichtlich des Erfordernisses, dass die Strafklage endgültig verbraucht sein muss, in Anbetracht der in den ersten beiden in Rn. 25 des vorliegenden Urteils aufgeführten Gedankenstriche genannten Umstände darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum einen Art. 54 SDÜ auch auf Entscheidungen einer zur Mitwirkung bei der Strafrechtspflege in der betreffenden nationalen Rechtsordnung berufenen Behörde – wie einer Staatsanwaltschaft – anwendbar ist, mit denen die Strafverfolgung in einem Mitgliedstaat endgültig ohne Verhängung einer Strafe beendet wird, auch wenn sie ohne Mitwirkung eines Gerichts und nicht in Form eines Urteils ergehen. Zum anderen ist die Beurteilung dieses Erfordernisses auf der Grundlage des Rechts des Mitgliedstaats vorzunehmen, der die in Rede stehende strafrechtliche Entscheidung erlassen hat, und muss sicherstellen, dass die betreffende Entscheidung in diesem Staat den sich aus dem Verbot der Doppelbestrafung ergebenden Schutz bewirkt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Turanský, C‑491/07, EU:C:2008:768, Rn. 35 und 36, sowie vom 29. Juni 2016, Kossowski, C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 35 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

30      In diesem Zusammenhang geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch hervor, dass der Umstand, dass nach dem anwendbaren nationalen Recht das durch eine freisprechende Entscheidung abgeschlossene Strafverfahren bei „neuen oder neu bekannt gewordenen Tatsachen“ wie neuen Belastungstatsachen wieder aufgenommen werden kann, die Rechtskraft dieser Entscheidung, weil durch sie kein endgültiger Strafklageverbrauch einträte, nicht in Frage zu stellen vermag, sofern diese Möglichkeit der Wiederaufnahme, auch wenn sie kein „außerordentlicher Rechtsbehelf“ ist, dennoch die ausnahmsweise Einleitung eines anderen Verfahrens statt einer bloßen Weiterführung des bereits abgeschlossenen Verfahrens mit sich bringt, und dies auf der Grundlage anderer Beweise (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2014, M, C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 37 bis 40).

31      Im vorliegenden Fall kann in Anbetracht dieser Rechtsprechung der Umstand, dass das österreichische Recht zum einen in § 193 Abs. 2 Z 2 StPO unter engen Voraussetzungen die Fortführung eines eingestellten Verfahrens im Nachgang zu einer freisprechenden Entscheidung vorsieht, d. h., wenn „neue Tatsachen oder Beweismittel entstehen oder bekannt werden, die für sich allein oder im Zusammenhalt mit übrigen Verfahrensergebnissen geeignet erscheinen, die Bestrafung des Beschuldigten zu begründen“, die Rechtskraft dieser Entscheidung nicht in Frage stellen.

32      Gleiches gilt zum anderen für die andere ebenfalls streng geregelte Möglichkeit der Fortführung des Verfahrens im österreichischen Recht, nämlich dann, wenn gemäß § 193 Abs. 2 Z 1 StPO „der Beschuldigte wegen [der] Tat nicht vernommen … und kein Zwang gegen ihn ausgeübt wurde“.

33      Denn diese Möglichkeit stellt zwar keinen „außerordentlichen Rechtsbehelf“ dar, bedeutet aber in Anbetracht der doppelten Voraussetzung, der sie unterliegt, die ausnahmsweise Einleitung eines anderen Verfahrens statt einer bloßen Weiterführung des bereits abgeschlossenen Verfahrens mit dem Ziel, die freisprechende Entscheidung im Hinblick auf die Erklärungen des Beschuldigten zu überprüfen, falls dieser zu einem späteren Zeitpunkt vernommen werden könnte. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass im Ausgangsverfahren im Nachgang zu der freisprechenden Entscheidung der Staatsanwaltschaft diese Möglichkeit nicht offenstand, da feststeht, dass, auch wenn der Beschuldigte nicht vernommen wurde, ihm gegenüber gleichwohl „Zwang“ in Form einer Ermittlungsmaßnahme zur Feststellung seines Aufenthalts ausgeübt wurde, die sich als erfolglos erwiesen hat.

