URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

17. Dezember 2020(*)

Inhaltsverzeichnis



„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Richtlinien 2008/115/EG, 2013/32/EU und 2013/33/EU – Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes – Effektiver Zugang – Verfahren an der Grenze – Verfahrensgarantien – Zwangsweise Unterbringung in Transitzonen – Haft – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Klagen gegen behördliche Entscheidungen, mit denen der Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird – Recht, im Hoheitsgebiet zu bleiben“

In der Rechtssache C‑808/18

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 21. Dezember 2018,

Europäische Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, A. Tokár und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, E. Regan, M. Ilešič und N. Wahl, der Richter E. Juhász, D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos (Berichterstatter), P. G. Xuereb und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Februar 2020,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juni 2020

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage ersucht die Europäische Kommission den Gerichtshof um die Feststellung, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 3 und 6, Art. 24 Abs. 3, Art. 43 und Art. 46 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60), aus Art. 2 Buchst. h und den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96), sowie aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) in Verbindung mit den Art. 6, 18 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen hat, dass

–        vorgeschrieben ist, dass der Asylantrag persönlich bei der zuständigen Behörde und ausschließlich in Transitzonen gestellt werden muss, in die nur eine geringe Zahl von Personen einreisen darf;

–        im Regelfall ein besonderes Verfahren angewandt wird, in dessen Verlauf die in der Richtlinie 2013/32 verankerten Garantien nicht gewährleistet sind;

–        auf alle Asylbewerber (mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger unter 14 Jahren) ein Verfahren anzuwenden ist, das zur Folge hat, dass diese Asylbewerber während der gesamten Dauer des Asylverfahrens in Einrichtungen von Transitzonen, die sie nur in Richtung Serbien verlassen können, in Haft bleiben müssen, ohne dass dies mit den in der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Garantien verbunden ist;

–        illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhältige Drittstaatsangehörige hinter den Grenzzaun verbracht werden, ohne die in Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 festgelegten Verfahren und Garantien einzuhalten;

–        Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 nicht in nationales Recht umgesetzt wurde und Vorschriften ergangen sind, die in Situationen, die nicht unter Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie fallen, von der Grundregel der automatischen aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, abweichen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2008/115

2        Art. 2 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„(1)      Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.

(2)      Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

a)      die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;

…“

3        Art. 3 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

…“

4        Art. 5 der Richtlinie 2008/115 lautet:

„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

a)      das Wohl des Kindes,

b)      die familiären Bindungen,

c)      den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,

und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

5        Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„(1)      Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

(2)      Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.“

6        Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 lautet:

„Rückkehrentscheidungen sowie – gegebenenfalls – Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung ergehen schriftlich und enthalten eine sachliche und rechtliche Begründung sowie Informationen über mögliche Rechtsbehelfe.

Die Information über die Gründe kann begrenzt werden, wenn nach einzelstaatlichem Recht eine Einschränkung des Rechts auf Information vorgesehen ist, insbesondere um die nationale Sicherheit, die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit oder die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten zu gewährleisten.“

7        Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 lautet:

„Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.“

8        Art. 18 der Richtlinie 2008/115 lautet:

„(1)      Führt eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals, so kann der betreffende Mitgliedstaat, solange diese außergewöhnliche Situation anhält, die für die gerichtliche Überprüfung festgelegten Fristen über die in Artikel 15 Absatz 2 Unterabsatz 3 genannten Fristen hinaus verlängern und dringliche Maßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen ergreifen, die von den Haftbedingungen nach den Artikeln 16 Absatz 1 und 17 Absatz 2 abweichen.

(2)      Ein Mitgliedstaat, der auf diese außergewöhnlichen Maßnahmen zurückgreift, setzt die Kommission davon in Kenntnis. Er unterrichtet die Kommission ebenfalls, sobald die Gründe für die Anwendung dieser außergewöhnlichen Maßnahmen nicht mehr vorliegen.

