URTEIL DES GERICHTS (Dritte erweiterte Kammer)
31. März 1998 (1)
„Staatliche Beihilfen für die Eisen- und Stahlindustrie Anmeldung eines
Beihilfevorhabens Außerkrafttreten der anwendbaren Bestimmungen des
EGKS-Beihilfekodex Durchführung des Beihilfevorhabens Entscheidung,
durch die die Unvereinbarkeit der Beihilfe festgestellt und ihre Rückzahlung
angeordnet wird Vertrauensschutz“
In der Rechtssache T-129/96
Preussag Stahl AG, Gesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in Salzgitter
(Deutschland), Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Jochim Sedemund, Berlin,
Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Aloyse May, 31, Grand-rue,
Luxemburg
unterstützt durch
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und
Oberregierungsrat Bernd Kloke, beide Bundesministerium für Wirtschaft, als
Bevollmächtigte, Beistand: Rechtsanwälte Holger Wissel und Oliver Axster,
Düsseldorf,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Dimitris
Triantafyllou und Paul Nemitz, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre
Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 96/544/EGKS der Kommission vom 29.
Mai 1996 über eine staatliche Beihilfe zugunsten der Walzwerk Ilsenburg GmbH
(ABl. L 233, S. 24)
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Dritte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin V. Tiili sowie der Richter C. P. Briët,
K. Lenaerts, A. Potocki und J. D. Cooke,
Kanzler: A. Mair, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13.
Januar 1998,
folgendes
Urteil
- 1.
- Artikel 4 Buchstabe c EGKS-Vertrag (im folgenden: Vertrag) untersagt alle
Beihilfen der Mitgliedstaaten für die Stahlindustrie, in welcher Form sie auch
immer gewährt werden.
- 2.
- Die Kommission erließ gemäß Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages nach
Anhörung des Beratenden Ausschusses und mit einstimmiger Zustimmung des
Rates die Entscheidung Nr. 3855/91/EGKS vom 27. November 1991 zur Einführung
gemeinschaftlicher Vorschriften über Beihilfen an die Eisen- und Stahlindustrie
(ABl. L 362, S. 57), den sogenannten Fünften Stahlbeihilfenkodex (im folgenden:
Kodex).
- 3.
- Nach Artikel 1 Absatz 1 des Kodex können alle Beihilfen zugunsten der Eisen- und
Stahlindustrie, die von den Mitgliedstaaten bzw. den Gebietskörperschaften
finanziert werden, nur dann als mit dem ordnungsgemäßen Funktionieren des
Gemeinsamen Marktes vereinbar angesehen werden, wenn sie den Bestimmungen
der Artikel 2 bis 5 entsprechen.
- 4.
- Artikel 1 Absatz 3 des Kodex lautet:
„Die in dieser Entscheidung vorgesehenen Beihilfen dürfen nur nach den
Verfahren des Artikels 6 gewährt werden und keine Zahlung nach dem 31.
Dezember 1996 zur Folge haben.
Die Frist für die Beihilfen nach Artikel 5 läuft am 31. Dezember 1994 ab; dies gilt
nicht für die Investitionszulagen in den fünf neuen Bundesländern, die im
deutschen Steueranpassungsgesetz 1991 vorgesehen sind und bis zum 31. Dezember
1995 gezahlt werden dürfen.“
- 5.
- Artikel 5 des Kodex bestimmt:
„In den allgemeinen Regelungen vorgesehene regionale Investitionsbeihilfen
können bis zum 31. Dezember 1994 als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar
gelten, wenn
...
...
das begünstigte Unternehmen im Hoheitsgebiet der ehemaligen Deutschen
Demokratischen Republik niedergelassen ist und die Beihilfe mit einer
Verringerung der gesamten Produktionskapazität in diesem Gebiet
einhergeht.“
- 6.
- Artikel 6 des Kodex sieht folgendes vor:
„(1) Die Kommission ist von allen Vorhaben zur Gewährung oder Umgestaltung
von Beihilfen gemäß den Artikeln 2 bis 5 so rechtzeitig zu unterrichten, daß sie sich
hierzu äußern kann. Ebenso ist sie über alle Vorhaben zur Anwendung jener
Beihilferegelungen auf die Stahlindustrie zu unterrichten, zu denen sie bereits
aufgrund des EWG-Vertrags Stellung genommen hat. Die Anmeldungen der in
diesem Artikel genannten Beihilfevorhaben sind für die unter Artikel 5 fallenden
Beihilfen bis spätestens 30. Juni 1994 und für alle anderen Beihilfen bis spätestens
30. Juni 1996 einzureichen.
...
(3) Die Kommission holt zu den ... Vorhaben zur Gewährung von ... regionalen
Investitionsbeihilfen sofern die Höhe der betreffenden Investition oder der
Gesamtheit der im Laufe von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten geförderten
Investitionen 10 Millionen ECU übersteigt und sonstigen wichtigen
Beihilfevorhaben die Stellungnahme der Mitgliedstaaten ein, bevor sie darüber
entscheidet. Sie unterrichtet alle Mitgliedstaaten über jede ihrer Stellungnahmen
zu Beihilfevorhaben und gibt dabei Art und Umfang der Beihilfe an.
(4) Stellt die Kommission, nachdem sie die Beteiligten zur Stellungnahme
aufgefordert hat, fest, daß eine Beihilfe nicht mit den Bestimmungen der
vorliegenden Entscheidung vereinbar ist, so unterrichtet sie den betreffenden
Mitgliedstaat von ihrer Entscheidung. Die Kommission trifft ihre Entscheidung
spätestens drei Monate nach Eingang der zur Beurteilung der betreffenden Beihilfe
erforderlichen Auskünfte. Kommt ein Mitgliedstaat der Entscheidung nicht nach,
so findet Artikel 88 des Vertrages Anwendung. Der betreffende Mitgliedstaat darf
die in [Absatz 1] genannten Maßnahmen nur mit Zustimmung der Kommission
durchführen, wobei er sich an die von der Kommission festgesetzten Bedingungen
zu halten hat.
(5) Sind nach dem Tag des Eingangs der Anmeldung des betreffenden Vorhabens
zwei Monate vergangen, ohne daß die Kommission das in Absatz 4 genannte
Verfahren eröffnet oder in anderer Weise hierzu Stellung genommen hat, dürfen
die geplanten Maßnahmen durchgeführt werden, sofern der Mitgliedstaat zuvor die
Kommission von seiner diesbezüglichen Absicht unterrichtet hat. Bei einer
Konsultation der Mitgliedstaaten gemäß Absatz 3 verlängert sich diese Frist auf
drei Monate.
(6) Jeder einzelne Fall einer Anwendung der in Artikel 5 ... genannten Beihilfen
ist der Kommission unter den Bedingungen des Absatzes 1 zu melden ...“
- 7.