34      Der streng geregelte und außerordentliche Charakter dieser Möglichkeiten zur Fortführung eines bereits eingestellten Verfahrens wird noch dadurch unterstrichen, dass gemäß § 193 Abs. 2 StPO eine Fortführung des Verfahrens jedenfalls dann nicht möglich ist, wenn die Straftat in der Zwischenzeit verjährt ist. Dies war hier der Fall, da feststeht, dass die Straftat zumindest seit 2015 verjährt ist, d. h. nur einige Monate nach Erlass der freisprechenden Entscheidung im November 2014.

35      Außerdem kann der bloße Umstand, auf den das vorlegende Gericht in seiner zweiten Frage Bezug nimmt, dass Möglichkeiten zur Fortführung eines bereits eingestellten Verfahrens nach dem anwendbaren nationalen Recht bestehen, sofern die Straftat noch nicht verjährt ist, dass die Staatsanwaltschaft im vorliegenden Fall vor Eintritt dieser Verjährung davon aber keinen Gebrauch gemacht hat, die Rechtskraft einer Einstellungsentscheidung, weil durch sie kein endgültiger Strafklageverbrauch eintrete, nicht in Frage stellen.

36      Da nämlich diese außerordentlichen Möglichkeiten der Fortführung eines bereits eingestellten Verfahrens, wie sie in § 193 Abs. 2 StPO streng geregelt sind, die Rechtskraft einer auf der Grundlage von § 190 StPO erlassenen Einstellungsentscheidung nicht berühren können, kann auch die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, von der einen oder anderen dieser Möglichkeiten keinen Gebrauch zu machen, weil die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt seien, die Rechtskraft dieser Entscheidung nicht in Frage stellen.

37      Im Übrigen hat die österreichische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (Österreich) und das österreichische Schrifttum geltend gemacht, dass nach österreichischem Recht gemäß § 190 StPO „mangels Bekämpfbarkeit einer staatsanwaltlichen Einstellungsentscheidung durch ein ordentliches Rechtsmittel … die Wirkungen der materiellen (wie auch formellen) Rechtskraft bereits mit Erlassung der Entscheidung [eintreten]“. Nach Ansicht der österreichischen Regierung gehört zu ihren Wirkungen die sogenannte Sperrwirkung, die sich aus einer solchen Entscheidung im Einklang mit dem Grundsatz ne bis in idem gegenüber allen Behörden anderer Mitgliedstaaten ergebe, sofern diese Entscheidung im Anschluss an eine vorhergehende Prüfung in der Sache und eine Beurteilung der Begründetheit des Strafvorwurfs, der dem Verdächtigten zur Last gelegt werde, getroffen worden sei.

38      Daraus folgt, dass die Umstände, auf die sich die in Rn. 25 des vorliegenden Urteils aufgeführten ersten beiden Gedankenstriche beziehen, nicht geeignet sind, Zweifel daran zu begründen, dass im vorliegenden Fall die in Rn. 28 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung erfüllt ist, dass die Strafklage „endgültig verbraucht“ ist.

39      Was als Zweites das ebenfalls in Rn. 28 des vorliegenden Urteils genannte Erfordernis betrifft, dass die Entscheidung über die Einstellung des in Rede stehenden Strafverfahrens nach einer „Prüfung in der Sache“ erfolgte, ist erstens darauf hinzuweisen, dass der in Rn. 25 erster Gedankenstrich des vorliegenden Urteils erwähnte Umstand, dass die Einstellungsentscheidung ergangen ist, weil es keine Beweise dafür gebe, dass der Beschuldigte die ihm vorgeworfene Straftat tatsächlich begangen habe, nicht bedeutet, dass diese zweite Voraussetzung als nicht erfüllt anzusehen ist. Vielmehr hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass ein Freispruch aus Mangel an Beweisen auf einer Prüfung in der Sache beruht (Urteil vom 28. September 2006, Van Straaten, C‑150/05, EU:C:2006:614, Rn. 60).