(3)      Dieser Artikel ist nicht so auszulegen, als gestatte er den Mitgliedstaaten eine Abweichung von ihrer allgemeinen Verpflichtung, alle geeigneten – sowohl allgemeinen als auch besonderen – Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren aus dieser Richtlinie hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen.“

 Richtlinie 2013/32

9        Der 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 lautet:

„Bestimmte Antragsteller benötigen unter Umständen besondere Verfahrensgarantien, unter anderem aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Ausrichtung, ihrer Geschlechtsidentität, einer Behinderung, einer schweren Erkrankung, einer psychischen Störung oder infolge von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schweren Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt. Die Mitgliedstaaten sollten bestrebt sein, Antragsteller, die besondere Verfahrensgarantien benötigen, als solche zu erkennen, bevor eine erstinstanzliche Entscheidung ergeht. Diese Antragsteller sollten eine angemessene Unterstützung erhalten, einschließlich ausreichend Zeit, um die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sie das Verfahren effektiv in Anspruch nehmen und die zur Begründung ihres Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Angaben machen können.“

10      In Art. 2 der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

c)      ‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine bestandskräftige Entscheidung ergangen ist;

d)      ‚Antragsteller, der besondere Verfahrensgarantien benötigt,‘ einen Antragsteller, dessen Fähigkeit, die Rechte aus dieser Richtlinie in Anspruch nehmen und den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Pflichten nachkommen zu können, aufgrund individueller Umstände eingeschränkt ist;

e)      ‚bestandskräftige Entscheidung‘ eine Entscheidung darüber, ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gemäß der Richtlinie 2011/95/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9)] die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, und gegen die kein Rechtsbehelf nach Kapitel V der vorliegenden Richtlinie mehr eingelegt werden kann, unabhängig davon, ob ein solcher Rechtsbehelf zur Folge hat, dass Antragsteller sich bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten dürfen;

p)      ‚Verbleib im Mitgliedstaat‘ den Verbleib im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen – des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder geprüft wird;

…“

11      Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„Diese Richtlinie gilt für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, sowie für die Aberkennung des internationalen Schutzes.“

12      Art. 6 der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)      Stellt eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, so erfolgt die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung.

Wird der Antrag auf internationalen Schutz bei anderen Behörden gestellt, bei denen derartige Anträge wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind, so gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Registrierung spätestens sechs Arbeitstage nach Antragstellung erfolgt.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese anderen Behörden, bei denen wahrscheinlich Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden, wie Polizei, Grenzschutz, Einwanderungsbehörden und Personal von Gewahrsamseinrichtungen, über die einschlägigen Informationen verfügen und ihr Personal das erforderliche, seinen Aufgaben und Zuständigkeiten entsprechende Schulungsniveau und Anweisungen erhält, um die Antragsteller darüber zu informieren, wo und wie Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden können.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen. Stellt der Antragsteller keinen förmlichen Antrag, so können die Mitgliedstaaten Artikel 28 entsprechend anwenden.

(3)      Unbeschadet des Absatzes 2 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden.

(4)      Ungeachtet des Absatzes 3 gilt ein Antrag auf internationalen Schutz als förmlich gestellt, sobald den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist.

(5)      Beantragt eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, die Frist nach Absatz 1 einzuhalten, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass diese Frist auf 10 Arbeitstage verlängert wird.“

13      In Art. 7 der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeder geschäftsfähige Erwachsene das Recht hat, im eigenen Namen einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein Minderjähriger das Recht hat, entweder im eigenen Namen – wenn er nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats verfahrensfähig ist – oder über seine Eltern, über einen anderen volljährigen Familienangehörigen, über einen gesetzlich oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats für ihn verantwortlichen Erwachsenen oder über einen Vertreter einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.“

14      Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 lautet:

„Gibt es Anzeichen dafür, dass Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die sich in Gewahrsamseinrichtungen oder an Grenzübergangsstellen an den Außengrenzen, einschließlich Transitzonen, befinden, möglicherweise einen Antrag auf internationalen Schutz stellen möchten, so stellen ihnen die Mitgliedstaaten Informationen über die Möglichkeit hierzu zur Verfügung. Die Mitgliedstaaten treffen an diesen Gewahrsamseinrichtungen und Grenzübergangsstellen Sprachmittlungsvorkehrungen, soweit dies notwendig ist, um die Inanspruchnahme des Asylverfahrens zu erleichtern.“

15      Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„Wird festgestellt, dass Antragsteller besondere Verfahrensgarantien benötigen, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Antragsteller angemessene Unterstützung erhalten, damit sie während der Dauer des Asylverfahrens die Rechte aus dieser Richtlinie in Anspruch nehmen und den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Pflichten nachkommen können.

Kann eine solche angemessene Unterstützung nicht im Rahmen der Verfahren nach Artikel 31 Absatz 8 und Artikel 43 geleistet werden, insbesondere wenn die Mitgliedstaaten der Auffassung sind, dass der Antragsteller besondere Verfahrensgarantien benötigt, da er Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten hat, so wenden die Mitgliedstaaten Artikel 31 Absatz 8 und Artikel 43 nicht oder nicht mehr an. Wenden die Mitgliedstaaten Artikel 46 Absatz 6 auf Antragsteller an, auf die Artikel 31 Absatz 8 und Artikel 43 nach dem vorliegenden Unterabsatz nicht angewandt werden können, so gewähren sie zumindest die Garantien gemäß Artikel 46 Absatz 7.“

16      Art. 26 der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam, weil sie einen Antrag gestellt hat. Die Gründe für den Gewahrsam und die Gewahrsamsbedingungen und die Garantien für in Gewahrsam befindliche Antragsteller bestimmen sich nach der Richtlinie [2013/33].

(2)      Wird ein Antragsteller in Gewahrsam genommen, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass eine rasche gerichtliche Überprüfung des Gewahrsams gemäß der Richtlinie [2013/33] möglich ist.“

17      Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„Besteht Grund zu der Annahme, dass ein Antragsteller seinen Antrag stillschweigend zurückgenommen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Asylbehörde entweder entscheidet, die Antragsprüfung einzustellen, oder, sofern die Asylbehörde den Antrag nach angemessener inhaltlicher Prüfung gemäß Artikel 4 der Richtlinie [2011/95] als unbegründet ansieht, den Antrag abzulehnen.“

18      In Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können festlegen, dass das Prüfungsverfahren im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II beschleunigt und/oder an der Grenze oder in Transitzonen nach Maßgabe von Artikel 43 durchgeführt wird, wenn

a)      der Antragsteller bei der Einreichung seines Antrags und der Darlegung der Tatsachen nur Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung der Frage, ob er als Flüchtling oder Person mit Anspruch auf internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie [2011/95] anzuerkennen ist, nicht von Belang sind, oder

b)      der Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsstaat im Sinne dieser Richtlinie kommt, oder

c)      der Antragsteller die Behörden durch falsche Angaben oder Dokumente oder durch Verschweigen wichtiger Informationen oder durch Zurückhalten von Dokumenten über seine Identität und/oder Staatsangehörigkeit, die sich negativ auf die Entscheidung hätten auswirken können, getäuscht hat, oder

d)      angenommen werden kann, dass der Antragsteller ein Identitäts- oder ein Reisedokument, das die Feststellung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte, mutwillig vernichtet oder beseitigt hat, oder

e)      der Antragsteller eindeutig unstimmige und widersprüchliche, eindeutig falsche oder offensichtlich unwahrscheinliche Angaben gemacht hat, die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen, so dass die Begründung für seine Behauptung, dass er [als] Person mit Anspruch auf internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie [2011/95] anzusehen ist, offensichtlich nicht überzeugend ist[, oder]