- Der Kodex trat nach seinem Artikel 9 am 1. Januar 1992 in Kraft und galt bis zum
31. Dezember 1996.
Der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Sachverhalt
- 8.
- Die Walzwerk Ilsenburg GmbH im Land Sachsen-Anhalt gehörte zu den
Staatsbetrieben der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Sie wurde
von der Klägerin 1992 als rechtlich selbständiges Tochterunternehmen
übernommen. 1995 wurde das Walzwerk Ilsenburg mit der Klägerin verschmolzen,
die nunmehr die Rechtsnachfolgerin der Firma Walzwerk Ilsenburg ist.
- 9.
- Die Klägerin mußte, um die Lebensfähigkeit des Werkes unter den geänderten
Marktverhältnissen herzustellen, weitgehende Rationalisierungsmaßnahmen
durchführen, darunter die Verlagerung der Grobblechproduktion von ihrem Werk
Salzgitter (Westdeutschland) in das Walzwerk Ilsenburg.
- 10.
- Zur Unterstützung der für diese Übernahme erforderlichen Investitionen in Höhe
von 29,5 Millionen DM sollte das Land Sachsen-Anhalt eine Beihilfe genehmigen,
die sich aus einem Investitionszuschuß in Höhe von 5,850 Millionen DM und einer
Steuervergünstigung von 0,9505 Millionen DM zusammensetzte. Diese Beihilfen
stützten sich auf zwei von der Kommission gemäß den anwendbaren Vorschriften
des EG-Vertrags und des EGKS-Vertrags genehmigte allgemeine Regelungen über
Regionalbeihilfen, nämlich den Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Förderung
der regionalen Wirtschaftsstruktur“ einerseits und das Investitionszulagengesetz
andererseits.
- 11.
- Die Bundesregierung meldete dieses Beihilfevorhaben mit Telefax vom 24.
November 1994 bei der Kommission an, das von der Kommission am nächsten Tag
unter der Nr. 777/94 eingetragen wurde. Diese Anmeldung nahm ausdrücklich
Bezug auf die am 10. Mai 1994 erfolgte Anmeldung eines anderen Beihilfeprojekts
für die Investition von 11,8 Millionen DM, das ebenfalls für das Walzwerk
Ilsenburg, und zwar zur Energieträger-Umstellung sowie zur Verbesserung des
Umweltschutzes, vorgesehen war (im folgenden: Beihilfevorhaben Nr. 308/94).
- 12.
- Die Kommission regte mit Schreiben vom 1. Dezember 1994 an die
Bundesregierung an, die Anmeldung des Beihilfevorhabens Nr. 777/94 (im
folgenden: Beihilfevorhaben Nr. 777/94) zurückzuziehen, um eine
Verfahrenseröffnung allein wegen der Versäumung der Frist, die Ende Juni 1994
abgelaufen sei, zu vermeiden. Die Kommission führte aus, ein Fristversäumnis
allein stehe einer Bearbeitung dann nicht im Wege, wenn sie noch in der Lage
wäre, vor dem Jahresende 1994 eine Entscheidung zu treffen. Da das
Beihilfevorhaben Nr. 777/94 erst am 25. November 1994, also lediglich siebzehn
Arbeitstage vor der letzten Sitzung der Kommission im Jahr 1994, angemeldet
worden sei, sei es ihr jedoch selbst bei größtmöglicher Beschleunigung unmöglich,
vor dem Jahresende zu entscheiden, da im Hinblick auf das vorgesehene
Investitionsvolumen eine Konsultation der Mitgliedstaaten notwendig sei.
- 13.
- Die Bundesregierung teilte der Kommission mit Schreiben vom 13. Dezember 1994
mit, daß sie die Anmeldung des Beihilfevorhabens Nr. 777/94 keinesfalls
zurückziehen werde. Die Bundesregierung informierte die Preussag von dieser
Entscheidung.
- 14.
- In der Zwischenzeit hatte die Klägerin am 7. Dezember 1994 ein Schreiben an die
Mitglieder der Kommission Van Miert und Bangemann gerichtet, in dem sie
ausführte, daß die bei der Anmeldung eingetretene Verzögerung auf der breiten
und langwierigen Diskussion beruhe, zu der die gravierenden regionalpolitischen
Beschäftigungseinflüsse des Beihilfevorhabens Nr. 777/94 geführt hätten. Deshalb
bat die Klägerin die beiden Mitglieder der Kommission, ihre Beamten zu
veranlassen, die Prüfung dieses Vorhabens noch unter der Geltung des Stahlkodex
vorzunehmen.
- 15.
- Die Klägerin erhielt durch Telefax vom 21. Dezember 1994, bestätigt durch ein auf
denselben Tag datiertes Schreiben, folgende Mitteilung:
„Martin Bangemann
Mitglied der Europäischen Kommission
...
für Ihr Schreiben vom 7. Dezember 1994 danke ich Ihnen vielmals.
Mein Kollege Karel van Miert und ich teilen Ihre Einschätzung, daß eine
Entscheidung über die Beihilfen für die Unternehmen in den neuen deutschen
Ländern dringend ist, um nicht die wirtschaftliche Entwicklung dort durch
überlange administrative Prozeduren zu blockieren.
Daher freue ich mich, Ihnen mitteilen zu können, daß die EG-Kommission heute
die Beihilfe für die Walzwerke Ilsenburg, wie beantragt, genehmigt hat. Für seine
weitere Entwicklung wünsche ich diesem Unternehmen viel Erfolg.
Mit freundlichen Grüßen
gez. Martin Bangemann“
- 16.
- Die Kommission nannte den deutschen Stellen mit Telex SG(94)D/37659 vom 21.
Dezember 1994 die Beihilfevorhaben, gegen die sie keine Einwände erhob,
darunter das Vorhaben Nr. 308/94.
- 17.
- Der Betrag des Investitionszuschusses, den das Landesförderinstitut Sachsen-Anhalt
der Klägerin am 20. Oktober 1994 unter der auflösenden Bedingung der
Anmeldung bei der Kommission gewährte, wurde dem Konto der Klägerin am 23.
Dezember 1994 gutgeschrieben.
- 18.
- Die Kommission bestätigte mit Schreiben SG(95)D/1056 vom 1. Februar 1995 an
die Bundesregierung die Vereinbarkeit bestimmter regionaler Beihilfevorhaben,
darunter des Vorhabens Nr. 308/94, mit Artikel 5 des Kodex.
- 19.
- Am 15. Februar 1995 beschloß die Kommission, gegen das Beihilfevorhaben Nr.
