Rechtssache T‑33/21
Rumänien
gegen
Europäische Kommission
Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 18. Januar 2023
„EGFL und ELER – Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben – Von Rumänien getätigte Ausgaben – Nationales Programm zur Entwicklung des ländlichen Raums 2007‑2013 – Methoden zur Berechnung der Fördersätze bei der Teilmaßnahme ‚1a‘ der Maßnahme 215 – Zahlungen zur Förderung des Tierschutzes bei ‚Mastschweinen‘ und ‚Jungsauen‘ – Vergrößerung der jedem Tier zugestandenen Bewegungsfreiheit um mindestens 10 % – Begründungspflicht – Vertrauensschutz – Rechtssicherheit – Rechtliche Qualifizierung der Tatsachen – Art. 12 Abs. 6 und 7 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 907/2014 – Leitlinien für die Berechnung von Finanzkorrekturen im Rahmen des Konformitätsabschlussverfahrens und des Rechnungsabschlussverfahrens“
1. Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Vertrauensschutz – Voraussetzungen – Konkrete Zusicherungen der Verwaltung – Begriff – Genehmigung eines nationalen Programms nach Erörterung der Methode zur Berechnung der Ausgleichszahlungsraten zwischen den nationalen Behörden und der Kommission – Einbeziehung – Fortbestehen der berechtigten Erwartungen des betreffenden Mitgliedstaats
(vgl. Rn. 69-71, 81-86, 88, 95, 101, 102, 111-115)
2. Landwirtschaft – Finanzierung durch den EGFL und den ELER – Rechnungsabschluss – Ablehnung der Übernahme von Ausgaben, die durch Unregelmäßigkeiten bei der Anwendung der Unionsregelung veranlasst worden sind – Pauschale Korrektur von 25 % der Ausgaben – Voraussetzungen – Weit verbreitete Unregelmäßigkeiten sowie Fahrlässigkeit bei der Bekämpfung unregelmäßiger oder betrügerischer Praktiken – Anwendung einer Berechnungsmethode und ihres finanziellen Ergebnisses, die zuvor von der Kommission nach spezifischen Verhandlungen genehmigt wurden – Nichteinbeziehung
(Verordnung Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 52; Verordnung Nr. 907/2014 der Kommission, Art. 12 Abs. 6 und 7)
(vgl. Rn. 127, 128, 130, 132-135, 138, 142-148)
Zusammenfassung
Im Juli 2008 genehmigte die Europäische Kommission das rumänische nationale Programm zur Entwicklung des ländlichen Raums für den Zeitraum 2007–2013 (im Folgenden: Entwicklungsprogramm 2007–2013). 2012 genehmigte die Kommission auf einen Revisionsantrag der rumänischen Behörden hin eine Änderung des Entwicklungsprogramms 2007–2013(1). Mit dieser Änderung wurde u. a. die Maßnahme 215 – Zahlungen für Tierschutzmaßnahmen (im Folgenden: Maßnahme 215) eingeführt. Die Maßnahme umfasste mehrere Teilmaßnahmen, in deren Rahmen Ausgleichszahlungen für Geflügel‑ und Schweinezüchter vorgesehen waren, die sich freiwillig verpflichteten, bestimmte Tierschutzstandards umzusetzen.
2015 stellte der Europäische Rechnungshof bei einer Prüfung in Rumänien Fehler bei den im Rahmen der Maßnahme 215 geleisteten Zahlungen fest. Davon betroffen war u. a. die Teilmaßnahme „1a“: „Mastschweine“, „Jungsauen“ und „Sauen“ – Vergrößerung der jedem Tier zugestandenen Bewegungsfreiheit um mindestens 10 % (nur für „Mastschweine“ und „Jungsauen“) (im Folgenden: streitige Teilmaßnahme).
2018 nahm die Kommission nach einer ersten Verwaltungsprüfung betreffend die Maßnahme 215 für die Haushaltsjahre 2014 bis 2016 und des sich daran anschließenden Verfahrens eine pauschale Korrektur von 25 % für die Haushaltsjahre 2015 und 2016 vor, weil die Zahlungsbeträge im Rahmen der streitigen Teilmaßnahme zu hoch angesetzt gewesen seien(2). Die von Rumänien erhobene Klage auf Teilnichtigerklärung dieses Beschlusses wurde wegen Verspätung abgewiesen.