f)      der Antragsteller einen Folgeantrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der gemäß Artikel 40 Absatz 5 nicht unzulässig ist, oder

g)      der Antragsteller den Antrag nur zur Verzögerung oder Behinderung der Vollstreckung einer bereits getroffenen oder unmittelbar bevorstehenden Entscheidung stellt, die zu seiner Abschiebung führen würde, oder

h)      der Antragsteller unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats eingereist ist oder seinen Aufenthalt unrechtmäßig verlängert hat und es ohne stichhaltigen Grund versäumt hat, zum angesichts der Umstände seiner Einreise frühestmöglichen Zeitpunkt bei den Behörden vorstellig zu werden oder einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, oder

i)      der Antragsteller sich weigert, der Verpflichtung zur Abnahme seiner Fingerabdrücke … nachzukommen, oder

j)      es schwerwiegende Gründe für die Annahme gibt, dass der Antragsteller eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung des Mitgliedstaats darstellt oder er aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung nach nationalem Recht zwangsausgewiesen wurde.“

19      Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

a)      ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat;

b)      ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als erster Asylstaat des Antragstellers gemäß Artikel 35 betrachtet wird;

c)      ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als für den Antragsteller sicherer Drittstaat gemäß Artikel 38 betrachtet wird;

d)      es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, oder

e)      eine vom Antragsteller abhängige Person förmlich einen Antrag stellt, nachdem sie gemäß Artikel 7 Absatz 2 eingewilligt hat, dass ihr Fall Teil eines in ihrem Namen förmlich gestellten Antrags ist, und keine Tatsachen betreffend die Situation dieser Person vorliegen, die einen gesonderten Antrag rechtfertigen.“

20      Art. 39 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 lautet:

„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass keine oder keine umfassende Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz und der Sicherheit des Antragstellers in seiner spezifischen Situation nach Kapitel II erfolgt, wenn eine zuständige Behörde anhand von Tatsachen festgestellt hat, dass der Antragsteller aus einem sicheren Drittstaat nach Absatz 2 unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einzureisen versucht oder eingereist ist.“

21      Art. 41 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können Ausnahmen vom Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet machen, wenn eine Person

a)      nur zur Verzögerung oder Behinderung der Durchsetzung einer Entscheidung, die zu ihrer unverzüglichen Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat führen würde, förmlich einen ersten Folgeantrag gestellt hat, der gemäß Artikel 40 Absatz 5 nicht weiter geprüft wird, oder

b)      nach einer bestandskräftigen Entscheidung, einen ersten Folgeantrag gemäß Artikel 40 Absatz 5 als unzulässig zu betrachten, oder nach einer bestandskräftigen Entscheidung, einen ersten Folgeantrag als unbegründet abzulehnen, in demselben Mitgliedstaat einen weiteren Folgeantrag stellt.

Die Mitgliedstaaten können eine solche Ausnahme nur dann machen, wenn die Asylbehörde die Auffassung vertritt, dass eine Rückkehrentscheidung keine direkte oder indirekte Zurückweisung zur Folge hat, die einen Verstoß gegen die völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Pflichten dieses Mitgliedstaats darstellt.“

22      Art. 43 („Verfahren an der Grenze“) der Richtlinie 2013/32 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können nach Maßgabe der Grundsätze und Garantien nach Kapitel II Verfahren festlegen, um an der Grenze oder in Transitzonen des Mitgliedstaats über Folgendes zu entscheiden:

a)      die Zulässigkeit eines an derartigen Orten gestellten Antrags gemäß Artikel 33 und/oder

b)      die Begründetheit eines Antrags in einem Verfahren nach Artikel 31 Absatz 8.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Entscheidung im Rahmen der Verfahren nach Absatz 1 innerhalb einer angemessenen Frist ergeht. Ist innerhalb von vier Wochen keine Entscheidung ergangen, so wird dem Antragsteller die Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gestattet, damit sein Antrag nach Maßgabe der anderen Bestimmungen dieser Richtlinie bearbeitet werden kann.