777/94 das Prüfverfahren nach Artikel 6 Absatz 4 des Kodex einzuleiten. Die
deutschen Stellen wurden von dieser Entscheidung mit Schreiben vom 10. März
1995 unterrichtet, das später in einer im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
(ABl. 1995, C 289, S. 11) veröffentlichten Mitteilung wiedergegeben wurde. Die
Kommission führte darin aus, die außerordentliche Verspätung der Anmeldung
dieses Vorhabens habe es ihr unmöglich gemacht, vor dem 31. Dezember 1994
über seine Vereinbarkeit zu entscheiden; nach diesem Zeitpunkt sei sie nach dem
Wortlaut des Artikels 5 des Kodex nicht mehr befugt gewesen, eine Entscheidung
zu erlassen. Außerdem forderte die Kommission die übrigen Mitgliedstaaten und
die sonstigen Beteiligten auf, sich binnen eines Monats seit Veröffentlichung der
Mitteilung zu dem Beihilfevorhaben Nr. 777/94 zu äußern.
- 20.
- Das Kommissionsmitglied Bangemann teilte der Klägerin mit Schreiben vom 23.
Februar 1995 mit, die in seinem Schreiben vom 21. Dezember 1994 erwähnte
Genehmigung habe das Beihilfevorhaben Nr. 308/94 und nicht das Beihilfevorhaben
Nr. 777/94 betroffen.
- 21.
- Die Steuervergünstigung für das Beihilfevorhaben Nr. 777/94 wurde durch zwei
Bescheide des Finanzamts Wolfenbüttel vom 26. Oktober 1995 in Höhe von428 975,70 DM und vom 9. Januar 1996 in Höhe von 190 052 DM gewährt; diese
Beträge wurden der Klägerin an denselben Tagen gutgeschrieben.
- 22.
- Die Kommission stellte in ihrer Entscheidung 96/544/EGKS vom 29. Mai 1996 über
eine staatliche Beihilfe zugunsten der Walzwerk Ilsenburg GmbH (ABl. L 233,
S. 24; im folgenden: angefochtene Entscheidung) fest, daß der Investitionszuschuß
und die Steuervergünstigung staatliche Beihilfen darstellten, die mit dem
Gemeinsamen Markt unvereinbar und durch Vorschriften des Vertrages und des
Kodex untersagt seien, und ordnete deren Rückzahlung an. Diese Entscheidung
wurde der Bundesregierung am 26. Juni 1996 bekanntgegeben und von dieser am
9. Juli 1996 der Klägerin übermittelt.
Das streitige Verfahren
- 23.
- Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 15. August 1996 bei der Kanzlei des
Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage auf Nichtigerklärung der
angefochtenen Entscheidung erhoben.
- 24.
- Das Gericht hat mit Beschluß vom 11. Dezember 1996 dem Antrag der
Bundesrepublik Deutschland vom 31. Oktober 1996 auf Zulassung als Streithelferin
zur Unterstützung der Anträge der Klägerin stattgegeben.
Anträge der Parteien
- 25.
- Die Klägerin beantragt,
der Kommission gemäß Artikel 23 der EGKS-Satzung des Gerichtshofes
aufzugeben, sämtliche Unterlagen (Vorlagen, Protokolle etc.), die die
Umstände des Erlasses der angefochtenen Entscheidung dokumentieren,
dem Gericht vorzulegen,
ihr Einsicht in die vorgelegten Unterlagen zu gewähren,
die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären,
der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- 26.
- Die Kommission beantragt,
die Klage als unzulässig und unbegründet abzuweisen,
der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- 27.
- Die Bundesrepublik Deutschland beantragt,
die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären.
- 28.
- Die Kommission beantragt in ihren Erklärungen zu dem Streithilfeschriftsatz der
Bundesrepublik Deutschland,
die Argumente der Streithilfe abzuweisen,
der Streithelferin einen Teil der Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Zum Antrag auf Nichtigerklärung
Zulässigkeit
- 29.
- Die Kommission macht geltend, die vorliegende Klage sei verspätet erhoben und
mißbräuchlich, da die Klägerin dadurch, daß sie es unterlassen habe, gegen die
Entscheidung vom 15. Februar 1995 über die Einleitung des Verfahrens zur
Prüfung der streitigen Beihilfe Klage zu erheben, die tatsächliche Verfestigung
einer verfahrens- und vertragswidrigen Situation ermöglicht habe.
- 30.
- Die Klägerin, die von der Streithelferin unterstützt wird, entgegnet, selbst wenn die
Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens zur Prüfung der angefochtenen
Beihilfe selbst mit der Nichtigkeitsklage anfechtbar gewesen wäre, lasse sich Artikel
33 des Vertrages auch nicht im Ansatz entnehmen, daß deswegen die förmliche
Abschlußentscheidung nicht anfechtbar sein solle.
- 31.
- Dazu genügt die Feststellung, daß die angefochtene Entscheidung eigene rechtliche
Wirkungen erzeugt, darunter die Verpflichtung, die gezahlte Beihilfe
zurückzuzahlen, und daß die Klägerin somit eine Klagemöglichkeit gegen diese
Entscheidung haben muß (Urteile des Gerichtshofes vom 17. Dezember 1980 in der
Rechtssache 730/79, Philip Morris/Kommission, Slg. 1980, 2671, Randnr. 5, und
vom 9. März 1994 in der Rechtssache C-188/92, TWD Textilwerke Deggendorf, Slg.
1994, I-833, Randnr. 14), und zwar unabhängig davon, ob sie die Entscheidung über
die Eröffnung des Verfahrens zur Prüfung der streitigen Beihilfe angefochten hat.
- 32.
- Die von der Kommission erhobene Einrede der Unzulässigkeit greift folglich nicht
durch.
Begründetheit
- 33.
- Die Klägerin stützt ihre Nichtigkeitsklage im wesentlichen auf sieben Gründe.
Zum ersten Klagegrund: zeitliche Zuständigkeit der Kommission
Vorbringen der Beteiligten
- 34.
- Die Klägerin macht im wesentlichen geltend, daß keine Bestimmung des Kodex es
der Kommission verbiete, nach dem 31. Dezember 1994 die Vereinbarkeit der in
Artikel 5 des Kodex bezeichneten regionalen Investitionsbeihilfen mit dem
Gemeinsamen Markt festzustellen, wenn nur, wie im vorliegenden Fall, die
materiellen Bedingungen für ihre Genehmigung vor diesem Zeitpunkt erfüllt
gewesen seien. Der in Artikel 1 Absatz 3 Unterabsatz 2 des Kodex festgesetzte
Stichtag 31. Dezember 1994 solle nur die Frist für die Zahlung dieser Beihilfen
zeitlich begrenzen. Außerdem sei die Kommission nicht von ihrer Verpflichtung
befreit, über die materielle Vereinbarkeit einer Beihilfe zu entscheiden, die ohne
ordnungsgemäße Anmeldung oder vor ihrer Genehmigung durch die Kommission
ausgezahlt worden sei (Urteil des Gerichtshofes vom 14. Februar 1990 in der
Rechtssache C-301/87, Frankreich/Kommission, Slg. 1990, I-307). Schließlich habe
die Kommission selbst es nicht für unmöglich gehalten, nach dem 31. Dezember
1994 über die Vereinbarkeit des Beihilfevorhabens Nr. 777/94 zu entscheiden, da
sie nach diesem Zeitpunkt das Prüfverfahren eingeleitet und die Stellungnahme der
Mitgliedstaaten und der übrigen Betroffenen eingeholt habe.