40      Zweitens geht aus der Rechtsprechung hervor, dass die Beurteilung der Rechtskraft des Urteils im Sinne von Art. 54 SDÜ nicht nur im Hinblick auf das wesentliche Ziel dieses Artikels, zu garantieren, dass sich jeder, der in einem Mitgliedstaat verurteilt worden ist und seine Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Gebiet bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat verfolgt wird, sondern auch im Hinblick auf die Notwendigkeit zu erfolgen hat, die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gemäß Art. 3 Abs. 2 EUV zu fördern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Juni 2016, Kossowski, C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 47, und vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Drittens ist darauf hinzuweisen, dass sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, im Unionsrecht fundamentale Bedeutung haben, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Was insbesondere Art. 54 SDÜ betrifft, hat der Gerichtshof entschieden, dass dieser Artikel zwingend impliziert, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder von ihnen die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Durchführung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde. Dieses gegenseitige Vertrauen erfordert, dass die betreffenden zuständigen Behörden des zweiten Mitgliedstaats eine im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats erlassene rechtskräftige Entscheidung so akzeptieren, wie sie ihnen mitgeteilt worden ist (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Das gegenseitige Vertrauen kann jedoch nur gedeihen, wenn der zweite Vertragsstaat in der Lage ist, sich auf der Grundlage der vom ersten Vertragsstaat übermittelten Unterlagen zu vergewissern, dass die betreffende Entscheidung der zuständigen Behörden des ersten Vertragsstaats tatsächlich eine rechtskräftige Entscheidung darstellt, die eine Prüfung in der Sache enthält (Urteil vom 12. Mai 2021, Bundesrepublik Deutschland [Red Notice, Interpol], C‑505/19, EU:C:2021:376, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Viertens hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren eingestellt wird, nicht als eine nach einer Prüfung in der Sache ergangene Entscheidung angesehen und daher nicht als rechtskräftige Entscheidung im Sinne von Art. 54 SDÜ eingestuft werden kann, wenn aus ihrer Begründung hervorgeht, dass keine eingehenden Ermittlungen durchgeführt wurden, da andernfalls das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander gefährdet werden könnte; in diesem Zusammenhang stellen die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen ein Indiz dafür dar, dass im Ausgangsverfahren keine eingehenden Ermittlungen durchgeführt worden sind (Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski, C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 53).

45      In Anbetracht dieser Rechtsprechung stellt sich die Frage, ob im vorliegenden Ausgangsverfahren die Entscheidung der WKStA zur Einstellung des Strafverfahrens nach „eingehenden Ermittlungen“ im Sinne des Urteils vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483), ergangen ist, so dass diese, wie von Art. 54 SDÜ verlangt, als nach einer Prüfung in der Sache erfolgte Entscheidung angesehen werden kann, wenn die Umstände berücksichtigt werden, auf die das vorlegende Gericht in seiner dritten Frage Bezug nimmt und die im dritten Gedankenstrich in Rn. 25 des vorliegenden Urteils aufgeführt werden, nämlich dass die Staatsanwaltschaft während der Ermittlungen im Rahmen eines Ersuchens um justizielle Zusammenarbeit sowie nach dem Zugriff auf Bankkonten und der Vernehmung zweier weiterer Verdächtiger Daten erhoben hat, den Beschuldigten aber nicht vernommen hat, da die Ermittlungsmaßnahme mit Zwangsgewalt zur Feststellung seines Aufenthalts sich letztlich als erfolglos erwiesen hat.

46      Wie sich aus Rn. 48 des Urteils vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483), ergibt, hatte die Staatsanwaltschaft in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, „die öffentliche Klage – ohne dass eingehendere Ermittlungen durchgeführt worden wären, um Beweismittel zu sammeln und zu untersuchen – allein deshalb nicht [verfolgt], weil der Angeschuldigte die Aussage verweigert habe und der Geschädigte sowie ein Zeuge vom Hörensagen in Deutschland wohnten, so dass sie im Rahmen des Ermittlungsverfahrens [in Polen] nicht hätten vernommen werden und die Angaben des Geschädigten somit nicht hätten überprüft werden können“. Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass die Entscheidung, mit der die Strafverfolgung auf der Grundlage solcher Ermittlungen beendet wird, keine Entscheidung war, der eine Prüfung in der Sache vorausgegangen ist.

47      Im vorliegenden Fall steht hingegen zum einen fest, dass die WKStA im Lauf eines mehr als zwei Jahre dauernden Ermittlungsverfahrens im Rahmen eines Ersuchens um justizielle Zusammenarbeit der Behörden des Vereinigten Königreichs, d. h. des SFO, Zugang zu Bankkonten sowie zu weiteren Bankkonten erhielt und zwei weitere, in Rn. 13 des vorliegenden Urteils genannte Verdächtige österreichischer Staatsangehörigkeit vernommen hat.