(3)      Wenn es aufgrund der Ankunft einer erheblichen Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen an der Grenze oder in Transitzonen, die förmlich Anträge auf internationalen Schutz stellen, in der Praxis nicht möglich ist, die Bestimmungen des Absatzes 1 anzuwenden, können die genannten Verfahren auch in diesen Fällen und für die Zeit angewandt werden, in der die Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen normalerweise in der Nähe der Grenze oder Transitzone untergebracht werden.“

23      In Art. 46 der Richtlinie heißt es:

„…

(5)      Unbeschadet des Absatzes 6 gestatten die Mitgliedstaaten den Antragstellern den Verbleib im Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts der Antragsteller auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf.

(6)      Im Fall einer Entscheidung,

a)      einen Antrag im Einklang mit Artikel 32 Absatz 2 als offensichtlich unbegründet oder nach Prüfung gemäß Artikel 31 Absatz 8 als unbegründet zu betrachten, es sei denn, diese Entscheidungen sind auf die in Artikel 31 Absatz 8 Buchstabe h aufgeführten Umstände gestützt,

b)      einen Antrag gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstaben a, b oder d als unzulässig zu betrachten,

c)      die Wiedereröffnung des nach Artikel 28 eingestellten Verfahrens des Antragstellers abzulehnen oder

d)      gemäß Artikel 39 den Antrag nicht oder nicht umfassend zu prüfen,

ist das Gericht befugt, entweder auf Antrag des Antragstellers oder von Amts wegen darüber zu entscheiden, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, wenn die Entscheidung zur Folge hat, das Recht des Antragstellers auf Verbleib in dem Mitgliedstaat zu beenden und wenn in diesen Fällen das Recht auf Verbleib in dem betreffenden Mitgliedstaat bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im nationalen Recht nicht vorgesehen ist.

(8)      Die Mitgliedstaaten gestatten dem Antragsteller, bis zur Entscheidung in dem Verfahren nach den Absätzen 6 und 7 darüber, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, im Hoheitsgebiet zu verbleiben.

…“

 Richtlinie 2013/33

24      Der 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 lautet:

„Die in dieser Richtlinie aufgeführten Gründe für die Haft lassen andere Haftgründe – einschließlich der Haftgründe im Rahmen eines Strafverfahrens – unberührt, die nach dem einzelstaatlichen Recht unabhängig vom Antrag eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen auf internationalen Schutz anwendbar sind.“

25      Art. 2 der Richtlinie 2013/33 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

b)      ‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde;

h)      ‚Haft‘ die räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat;

…“

26      Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 lautet:

„Diese Richtlinie gilt für alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen internationalen Schutz beantragen, solange sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen, sowie für ihre Familienangehörigen, wenn sie nach einzelstaatlichem Recht von diesem Antrag auf internationalen Schutz erfasst sind.“

27      Art. 7 der Richtlinie 2013/33 sieht vor:

„(1)      Antragsteller dürfen sich im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats oder in einem ihnen von diesem Mitgliedstaat zugewiesenen Gebiet frei bewegen. Das zugewiesene Gebiet darf die unveräußerliche Privatsphäre nicht beeinträchtigen und muss hinreichenden Raum dafür bieten, dass Gewähr für eine Inanspruchnahme aller Vorteile aus dieser Richtlinie gegeben ist.

(2)      Die Mitgliedstaaten können – aus Gründen des öffentlichen Interesses, der öffentlichen Ordnung oder wenn es für eine zügige Bearbeitung und wirksame Überwachung des betreffenden Antrags auf internationalen Schutz erforderlich ist – einen Beschluss über den Aufenthaltsort des Antragstellers fassen.

(3)      Die Mitgliedstaaten dürfen die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen an die Bedingung knüpfen, dass sich Antragsteller tatsächlich an dem Ort aufhalten, der von den Mitgliedstaaten festgelegt wird. Ein derartiger Beschluss, der von allgemeiner Natur sein kann, wird jeweils für den Einzelfall und auf der Grundlage des einzelstaatlichen Rechts getroffen.