- 35.
- Die Streithelferin fügt hinzu, das Gericht habe im Urteil vom 22. Oktober 1996 in
der Rechtssache T-266/94 (Skibsværftsforeningen u. a./Kommission, Slg. 1996,
II-1399, Randnrn. 92 ff.) entschieden, daß die Kommission befugt gewesen sei, eine
Betriebsbeihilfe auch noch nach dem in Artikel 10a Absatz 2 der Richtlinie
90/684/EWG des Rates vom 21. Dezember 1990 über Beihilfen für den Schiffbau
(ABl. L 380, S. 27) festgelegten Endtermin zu genehmigen. Da die Auszahlung der
Investitionszulage bis zum 31. Dezember 1995 zulässig gewesen sei, wäre es auch
nach der Rechtsauffassung der Kommission möglich gewesen, so fristgerecht zu
entscheiden, daß eine Auszahlung bis zu diesem Tag möglich gewesen wäre.
- 36.
- Die Kommission entgegnet im wesentlichen, am 31. Dezember 1994 ende sowohl
die Auszahlungsfrist als auch die Entscheidungsfrist. Die Auszahlung der Beihilfe
müsse der Genehmigungsentscheidung folgen und nicht umgekehrt, da die
Mitgliedstaaten die Beihilfemaßnahmen nach Artikel 6 Absatz 4 des Kodex nicht
ohne die Zustimmung der Kommission durchführen dürften. Ab 1. Januar 1995 sei
das in Artikel 4 Buchstabe c des Vertrages ausgesprochene absolute Beihilfeverbot
mit der Folge wiederhergestellt worden, daß eine nach diesem Zeitpunkt ergehende
Entscheidung eine schon ausgezahlte Beihilfe nicht legitimieren könne. Die sich aus
der Fristüberschreitung ergebende Rechtswidrigkeit wandele sich damit in
substantielle Unvereinbarkeit der Beihilfe mit dem Vertrag und zeitliche
Unzuständigkeit der Kommission zur Genehmigung um. Die Kommission habe
gleichwohl darauf bestanden, das Prüfverfahren gemäß Artikel 6 Absätze 3 und 4
des Kodex einzuleiten, der auch in allen Fällen von mit dem Kodex unvereinbaren
Beihilfen eingehalten werden müsse.
- 37.
- Der vorliegende Fall unterscheide sich auch erheblich von dem dem Urteil
Skibsværftsforeningen u. a./Kommission zugrunde liegenden Sachverhalt. Schließlich
bestätige die Verweisung auf Artikel 5 des Kodex in Artikel 1 Absatz 3 Unterabsatz
2 der Richtlinie, daß die Frist für die Entscheidung am 31. Dezember 1994
abgelaufen sei, und zwar auch hinsichtlich der besonderen Steuervergünstigungen.
Würdigung durch das Gericht
- 38.
- Wie sich aus dem Wortlaut des Artikels 1 Absatz 1 des Kodex ergibt, konnten die
im Kodex genannten Beihilfen zugunsten der Eisen- und Stahlindustrie nur dann
als mit dem ordnungsgemäßen Funktionieren des Gemeinsamen Marktes vereinbar
angesehen werden, wenn sie den Bestimmungen der Artikel 2 bis 5 entsprachen.
- 39.
- Die streitigen Beihilfen konnten als regionale Investitionsbeihilfen nach Artikel 5
des Kodex bis zum 31. Dezember 1994 als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar
angesehen werden, und die Frist für ihre Zahlung lief nach Artikel 1 Absatz 3
Unterabsatz 2 grundsätzlich am selben Tag ab.
- 40.
- Ferner bestimmte Artikel 1 Absatz 3 Unterabsatz 1 des Kodex, daß die im Kodex
vorgesehenen Beihilfen nur nach dem Verfahren des Artikels 6 gewährt werden
durften. Nach Artikel 6 Absatz 1 war die Kommission von allen Vorhaben zur
Gewährung von Beihilfen zu unterrichten, und nach Artikel 6 Absatz 4 letzter Satz
durfte der betreffende Mitgliedstaat die geplanten Maßnahmen nur mit
Zustimmung der Kommission durchführen, wobei er sich an die von der
Kommission festgesetzten Bedingungen zu halten hatte.
- 41.
- Daraus folgt zwingend, daß die im Kodex genannten Beihilfemaßnahmen erst
durchgeführt werden durften, wenn sie von der Kommission genehmigt worden
waren. Deshalb war, wie sich aus der in Artikel 1 Absatz 3 Unterabsatz 2 des
Kodex enthaltenen Verweisung auf Artikel 5 ergibt, der für die Zahlung der
regionalen Investitionsbeihilfen vorgeschriebene Stichtag 31. Dezember 1994
notwendig der in Artikel 5 festgelegte äußerste Termin für die Entscheidung der
Kommission über die Vereinbarkeit dieser Art von Beihilfen mit dem
Gemeinsamen Markt.
- 42.
- Dasselbe gilt entgegen dem Vorbringen der Streithelferin für die besonderen
Steuervergünstigungen, obwohl diese nach Artikel 1 Absatz 3 Unterabsatz 2 des
Kodex bis zum 31. Dezember 1995 gezahlt werden konnten. Diese Verschiebung
des Stichtags für die Zahlung hatte ihren Grund nämlich nur darin, daß zuvor die
mit der Beihilfe unterstützten Investitionen durchgeführt sein mußten, wovon
wiederum der Anspruch auf die besonderen Steuervergünstigungen abhing; sie
konnte daher nicht zu einer Verlängerung der der Kommission für die
Entscheidung über die Vereinbarkeit dieser Art von Beihilfen eingeräumten Frist
führen.
- 43.