Nach Abschluss des Haushaltsjahrs 2016 führte die Kommission eine zweite Prüfung in Bezug auf die Haushaltsjahre 2017 bis 2019 durch, bei der sie dieselben Fehler feststellte wie bei der ersten Prüfung, und zwar u. a. einen Verstoß gegen Art. 40 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1698/2005(3).
Mit dem angefochtenen Beschluss(4) nahm die Kommission gegenüber Rumänien eine pauschale Finanzkorrektur vor, mit der 25 % der von diesem Mitgliedstaat zulasten des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigten Ausgaben, d. h. ein Betrag von 18 717 475,08 Euro, von der Unionsfinanzierung ausgeschlossen wurden, weil die Ausgleichszahlungen, die im Rahmen der streitigen Teilmaßnahme in den Haushaltsjahren 2017 bis 2019 geleistet worden seien, zu hoch angesetzt worden seien.
Das Gericht gibt der von Rumänien gegen diesen Beschluss erhobenen Klage statt.
In seinem Urteil erläutert das Gericht, wie der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Kontext der Unionsfinanzierung von Ausgaben der Mitgliedstaaten im Bereich der Landwirtschaft anzuwenden ist.
Würdigung durch das Gericht
Als Erstes stellt das Gericht zum Vertrauensschutz fest, dass die Kommission beim Erlass des angefochtenen Beschlusses den Grundsatz des Vertrauensschutzes(5) und damit den Grundsatz der Rechtssicherheit, aus dem der Grundsatz des Vertrauensschutzes folgt, nicht beachtet hat.
Insoweit führt es erstens aus, dass die Kommission bei der Genehmigung der Änderung des Entwicklungsplans 2007–2013 über die Informationen verfügte, die es ihr ermöglichten, die Vereinbarkeit der streitigen Teilmaßnahme mit der Verordnung Nr. 1698/2005 sowie die Methoden zur Berechnung der Fördersätze für diese Maßnahme zu beurteilen. Die Diskussionen zwischen den rumänischen Behörden und der Kommission vor der Erteilung dieser Genehmigung betrafen nämlich u. a. die Methoden zur Berechnung der Ausgleichszahlungen für die streitige Teilmaßnahme, und sowohl das Endergebnis als auch die Art und Weise, wie dieses Ergebnis berechnet worden war, wurden der Kommission zur Verfügung gestellt. Diese Genehmigung stellte folglich eine „in Kenntnis der Sachlage“ erteilte Zustimmung der Kommission zur Durchführung der streitigen Teilmaßnahme dar.
Zweitens lassen diese Diskussionen und die in ihrem Rahmen ausgetauschten Dokumente den Schluss zu, dass die Kommission klare Auskünfte erteilt hat, als sie die Änderung des Entwicklungsplans 2007–2013 genehmigte. Diese Auskünfte waren außerdem nicht an Bedingungen geknüpft und übereinstimmend.
Die Kommission hat daher bei den rumänischen Behörden ein berechtigtes Vertrauen darauf geweckt, dass die auf die streitige Teilmaßnahme entfallenden Ausgleichszahlungsraten mit dem Unionsrecht vereinbar und damit von der Finanzierung durch die Union gedeckt sind.
Drittens blieben die Erwartungen der rumänischen Behörden auch nach der Übermittlung der Feststellungen des Rechnungshofs weiterhin berechtigt. Diese Behörden haben nämlich mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt, um die Situation so schnell wie möglich zu klären und eine rechtlich tragfähige Option zu finden. Sie wiesen u. a. mehrfach darauf hin, dass es objektiv unmöglich sei, das Entwicklungsprogramm 2007–2013 zu ändern, und baten die Kommission um Unterstützung bei der Suche nach einer Lösung.
Da die Methoden zur Berechnung der Zahlungsraten für die streitige Teilmaßnahme und die entsprechenden finanziellen Ergebnisse Gegenstand spezifischer Verhandlungen mit der Kommission waren und diese sie ausdrücklich als mit der Verordnung Nr. 1698/2005 vereinbar anerkannt hatte, waren die Feststellungen des Rechnungshofs nicht geeignet, diese Methoden und Ergebnisse mit sofortiger Wirkung ungültig werden zu lassen und damit den berechtigten Erwartungen Rumäniens ein Ende zu setzen.