…“

28      Art. 8 der Richtlinie 2013/33 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Antragsteller im Sinne der Richtlinie [2013/32] ist.

(2)      In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3)      Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

a)      um seine Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen;

b)      um Beweise zu sichern, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht;

c)      um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden;

d)      wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Richtlinie [2008/115] zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur [stellt], um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln;

e)      wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist;

f)      wenn dies mit Artikel 28 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag[s] auf internationalen Schutz zuständig ist [(ABl. 2013, L 180, S. 31)], in Einklang steht.

Haftgründe werden im einzelstaatlichen Recht geregelt.

(4)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen für Alternativen zur Inhaftnahme enthalten wie zum Beispiel Meldeauflagen, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten.“

29      Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 lautet:

„Die Haft der Antragsteller wird von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet. In der Anordnung werden die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben.“

30      In Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 heißt es:

„Die Haft der Antragsteller erfolgt grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so wird der in Haft genommene Antragsteller gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht und es kommen die in dieser Richtlinie vorgesehenen Haftbedingungen zur Anwendung.

…“

31      Art. 11 der Richtlinie 2013/33 sieht vor:

„(1)      Die Gesundheit, auch die psychische Gesundheit, der in Haft genommenen schutzbedürftigen Antragsteller ist ein vorrangiges Anliegen der nationalen Behörden.

Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass bei in Haft befindlichen schutzbedürftigen Personen regelmäßige Überprüfungen stattfinden und diese Personen in angemessener Weise unterstützt werden, wobei der besonderen Situation der Personen, einschließlich ihrer Gesundheit, Rechnung getragen wird.

(2)      Minderjährige dürfen nur im äußersten Falle in Haft genommen werden, und nachdem festgestellt worden ist, dass weniger einschneidende alternative Maßnahmen nicht wirksam angewandt werden können. Eine derartige Haft wird für den kürzestmöglichen Zeitraum angeordnet, und es werden alle Anstrengungen unternommen, um die in Haft befindlichen Minderjährigen aus dieser Haft zu entlassen und in für sie geeigneten Unterkünften unterzubringen.

Das Wohl des Minderjährigen nach Maßgabe von Artikel 23 Absatz 2 zu berücksichtigen ist ein vorrangiges Anliegen der Mitgliedstaaten.

In Haft befindliche Minderjährige müssen Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten erhalten.

(3)      Unbegleitete Minderjährige dürfen nur in Ausnahmefällen in Haft genommen werden. Es werden alle Anstrengungen unternommen, um unbegleitete Minderjährige so schnell wie möglich aus der Haft zu entlassen.

Unbegleitete Minderjährige werden in keinem Falle in gewöhnlichen Haftanstalten untergebracht.

Unbegleitete Minderjährige werden so weit wie möglich in Einrichtungen untergebracht, die über Personal und Räumlichkeiten verfügen, die ihren altersgemäßen Bedürfnissen Rechnung tragen.

Befinden sich unbegleitete Minderjährige in Haft, stellen die Mit[g]liedstaaten sicher, dass sie von Erwachsenen getrennt untergebracht werden.

…“

32      Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 lautet:

„In begründeten Ausnahmefällen können die Mitgliedstaaten für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich sein sollte, andere Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen festlegen als in diesem Artikel vorgesehen, wenn

a)      eine Beurteilung der spezifischen Bedürfnisse des Antragstellers gemäß Artikel 22 erforderlich ist;

b)      die üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind.