48      Im Übrigen weist die österreichische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hin, dass die nach dem Zugang zu diesen Bankkonten ermittelten Zahlungsströme vom Bundesamt für Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung (Österreich) ausgewertet worden seien. Nach einem Koordinierungstreffen der Europäischen Agentur für justizielle Zusammenarbeit (Eurojust) im Mai 2014 habe das SFO die WKStA informiert, dass keine neuen Beweise vorlägen, die zu einem bestimmten Amtsträger in Ungarn führten; weder der Zugang zu Konten in der Slowakei noch in Zypern hätten Aufschluss darüber gebracht. Darüber hinaus sei unklar gewesen, ob die Übermittlung von Konteninformationen, die das SFO in Liechtenstein angefragt habe, mehr Klarheit schaffen würden. Am 3. November 2014 habe Eurojust der WKStA mitgeteilt, dass auch die Ermittlungshandlungen der ungarischen Justizbehörden den Tatverdacht nicht erhärten hätten können.

49      Zum anderen trifft es zwar zu, dass der Beschuldigte im vorliegenden Fall nicht vernommen wurde, doch steht fest, dass dies mit der Begründung erfolgte, dass, wie das vorlegende Gericht in seiner dritten Frage ausführt, gegen ihn gleichwohl eine Ermittlungsmaßnahme mit Zwangsgewalt zur Feststellung seines Aufenthalts ergriffen wurde, obwohl sie sich letztlich als erfolglos erwiesen hatte.

50      Wie auch die Schweizer Regierung im Wesentlichen geltend gemacht hat, ist der bloße Umstand, dass der Beschuldigte während der Ermittlungen nicht angehört wurde, nur dann als solcher ein Anhaltspunkt für das Fehlen eingehender Ermittlungen, wenn das anwendbare nationale Recht die Staatsanwaltschaft verpflichtet, den Beschuldigten vor der Entscheidung über die Einstellung der Ermittlungen anzuhören. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass § 193 Abs. 2 Z 1 StPO ausdrücklich die Möglichkeit vorsieht, das Strafverfahren nach einer freisprechenden Entscheidung fortzuführen, wenn der Beschuldigte wegen der Straftat, deren er verdächtigt wird, nicht vernommen wurde und kein Zwang gegen ihn ausgeübt wurde. Somit zeigt sich, dass nach dem anwendbaren nationalen Recht unter bestimmten Umständen eine derartige Entscheidung ohne Vernehmung des Beschuldigten erlassen werden kann.

51      Auch wenn in einem solchen Fall die fehlende Vernehmung des Beschuldigten als Verdächtigen für sich allein nicht die Schlussfolgerung begründen kann, dass keine eingehenden Ermittlungen stattgefunden haben, kann dieser Umstand gleichwohl, wie auch der Generalanwalt in Nr. 76 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, neben etwaigen anderen relevanten Indizien berücksichtigt werden, die auf ein solches Fehlen hindeuten. Zu diesem Zweck ist nachzuweisen, dass es unter den Umständen des vorliegenden Falles vernünftigerweise der Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats oblag, eine Ermittlungsmaßnahme zu ergreifen, die eine wirksame Befragung dieses Beschuldigten sicherstellt und die offensichtlich neue Tatsachen oder Beweismittel hätte beibringen können, die geeignet gewesen wären, in erheblichem Umfang in Frage zu stellen, ob eine freisprechende Entscheidung begründet sei. Indessen kann eine Staatsanwaltschaft, wie auch der Generalanwalt in Nr. 77 seiner Schlussanträge festgestellt hat, nicht daran gehindert werden, Schlussfolgerungen aus dem Umstand zu ziehen, dass sich ein Beschuldigter bewusst der Möglichkeit einer Vernehmung entzogen hat, z. B. indem er sich für die Polizeibehörden nicht zur Verfügung hielt.

52      Allgemein kann der zweite Mitgliedstaat nur in eher außergewöhnlichen Fällen auf das Fehlen eingehender Ermittlungen im ersten Mitgliedstaat schließen, nämlich dann, wenn dies nach dem anwendbaren nationalen Recht des ersten Mitgliedstaats offensichtlich der Fall ist, wobei in erster Linie die in dieser Entscheidung enthaltenen Gründe sowie die Informationen zu berücksichtigen sind, die der erste Mitgliedstaat gegebenenfalls als Antwort auf ein an ihn gerichtetes Ersuchen des zweiten Mitgliedstaats vor dem Erlass dieser Entscheidung übermittelt hat.