Mit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission folglich diese auch im Anschluss an die Feststellungen des Rechnungshofs weiterhin bestehenden berechtigten Erwartungen darauf, dass die Ausgleichszahlungsraten für die streitige Teilmaßnahme während der gesamten Dauer der von den Begünstigten eingegangenen Verpflichtungen eingehalten werden würden, verletzt.
Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen in Frage gestellt, dass Rumänien eine Möglichkeit hätte finden können, die Ausgleichszahlungsraten zu kürzen. Aufgrund der von den Begünstigten im Rahmen der Maßnahme 215 unterzeichneten Verpflichtungen, die Vertragscharakter haben, und des Ablaufs der Frist für den Vorschlag einer Änderung des Entwicklungsprogramms 2007–2013 war es den rumänischen Behörden nicht möglich, Ausgleichszahlungen vorzunehmen, die nicht der im Datenblatt für die Maßnahme 215 des Entwicklungsprogramms 2007–2013 aufgeführten Höhe entsprachen. Jedenfalls ist der Umstand, dass Rumänien in der Lage sein könnte, die Zahlungen zu kürzen und somit seine Verluste zu verringern, die sich daraus ergeben, dass die Agrarfonds die Übernahme dieser Ausgaben ablehnen, nicht geeignet, Rumänien daran zu hindern, sich in zweckdienlicher Weise auf sein berechtigtes Vertrauen darin zu stützen, dass die im Entwicklungsprogramm 2007–2013 festgelegten und in die nationalen Rechtsvorschriften übernommenen Ausgleichszahlungsraten eingehalten werden. Im Übrigen wären die Notwendigkeit, Verfahren zur Änderung von Verträgen einzuleiten und sich mit etwaigen daraus resultierenden Gerichtsverfahren auseinanderzusetzen, gerade die negativen Folgen eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Schutzes des berechtigten Vertrauens Rumäniens.
Was als Zweites die Vornahme einer pauschalen Finanzkorrektur betrifft, hat die Kommission einen Rechtsfehler bei der rechtlichen Qualifizierung begangen, als sie sich zur Rechtfertigung der Anwendung eines Satzes von 25 % auf Art. 12 Abs. 7 Buchst. c der Delegierten Verordnung Nr. 907/2014(6) in Verbindung mit den Leitlinien für die Berechnung der Finanzkorrekturen(7) gestützt hat.
Da es nämlich das Vorliegen und die Schwere der von den rumänischen Behörden begangenen Unregelmäßigkeiten und Fahrlässigkeiten aufgrund der systematischen Anwendung überhöhter Zahlungsraten waren, die die Kommission zu der Annahme veranlasst haben, dass das Risiko eines finanziellen Schadens für den Unionshaushalt bestanden habe, sind im vorliegenden Fall sowohl „das Vorliegen“ der angeblichen Unregelmäßigkeiten oder Fahrlässigkeiten als auch „deren Schwere oder systematischer Charakter“ zu verneinen.
Zunächst ist die rechtliche Qualifizierung der Berechnungsmethode für die streitige Teilmaßnahme und des entsprechenden finanziellen Ergebnisses als „weit verbreitete Unregelmäßigkeiten“ und „[weit verbreitete] Fahrlässigkeit bei der Bekämpfung unregelmäßiger oder betrügerischer Praktiken“ unzutreffend.
Sodann kann der Umstand, dass nicht systematisch Maßnahmen ergriffen wurden, um die Ausgleichszahlungen für die streitige Teilmaßnahme zu kürzen oder gar auszusetzen, nicht mit einer „weit verbreiteten Unregelmäßigkeit“ gleichgesetzt werden.
Schließlich kann das Verhalten sowohl der rumänischen Behörden als auch der betroffenen Begünstigten nicht mit einer „weit verbreiteten“ Fahrlässigkeit bei der Bekämpfung unregelmäßiger oder betrügerischer Praktiken gleichgesetzt werden. Im vorliegenden Fall lässt sich aufgrund des berechtigten Vertrauens der rumänischen Behörden darauf, dass die mit der Kommission erörterte Berechnungsmethode mit den geltenden Vorschriften in Einklang steht, keine unregelmäßige oder betrügerische Praxis feststellen.