Bei derartig anderen Aufnahmemodalitäten werden unter allen Umständen die Grundbedürfnisse gedeckt.“

33      Art. 21 der Richtlinie 2013/33 lautet:

„Die Mitgliedstaaten berücksichtigen in dem einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie z. B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien.“

34      Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2013/33 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Unterstützung, die Personen mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme nach dieser Richtlinie gewährt wird, ihren Bedürfnissen während der gesamten Dauer des Asylverfahrens Rechnung trägt und ihre Situation in geeigneter Weise verfolgt wird.“

 Ungarisches Recht

 Gesetz über das Asylrecht

35      § 4 Abs. 3 des A menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény (Gesetz Nr. LXXX von 2007 über das Asylrecht) (Magyar Közlöny 2007/83, im Folgenden: Asylgesetz) bestimmt:

„In Bezug auf Personen, die besonderer Behandlung bedürfen, sind bei der Anwendung der Bestimmungen dieses Gesetzes die speziellen Bedürfnisse zu berücksichtigen, die sich aus ihrer Situation ergeben.“

36      § 5 Abs. 1 des Asylgesetzes lautet:

„Der Asylbewerber hat

a)      unter den in diesem Gesetz geregelten Voraussetzungen das Recht, sich im ungarischen Hoheitsgebiet aufzuhalten, und gemäß den einschlägigen besonderen Rechtsvorschriften Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels für das ungarische Hoheitsgebiet;

b)      unter den in diesem Gesetz und in den einschlägigen besonderen Rechtsvorschriften geregelten Voraussetzungen Anspruch auf Leistungen, Unterstützung und Unterbringung;

c)      das Recht, in den neun auf die Stellung des Asylantrags folgenden Monaten am Ort der Aufnahmeeinrichtung oder an einem vom öffentlichen Arbeitgeber bestimmten Arbeitsplatz und danach gemäß den allgemeinen für Ausländer geltenden Vorschriften einer Beschäftigung nachzugehen.“

37      § 29 des Asylgesetzes bestimmt:

„Bei der Gewährleistung der Aufnahmebedingungen ist den speziellen Bedürfnissen der Personen, die besonderer Behandlung bedürfen, Rechnung zu tragen.“

38      § 30 Abs. 3 dieses Gesetzes lautet:

„Beim Erlass einer Entscheidung, mit der die Inanspruchnahme der materiellen Aufnahmevoraussetzungen eingeschränkt oder versagt wird,

a)      muss die für Asylsachen zuständige Behörde der individuellen Situation des Asylbewerbers Rechnung tragen, unter spezieller Berücksichtigung von Personen, die besonderer Behandlung bedürfen, und

b)      die Einschränkung oder Versagung muss in angemessenem Verhältnis zu dem begangenen Verstoß stehen.“

39      In § 31/A des Asylgesetzes heißt es:

(1)      Die für Asylsachen zuständige Behörde kann zur Durchführung des Asylverfahrens oder zur Gewährleistung einer Überstellung gemäß der Verordnung [Nr. 604/2013] – innerhalb der in § 31/B vorgesehenen Grenzen – Asylbewerber, deren Aufenthaltstitel ausschließlich auf der Stellung eines Antrags beruht, in Haft nehmen,

a)      sofern es dadurch ermöglicht wird, die ungewisse Identität oder Staatsangehörigkeit des Betroffenen zu ermitteln,

b)      sofern der Betroffene Gegenstand eines Rückkehrverfahrens ist und es objektive Anhaltspunkte – wie die Tatsache, dass er bereits die Möglichkeit des Zugangs zum Verfahren des internationalen Schutzes hatte – gibt, mit denen sich belegen lässt, dass er seinen Antrag auf internationalen Schutz allein zu dem Zweck gestellt hat, die Umsetzung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu verhindern, oder andere gute Gründe, die diese Annahme zulassen,

c)      um die Tatsachen und Umstände festzustellen, auf die sich sein Asylantrag stützt, wenn sie ohne die Inhaftnahme nicht erlangt werden können, insbesondere wegen Fluchtgefahr,

d)      wenn der Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung es gebietet,

e)      wenn der Antrag in der internationalen Zone eines Flughafens gestellt wurde

f)      oder wenn die Inhaftnahme zur Gewährleistung der Überstellungsverfahren gemäß der Verordnung [Nr. 604/2013] erforderlich ist und die ernste Gefahr einer Flucht des Betroffenen besteht.