- Die Klägerin kann sich auch nicht auf die Verpflichtung der Kommission berufen,
über die Vereinbarkeit einer Beihilfe, die gezahlt wurde, obwohl sie nicht
ordnungsgemäß angemeldet oder noch nicht von der Kommission genehmigt
worden war, mit dem EG-Vertrag zu entscheiden. Im Gegensatz zu den
Vorschriften des EG-Vertrags über die staatlichen Beihilfen, die der Kommission
die ständige Befugnis verleihen, über deren Vereinbarkeit zu entscheiden, war die
Ausnahme, die der Kodex vom Grundsatz des in Artikel 4 Buchstabe c des
Vertrages ausgesprochenen absoluten Beihilfeverbots vorsah, zeitlich begrenzt.
Diese Ausnahme ist um so enger auszulegen, als es in der elften
Begründungserwägung des Kodex heißt: „Da regionale Investitionsbeihilfen eine
Ausnahme darstellen, wäre es ungerechtfertigt, sie über die für die Modernisierung
der betreffenden Stahlunternehmen notwendige, auf drei Jahre geschätzte Zeit
hinaus beizubehalten.“
- 44.
- Wie die Kommission zu Recht geltend gemacht hat, unterscheidet sich der
vorliegende Rechtsstreit deutlich von der Rechtssache, die zum Urteil
Skibsværftsforeningen u. a./Kommission geführt hat; dort hatte die Kommission
tatsächlich im Mai 1994 eine Betriebsbeihilfe genehmigt, obwohl Artikel 10a der
Richtlinie 90/684 bestimmte, daß diese Beihilfen bis zum 31. Dezember 1993 als mit
dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden durften, sofern für zwischen
dem 1. Juli 1990 und dem 31. Dezember 1993 unterzeichnete Verträge keine
anderen Produktionsbeihilfen gezahlt worden waren.
- 45.
- Nach dieser Bestimmung hatte die Kommission über die Notwendigkeit und die
Vereinbarkeit von Betriebsbeihilfen und nicht wie im vorliegenden Rechtsstreit
von Investitionsbeihilfen im Zusammenhang mit besonderen Verträgen zu
entscheiden, die noch am letzten Tag des Referenzzeitraums unterzeichnet werden
konnten. Das Gericht hat daraus hergeleitet, daß die Kommission befugt und
verpflichtet war, die Notwendigkeit und somit die Vereinbarkeit der
Betriebsbeihilfen, die für bis zu diesem Stichtag unterzeichnete Verträge gewährt
wurden, zu prüfen und demnach auch noch nach dem 31. Dezember 1993 über sie
zu entscheiden (Randnrn. 95 und 96). Weiter hat das Gericht ausgeführt, daß bei
Betriebsbeihilfen, d. h. insbesondere Produktionsbeihilfen im Zusammenhang mit
besonderen Verträgen, für die Beurteilung der Auswirkungen der Beihilfen im
Bereich des Wettbewerbs nur der Zeitpunkt der Unterzeichnung dieser Verträge
maßgebend ist (Randnr. 96). Schließlich hat das Gericht ausdrücklich darauf
hingewiesen, daß Artikel 10a der Richtlinie 90/684 anders als der Kodex keine Frist
für die Anmeldung vorschrieb (Randnr. 99).
- 46.
- Im übrigen wurde die Entscheidung, das Verfahren zur Prüfung des
Beihilfevorhabens Nr. 777/94 einzuleiten, unter Beachtung der
Verfahrensvorschriften des Artikels 6 des Kodex, die bis zum 31. Dezember 1996
anwendbar waren, getroffen. Ihr Erlaß bedeutet demnach nicht, daß die
Kommission sich noch für berechtigt hielt, über die materielle Vereinbarkeit der
Beihilfe mit den Bestimmungen des Kodex zu entscheiden.
- 47.
- Nach alledem ist dieser Klagegrund zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Angemessenheit des Zeitraums für die Prüfung desBeihilfevorhabens Nr. 777/94
Vorbringen der Parteien
- 48.
- Nach Auffassung der Klägerin, der die Bundesrepublik Deutschland im
wesentlichen beipflichtet, hätte das bloße Fristversäumnis der Prüfung des
Beihilfevorhabens Nr. 777/94 nicht im Wege stehen dürfen, da die Kommission bis
zum 31. Dezember 1994 noch ungefähr sechs Wochen Zeit gehabt habe, um ihre
Entscheidung zu treffen. Für die in Artikel 6 Absatz 3 des Kodex vorgesehene
Konsultation der anderen Mitgliedstaaten hätte es nur einer kurzen Mitteilung mit
dem Hinweis auf die Übereinstimmung dieses Vorhabens mit den materiellen
Voraussetzungen der Genehmigung bedurft.
- 49.
- Im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit des Beihilfevorhabens Nr. 777/94 hätte
die Kommission sich auf die Feststellung beschränken können, daß der Empfänger
der Beihilfe, wie aus der Mitteilung des Vorhabens Nr. 308/94 hervorgehe, im
Gebiet der ehemaligen DDR niedergelassen sei und daß die Beihilfe von einer
Verringerung der gesamten Produktionskapazität in diesem Gebiet begleitet werde.
- 50.
- Die Kommission entgegnet, selbst wenn die am 30. Juni 1994 abgelaufene Frist für
die Anmeldung der Beihilfen keine Ausschlußfrist wäre, hätte ihre ganz erhebliche
Überschreitung durch die Bundesregierung es ihr wegen ihrer Verpflichtung, die
Mitgliedstaaten zu konsultieren, nicht mehr ermöglicht, vor dem 31. Dezember
1994 eine Entscheidung zu fällen.
- 51.
- Artikel 5 des Kodex habe der Kommission ein Ermessen eingeräumt, das jeden
Automatismus ausschließe, da sie den Ort der Niederlassung des Betriebes, die
Verwendung der Beihilfe für eine Investition zum Zweck der Modernisierung sowie
das Verhältnis der Beihilfe zu dem Ziel der betreffenden regionalen Regelungen
und die Verringerung der gesamten Produktionskapazität in dem fraglichen Gebiet
prüfen müsse.
Würdigung durch das Gericht
- 52.
- Artikel 6 Absatz 1 des Kodex bestimmte ausdrücklich, daß die Kommission von
allen im Kodex genannten Beihilfevorhaben so rechtzeitig unterrichtet werden
mußte, daß sie sich hierzu äußern konnte.
- 53.
- Mit dem Kodex sollte, wie sich aus dem Aufbau seiner verfahrensrechtlichen
Bestimmungen ergibt, der Kommission für ihre Entscheidung über die
Vereinbarkeit der gemeldeten Beihilfevorhaben eine Frist von mindestens sechs
Monaten gewährt werden.
- 54.