53      Die Feststellung des zweiten Mitgliedstaats, dass keine eingehenden Ermittlungen stattgefunden haben, muss nämlich eher die Ausnahme darstellen als die Regel, wobei eine solche Feststellung, wie der Generalanwalt in den Nrn. 32 und 39 bis 42 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, jedenfalls dann geboten ist, wenn sich aus dem Wortlaut der betreffenden strafrechtlichen Entscheidung ergibt, dass ihr keine wirklichen Ermittlungen oder keine wirkliche Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschuldigten vorausgegangen sind oder dass diese Entscheidung nach dem anwendbaren nationalen Recht im Wesentlichen aus als rein verfahrensrechtlich anzusehenden Gründen oder aus Gründen der Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit oder Justizpolitik getroffen wurde.

54      Dieses Verständnis steht im Einklang mit dem spezifischen Ziel des Art. 54 SDÜ, das, wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils ausgeführt, darin besteht, zu garantieren, dass sich eine Person, die in einem Mitgliedstaat endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Gebiet bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass sie in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat verfolgt wird, sowie mit den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten und der gegenseitigen Anerkennung, die dem in dieser Bestimmung und in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatz ne bis in idem zugrunde liegen, wie sich aus den Rn. 41 und 42 des vorliegenden Urteils ergibt.

55      Diesem Ziel und diesen Grundsätzen läuft es hingegen zuwider, dass die Staatsanwaltschaft des zweiten Mitgliedstaats, wenn sie beabsichtigt, ein Verfahren gegen eine Person einzuleiten, die bereits verfolgt wurde und gegen die im Anschluss an ein Ermittlungsverfahren in einem ersten Mitgliedstaat wegen derselben Tat eine rechtskräftige freisprechende Entscheidung ergangen ist, dieses Ermittlungsverfahren detailliert überprüft, um einseitig festzustellen, ob es nach dem Recht des ersten Mitgliedstaats eingehend genug ist.

56      Im Übrigen muss die Staatsanwaltschaft des zweiten Mitgliedstaats, wenn sie ernsthafte und konkrete Zweifel daran hat, ob die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats im Hinblick auf die Tatsachen und Beweise, über die diese Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen verfügte oder über die sie bei Ergreifen der angesichts der Umstände des Einzelfalls vernünftigerweise gebotenen Ermittlungsmaßnahmen tatsächlich hätte verfügen können, eingehend oder hinreichend erschöpfend sind, an die Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats herantreten, um um deren Unterstützung insbesondere in Bezug auf das anwendbare nationale Recht und die Gründe für die im Anschluss an diese Ermittlungen ergangene freisprechende Entscheidung zu ersuchen, indem sie beispielsweise auf den zu diesem Zweck in Art. 57 SDÜ vorgesehenen Mechanismus der Zusammenarbeit zurückgreift.

57      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu beachten ist, der die Mitgliedstaaten allgemein und somit insbesondere auch im Rahmen der Anwendung des in Art. 54 SDÜ verankerten Grundsatzes ne bis in idem verpflichtet, sich bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, gegenseitig zu achten und zu unterstützen.

58      Auch wenn der in den Rn. 47 bis 50 des vorliegenden Urteils angeführte Sachverhalt, soweit er zutrifft, eher bestätigt, dass die im ersten Mitgliedstaat durchgeführten Ermittlungen nicht offensichtlich keine eingehenden Ermittlungen waren, ändert dies jedoch nichts daran, dass es, wie auch der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, letztlich Sache des vorlegenden Gerichts ist, das im vorliegenden Fall über die Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem zu entscheiden hat, den eingehenden Charakter der Ermittlungen unter Berücksichtigung aller insoweit relevanten Gesichtspunkte zu beurteilen.

59      Im Rahmen dieser umfassenden Beurteilung kann das vorlegende Gericht, wie bereits in Rn. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, unter bestimmten Voraussetzungen neben etwaigen anderen relevanten Indizien, die darauf hindeuten, dass die Ermittlungen im ersten Mitgliedstaat nicht eingehend waren, die Tatsache berücksichtigen, dass der Beschuldigte nicht als Verdächtiger befragt wurde.

60      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass der in Art. 54 SDÜ verankerte Grundsatz ne bis in idem im Licht von Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine einen Beschuldigten freisprechende Entscheidung, die in einem ersten Mitgliedstaat im Anschluss an ein Ermittlungsverfahren ergangen ist, das im Wesentlichen Bestechungshandlungen betraf, als rechtskräftige Entscheidung im Sinne dieser Artikel zu qualifizieren ist, wenn dieser Beschuldigte wegen derselben Handlungen in einem zweiten Mitgliedstaat erneut strafrechtlich verfolgt wird und wenn

–        die freisprechende Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats ohne Verhängung einer Strafe und ohne Mitwirkung eines Gerichts erlassen und mit der Feststellung begründet wurde, dass es keine Beweise dafür gebe, dass der Beschuldigte die ihm vorgeworfene Straftat tatsächlich begangen habe,

–        nach dem im ersten Mitgliedstaat geltenden nationalen Recht die Staatsanwaltschaft ungeachtet der Rechtskraft einer solchen freisprechenden Entscheidung über die Möglichkeit verfügt, das Verfahren unter genau festgelegten Voraussetzungen, wie z. B. bei Entstehen neuer bedeutsamer Tatsachen oder Beweismittel, fortzuführen, soweit die Straftat jedenfalls nicht verjährt ist, und

–        die Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats während des Ermittlungsverfahrens Daten erhoben hat, ohne jedoch den Beschuldigten, der Staatsbürger eines anderen Mitgliedstaats ist, zu befragen, da die Ermittlungsmaßnahme mit Zwangsgewalt zur Feststellung seines Aufenthalts sich letztlich als erfolglos erwiesen hat,

wobei der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats den Beschuldigten nicht befragt hat, von der Staatsanwaltschaft des zweiten Mitgliedstaats neben etwaigen anderen relevanten Indizien, die darauf hindeuten, dass die Ermittlungen im ersten Mitgliedstaat nicht eingehend waren, berücksichtigt werden kann, vorausgesetzt jedoch, es ist erwiesen, dass es unter den Umständen des vorliegenden Falles vernünftigerweise der Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats oblag, eine Ermittlungsmaßnahme zu ergreifen, die eine wirksame Befragung dieses Beschuldigten sicherstellt und die offensichtlich neue Tatsachen oder Beweismittel hätte beibringen können, die geeignet gewesen wären, in erheblichem Umfang in Frage zu stellen, ob eine freisprechende Entscheidung begründet sei.

 Kosten

61      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Der Grundsatz ne bis in idem, der in Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen verankert ist, ist in Verbindung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

eine einen Beschuldigten freisprechende Entscheidung, die in einem ersten Mitgliedstaat im Anschluss an ein Ermittlungsverfahren ergangen ist, das im Wesentlichen Bestechungshandlungen betraf, als rechtskräftige Entscheidung im Sinne dieser Artikel zu qualifizieren ist, wenn dieser Beschuldigte wegen derselben Handlungen in einem zweiten Mitgliedstaat erneut strafrechtlich verfolgt wird und wenn

–        die freisprechende Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats ohne Verhängung einer Strafe und ohne Mitwirkung eines Gerichts erlassen und mit der Feststellung begründet wurde, dass es keine Beweise dafür gebe, dass der Beschuldigte die ihm vorgeworfene Straftat tatsächlich begangen habe,

–        nach dem im ersten Mitgliedstaat geltenden nationalen Recht die Staatsanwaltschaft ungeachtet der Rechtskraft einer solchen freisprechenden Entscheidung über die Möglichkeit verfügt, das Verfahren unter genau festgelegten Voraussetzungen, wie z. B. bei Entstehen neuer bedeutsamer Tatsachen oder Beweismittel, fortzuführen, soweit die Straftat jedenfalls nicht verjährt ist, und

–        die Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats während des Ermittlungsverfahrens Daten erhoben hat, ohne jedoch den Beschuldigten, der Staatsbürger eines anderen Mitgliedstaats ist, zu befragen, da die Ermittlungsmaßnahme mit Zwangsgewalt zur Feststellung seines Aufenthalts sich letztlich als erfolglos erwiesen hat,

wobei der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats den Beschuldigten nicht befragt hat, von der Staatsanwaltschaft des zweiten Mitgliedstaats neben etwaigen anderen relevanten Indizien, die darauf hindeuten, dass die Ermittlungen im ersten Mitgliedstaat nicht eingehend waren, berücksichtigt werden kann, vorausgesetzt jedoch, es ist erwiesen, dass es unter den Umständen des vorliegenden Falles vernünftigerweise der Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats oblag, eine Ermittlungsmaßnahme zu ergreifen, die eine wirksame Befragung dieses Beschuldigten sicherstellt und die offensichtlich neue Tatsachen oder Beweismittel hätte beibringen können, die geeignet gewesen wären, in erheblichem Umfang in Frage zu stellen, ob eine freisprechende Entscheidung begründet sei.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.