- Denn alle regionalen Investitionsbeihilfen im Sinne des Artikels 5 des Kodex, für
die vorbehaltlich der für die oben genannten besonderen Steuervergünstigungen
geltenden Ausnahmeregelung Zahlungsstichtag gemäß Artikel 1 Absatz 3
Unterabsatz 2 der 31. Dezember 1994 war, mußten nach Artikel 6 Absatz 1 letzter
Satz vor dem 30. Juni 1994 angemeldet werden. Dagegen konnten die Beihilfen, die
zu den anderen im Kodex genannten Kategorien gehörten und deren Zahlung
gemäß Artikel 1 Absatz 3 Unterabsatz 1 des Kodex bis zum 31. Dezember 1996
erfolgen konnte, nach Artikel 6 Absatz 1 letzter Satz bis zum 30. Juni 1996
angemeldet werden.
- 55.
- Mußte die Kommission zudem, wie im vorliegenden Fall, gemäß Artikel 6 Absatz
3 des Kodex vor der Entscheidung über das gemeldete Beihilfevorhaben die
Stellungnahme der Mitgliedstaaten hierzu einholen, so bedeutet dies zum einen,
daß der Mitgliedstaat nach Artikel 6 Absatz 5 Satz 2 des Kodex die geplanten
Maßnahmen nicht vor Ablauf von drei Monaten seit dem Tag des Eingangs der
Anmeldung des Vorhabens durchführen durfte, und zum anderen, daß Artikel 6
Absatz 4 Satz 2 der Kommission eine Frist von drei Monaten nach Eingang der zur
Beurteilung der betreffenden Beihilfe erforderlichen Auskünfte einräumte.
- 56.
- Der Kommission stand folglich im vorliegenden Fall für die Einleitung und den
Abschluß des Verfahrens eine Frist von wenigstens sechs Monaten vor dem
Stichtag 31. Dezember 1994 zu (Urteil Skibsværftsforeningen u. a./Kommission,
zitiert in Randnr. 44, Randnr. 99).
- 57.
- Da das Beihilfevorhaben Nr. 777/94 nach dem 30. Juni 1994 angemeldet wurde,
war die Kommission somit nicht mehr verpflichtet, vor dem 31. Dezember 1994
eine Entscheidung über seine Vereinbarkeit zu erlassen.
- 58.
- Selbst wenn man mit der Klägerin annimmt, daß die Vereinbarkeit der streitigen
Beihilfe nicht zweifelhaft war und daß die Konsultation der Mitgliedstaaten nur
eine kurze Mitteilung erfordert hätte, war die Kommission jedenfalls nicht
verpflichtet, die Bundesregierung vor Ablauf der in Artikel 6 Absatz 5 Satz 2 des
Kodex festgesetzten Frist von drei Monaten seit der Anmeldung des
Beihilfevorhabens Nr. 777/94 oder gar vor dem 31. Dezember 1994 von ihrer
eventuellen Entscheidung, keine Einwände gegen dieses Vorhaben zu erheben, zu
unterrichten.
- 59.
- Somit sind die deutschen Stellen, als sie entgegen der Stellungnahme der
Kommission (siehe oben, Randnr. 12) die Anmeldung des Beihilfevorhabens Nr.
777/94 zu einem Zeitpunkt aufrechterhalten haben, zu dem der Kommission
wesentlich weniger Zeit blieb als die im Kodex festgelegten sechs Monate, das
Risiko eingegangen, daß es der Kommission unmöglich sein würde, das
Beihilfevorhaben zu prüfen, solange sie noch dazu befugt war. Da eine
offensichtliche Säumigkeit der Kommission nicht nachgewiesen ist, kann ihr der
Eintritt dieses Risikos nicht angelastet werden.
- 60.
- Deshalb ist der Klagegrund zurückzuweisen.
Zum dritten Klagegrund: Verletzung des Artikels 6 Absatz 4 Satz 1 und 2 des
Kodex
- 61.
- Die Klägerin führt aus, die angefochtene Entscheidung sei rechtswidrig, weil die
Kommission den Verstoß gegen eine bloße Verfahrensvorschrift zur Begründung
genommen habe, die Beihilfe für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt zu
erklären und ihre Rückforderung anzuordnen, obwohl ihre materielle
Rechtmäßigkeit von vornherein festgestanden habe und Artikel 6 Absatz 4 Sätze
1 und 2 des Kodex die Kommission nur bei materieller Unvereinbarkeit der
Beihilfe zu einer abschlägigen Entscheidung ermächtige.
- 62.
- Die Kommission entgegnet, im vorliegenden Rechtsstreit gehe es nicht um die
bloße Verletzung einer Ordnungsfrist, sondern um ihre materielle Unzuständigkeit
nach dem 1. Januar 1995.
- 63.
- Die Frist, die der Kommission für die Entscheidung über die Vereinbarkeit der
streitigen Beihilfe eingeräumt war, lief am 31. Dezember 1994 ab. Unter diesen
Umständen konnte diese Beihilfe nicht mehr gemäß Artikel 1 Absatz 1 des Kodex
als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden und war somit
gemäß Artikel 4 Buchstabe c des Vertrages untersagt.
- 64.
- Folglich ist dieser Klagegrund zurückzuweisen.
Zum vierten Klagegrund: Verletzung des Diskriminierungsverbots
- 65.
- Die Klägerin sieht sich dadurch in ungerechtfertigter Weise diskriminiert, daß die
Kommission eine ganze Reihe von Beihilfen genehmigt habe, die lange nach Ablauf
der Anmeldefrist angemeldet worden seien.
- 66.
- Die Kommission entgegnet, das Diskriminierungsverbot verbiete es nicht, ungleich
gelagerte Fälle ungleich zu behandeln. Außerdem sei in den von der Klägerin
angeführten Fällen keine Mitteilung an die Mitgliedstaaten erforderlich gewesen.
- 67.
- Hierzu genügt die Feststellung, daß die von der Klägerin angeführten
Beihilfevorhaben ausweislich der Akten früher als das Beihilfevorhaben Nr. 777/94
angemeldet worden waren oder keine Konsultation der Mitgliedstaaten erforderten.
- 68.
- Der Klagegrund ist somit zurückzuweisen.
Zum fünften Klagegrund: Verletzung schutzwürdigen Vertrauens
Vorbringen der Parteien
- 69.
- Die Klägerin, die in den wesentlichen Punkten von der Bundesrepublik
Deutschland unterstützt wird, ist der Auffassung, daß die Zahlung der streitigen
Beihilfe ausschließlich auf den administrativen Fehler der Kommission, der zu dem
Schreiben vom 21. Dezember 1994 (siehe oben, Randnr. 15) geführt habe,
zurückgehe. Sie habe in dem Telefax vom selben Tag, in dem dieses Schreiben
wiedergegeben sei, nur die schriftliche Mitteilung über die am selben Tag von der
Kommission beschlossene Genehmigung des Beihilfevorhabens Nr. 777/94 gesehen
und folglich am 28. Dezember 1994 die Aufträge vergeben, die für die
Durchführung ihres Investitionsvorhabens erforderlich gewesen seien.
- 70.
- Die Rechtsprechung, wonach sich ein Unternehmen regelmäßig versichern müsse,
ob das Beihilfenotifizierungsverfahren eingehalten worden sei, sei auf die
vorliegende Situation nicht übertragbar. Die Kommission sei von dem
Beihilfevorhaben Nr. 777/94 unterrichtet gewesen, und die von einem Mitglied der
Kommission unterschriebene Mitteilung über den Abschluß eines
Verwaltungsverfahrens begründe ihrer Natur nach einen Vertrauenstatbestand.
- 71.
- Die Kommission hätte die angefochtene Entscheidung nicht erlassen dürfen, ohne
zu berücksichtigen, daß die Klägerin im Vertrauen auf das Verhalten der
Kommission in ihrem Werk Salzgitter eine irreversible Stillegung von 480 000
Jahrestonnen Kapazität und im Walzwerk Ilsenburg Investitionen vorgenommen
habe, die nicht mehr rückgängig zu machen seien.
- 72.
- Den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes komme bei
einer Abwägung das gleiche Gewicht wie dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit der
Verwaltung zu (Urteil des Gerichtshofes vom 21. September 1983 in den
Rechtssachen 205/82 bis 215/82, Deutsche Milchkontor u. a., Slg. 1983, 2633,
Randnr. 30). Im vorliegenden Fall sei die angefochtene Entscheidung allein auf ein
Fristenargument gegründet und lasse die materielle Vereinbarkeit der Beihilfe mit
dem Gemeinsamen Markt außer Betracht. Es bestehe kein öffentliches Interesse
an der Korrektur der sich aus dem Vertrauenstatbestand ergebenden
wirtschaftlichen Folgen.
- 73.
- Die Bundesrepublik Deutschland fügt hinzu, daß die Meldefrist des Kodex das
Vertrauen der Klägerin keineswegs erschüttern könne, da sie lediglich eine
administrative Frist sei.
- 74.
- Die Kommission erinnert daran, daß ein beihilfebegünstigtes Unternehmen auf die
Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe grundsätzlich nur dann vertrauen dürfe, wenn diese
unter Beachtung des vorgesehenen Verfahrens gewährt worden sei; einem
sorgfältigen Gewerbetreibenden sei es möglich, sich zu vergewissern, ob dieses
Verfahren beachtet worden sei. Allein die erhebliche bewußte Überschreitung der
Meldefrist schließe bei der Klägerin das Vorliegen von Vertrauen aus.
- 75.
- Hätten die Klägerin und das Land Sachsen-Anhalt die notwendigen Schritte
unternommen, so hätten sie von der Übersendung des Telex SG(94)D/37659 der
Kommission vom 21. Dezember 1994 erfahren, mit dem mitgeteilt worden sei, daß
gegen eine Reihe von Beihilfevorhaben, darunter das Vorhaben Nr. 308/94, keine
Einwände der Kommission bestünden, und aus dem hervorgegangen sei, daß das
Prüfverfahren betreffend das Beihilfevorhaben Nr. 777/94 noch anhängig gewesen
sei. Im übrigen entspreche das Schreiben vom 21. Dezember 1994, das von
Kommissionsmitglied Bangemann unterzeichnet sei, keiner Stufe des
vorgeschriebenen Beihilfeaufsichtsverfahrens.
- 76.
- Die Durchführung der Investitionsvorhaben die Kommission bestreitet, daß sie
tatsächlich am 28. Dezember 1994 erfolgt sei könne die Rechtslage keinesfalls
ändern, weil die Klägerin in gutem Glauben so nicht hätte handeln dürfen.
Würdigung durch das Gericht
- 77.
- Nach ständiger Rechtsprechung darf ein beihilfebegünstigtes Unternehmen auf die
Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe grundsätzlich nur dann vertrauen, wenn diese unter
Beachtung des vorgesehenen Verfahrens gewährt wurde, wovon sich ein sorgfältiger
Gewerbetreibender vergewissern kann (Urteil des Gerichtshofes vom 20.
September 1990 in der Rechtssache C-5/89, Kommission/Deutschland, Slg. 1990,
I-3437, Randnr. 14).
- 78.
- Außerdem kann sich ein einzelner auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes nur
dann berufen, wenn die Gemeinschaftsverwaltung bei ihm begründete Erwartungen
geweckt hat, indem sie ihm konkrete Zusicherungen gemacht hat (Urteil des
Gerichts vom 15. Dezember 1994 in der Rechtssache T-489/93, Unifruit
Hellas/Kommission, Slg. 1994, II-1201, Randnr. 51).
- 79.
- Die Kommission hatte jedoch der Bundesregierung mit Schreiben vom 1.
Dezember 1994 nahegelegt, die Anmeldung des Beihilfevorhabens Nr. 777/94
zurückzuziehen, dessen außergewöhnliche Verspätung den Erlaß einer
Entscheidung über die Vereinbarkeit vor dem Stichtag 31. Dezember 1994, der in
Artikel 5 des gemäß Artikel 14 Absatz 2 des Vertrages in allen Teilen
verbindlichen Kodex festgelegt war, unmöglich machte. Außerdem steht fest, daß
die Entscheidungen der Kommission, mit denen diese staatliche Beihilfen
genehmigt, dem betroffenen Mitgliedstaat durch die Dienststellen der Kommission
mitgeteilt werden. So unterrichtete die Kommission die deutschen Stellen mit
Fernschreiben SG(94)D/37659 vom 21. Dezember 1994 offiziell davon, daß siebeschlossen hatte, keine Einwände gegen 26 aufgeführte und eindeutig durch ihre
Nummer bezeichnete Projekte, unter denen sich das Beihilfevorhaben Nr. 777/94
nicht befand, zu erheben. Schließlich ergibt sich auch aus dem Sachverhalt, daß die
Kommission am 21. Dezember 1994 noch nicht gemäß Artikel 6 Absatz 3 des
Kodex die Stellungnahme der Mitgliedstaaten zu diesem Vorhaben eingeholt hatte.
- 80.
- Demnach mußte den deutschen Stellen, dem einzigen institutionellen
Gesprächspartner der Kommission, bewußt sein, daß diese das Beihilfevorhaben
Nr. 777/94 nicht genehmigt hatte. Dasselbe gilt für die Klägerin, die sich um so
mehr bei diesen Stellen hätte vergewissern müssen, daß dieses Vorhaben genehmigt
worden war, als ihr die ablehnende Haltung der Kommission gegenüber diesem
Projekt bekannt war.
- 81.
- Unter diesen Umständen war die Beantwortung der Bitte um Hilfestellung, die die
Klägerin am 7. Dezember 1994 ausgesprochen hatte, durch das von
Kommissionsmitglied Bangemann unterzeichnete Schreiben vom 21. Dezember
1994 nicht geeignet, der Klägerin die Gewißheit zu vermitteln, daß die Kommission
ihre Meinung geändert hatte.
- 82.
- Dieses Schreiben stellte im übrigen die Antwort auf eine von der Klägerin am
Rande des im Kodex festgelegten Beihilfeprüfverfahrens ausgesprochene Bitte um
offiziöse Hilfestellung dar.
- 83.
- Folglich konnte dieses Schreiben bei der Klägerin kein berechtigtes Vertrauen auf
Erteilung der Genehmigung für die streitige Beihilfe begründen.
- 84.
- Deshalb geht der von der Klägerin gegen die Kommission erhobene Vorwurf fehl,
diese habe die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des
Vertrauensschutzes einerseits und dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit der
Verwaltung andererseits ergebenden Erfordernisse nicht gegeneinander abgewogen.
- 85.
- Aus diesen Erwägungen ergibt sich, daß der Klagegrund zurückzuweisen ist.
Zum sechsten Klagegrund: Verletzung des Artikels 6 Absatz 5, der das Schweigen
der Kommission einer Genehmigung gleichstelle
Vorbringen der Parteien
- 86.
- Die Klägerin macht geltend, das Beihilfevorhaben Nr. 777/94 habe durchgeführt
werden dürfen, da zwischen seiner Anmeldung und dem 10. März 1995, dem
Zeitpunkt, als die Kommission die Bundesregierung davon informiert habe, daß sie
das Verfahren nach Artikel 6 Absatz 4 des Kodex eröffnet habe, mehr als drei
Monate lägen. Die Bundesregierung sei nicht verpflichtet gewesen, die Kommission
vorab von ihrer Absicht zu unterrichten, dieses Vorhaben durchzuführen, da die
Kommission selbst die Klägerin durch das Schreiben vom 21. Dezember 1994 direkt
über die Genehmigung der Beihilfe informiert habe.
- 87.
- Die Kommission entgegnet, sie sei von der Durchführung der Beihilfe nicht
unterrichtet worden; diese sei in dem auf ihre Anmeldung folgenden Monat
gewährt worden.
Würdigung durch das Gericht
- 88.
- Es steht fest, daß die streitige Beihilfe schon vor Ablauf der in Artikel 6 Absatz 5
Satz 2 des Kodex festgelegten Frist von drei Monaten ab Anmeldung des
Vorhabens gezahlt worden ist.
- 89.
- Zudem hat die Bundesregierung es entgegen Artikel 6 Absatz 5 Satz 1 des Kodex
unterlassen, die Kommission vorab von der beabsichtigten Durchführung des
Beihilfevorhabens Nr. 777/94 zu unterrichten, obwohl sie, wie sich aus der Prüfung
des fünften Klagegrundes ergibt, nicht annehmen konnte, daß sie von dieser
Förmlichkeit befreit war.
- 90.
- Daher ist der Klagegrund zurückzuweisen.
Zum siebten Klagegrund: Verletzung der Begründungspflicht
- 91.
- Die Klägerin trägt vor, aus der angefochtenen Entscheidung gehe nicht hervor,
weshalb die Kommission allein eine angebliche Fristversäumnis zum Anlaß
genommen habe, die Rückforderung anzuordnen und sich für nicht befugt zu
halten, nach dem 31. Dezember 1994 die Vereinbarkeit der Beihilfe festzustellen,
und weshalb sie geglaubt habe, das berechtigte Vertrauen der Klägerin auf die
Genehmigung der streitigen Beihilfe übergehen zu können.
- 92.
- Die Kommission entgegnet, die angefochtene Entscheidung sei durch den Hinweis
auf die begrenzte Geltungsdauer des Kodex hinreichend begründet. Ebenso
ausführlich gehe die Entscheidung auf den Mangel an schutzwürdigem Vertrauen
ein.
- 93.
- Aus der Prüfung der vorhergehenden Klagegründe ergibt sich, daß die Begründung
der angefochtenen Entscheidung entsprechend den Erfordernissen des Artikels 15
Absatz 1 des Vertrages die Überlegungen der Kommission so klar und eindeutig
zum Ausdruck gebracht hat, daß die Klägerin ihr die Gründe für die getroffene
Maßnahme entnehmen und so ihre Rechte verteidigen und prüfen konnte, ob die
Entscheidung sachlich begründet war, und daß das Gericht insoweit seine
Kontrollaufgabe wahrnehmen konnte (Urteil des Gerichtshofes vom 15. Mai 1997
in der Rechtssache C-278/95 P, Siemens/Kommission, Slg. 1997, I-2507, Randnr. 17;
Urteil des Gerichts vom 12. Dezember 1996 in der Rechtssache T-358/94, Air
France/Kommission, Slg. 1996, II-2109, Randnr. 161).
- 94.
- Der Klagegrund ist somit zurückzuweisen.
- 95.
- Demnach ist der Antrag auf Nichtigerklärung insgesamt zurückzuweisen.
Zum Antrag auf Vorlage von Dokumenten
- 96.
- Wie sich aus der Gesamtheit der vorstehenden Erwägungen ergibt, konnte das
Gericht auf der Grundlage der Anträge, Klagegründe und Argumente, die im
schriftlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung vorgebracht worden
sind, und unter Berücksichtigung der von den Parteien im Laufe des Verfahrens
eingereichten Dokumente über die Klage entscheiden.
- 97.
- Deshalb ist der Antrag der Klägerin, der Kommission gemäß Artikel 23 der EGKS-Satzung des Gerichtshofes aufzugeben, sämtliche die Rechtssache betreffenden
Unterlagen, die die Umstände des Erlasses der angefochtenen Entscheidung
dokumentieren, vorzulegen und ihr Einsicht in diese Unterlagen zu gewähren,
zurückzuweisen.
Kosten
- 98.
- Gemäß Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin mit ihrem
Vorbringen unterlegen ist und die Kommission beantragt hat, ihr die Kosten
aufzuerlegen, sind der Klägerin ihre eigenen Kosten und die Kosten der
Kommission aufzuerlegen. Die Bundesrepublik Deutschland, die dem Rechtsstreit
als Streithelferin beigetreten ist, trägt gemäß Artikel 87 § 4 der Verfahrensordnung
ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten der Kommission.
3. Die Bundesrepublik Deutschland trägt ihre eigenen Kosten.
TiiliBriët
Lenaerts
Potocki Cooke
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 31. März 1998.
Der Kanzler
Die Präsidentin
H. Jung
V. Tiili