(2)      Asylbewerber können nach einer Einzelfallprüfung nur dann in Haft genommen werden, wenn das verfolgte Ziel nicht durch eine Maßnahme erreicht werden kann, die gewährleistet, dass die betreffende Person den Behörden weiterhin zur Verfügung steht.

(5)      Die Inhaftnahme von Asylbewerbern wird durch eine Entscheidung angeordnet, die mit ihrer Bekanntgabe vollstreckbar ist.

…“

40      § 31/B des Asylgesetzes bestimmt:

„(1)      Eine Inhaftnahme kann nicht allein deshalb angeordnet werden, weil ein Asylantrag gestellt wurde.

(2)      Gegen einen unbegleiteten minderjährigen Asylbewerber darf keine Inhaftnahme angeordnet werden.

(3)      Eine Inhaftnahme von Familien mit minderjährigen Kindern kann nur als letztes Mittel unter vorrangiger Berücksichtigung des Wohls der Kinder angeordnet werden.

…“

41      § 32/D Abs. 1 des Asylgesetzes sieht vor:

„Bei dem Antrag handelt es sich um eine von einer Partei abgegebene Erklärung, auf deren Grundlage die für Asylsachen zuständige Behörde ein Verwaltungsverfahren einleitet.“

42      In § 35 des Asylgesetzes heißt es:

„(1)      Das Asylverfahren beginnt mit der Stellung des Asylantrags bei der für Asylsachen zuständigen Behörde. Der Asylbewerber unterliegt dem Asylverfahren

a)      ab dem Zeitpunkt, zu dem er persönlich seinen Antrag auf internationalen Schutz bei der für Asylsachen zuständigen Behörde stellt, oder,

b)      wenn er seinen Antrag auf internationalen Schutz bei einer anderen Behörde stellt, ab dem Zeitpunkt der Registrierung dieses Antrags durch die für Asylsachen zuständige Behörde,

bis zur Zustellung der am Ende des Verfahrens erlassenen Entscheidung, wenn gegen sie kein Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann.

…“

43      § 51 des Asylgesetzes sieht vor:

„(1)      Wenn die Voraussetzungen für die Anwendung der [Verordnungen Nr. 604/2013 und Nr. 118/2014] nicht erfüllt sind, entscheidet die für Asylsachen zuständige Behörde über die Zulässigkeit des Antrags sowie darüber, ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, über die Begründetheit des Antrags im beschleunigten Verfahren zu entscheiden.

(2)      Der Antrag ist unzulässig,

e)      wenn es einen Drittstaat gibt, der für den Antragsteller einen sicheren Drittstaat darstellt,

(7)      Über den Antrag kann im Rahmen eines beschleunigten Verfahrens entschieden werden, wenn der Antragsteller

h)      illegal in das ungarische Hoheitsgebiet eingedrungen ist oder seinen Aufenthalt illegal verlängert hat und seinen Asylantrag nicht innerhalb einer angemessen Frist gestellt hat, obwohl er die Möglichkeit gehabt hätte, ihn früher zu stellen, und keinen stichhaltigen Grund für diese Verspätung angeben kann;

…“

44      § 53 des Asylgesetzes lautet:

„(1)      Die für Asylsachen zuständige Behörde lehnt den Antrag mit Bescheid ab, wenn sie feststellt, dass eine der Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 vorliegt.

(2)      Eine ablehnende Entscheidung, die mit der Unzulässigkeit des Antrags begründet wird oder die im beschleunigten Verfahren ergangen ist, kann im Rahmen eines Verwaltungsstreitverfahrens angefochten werden.

(6)      Im Rahmen des Verwaltungsstreitverfahrens führt die Einreichung einer Klageschrift nicht dazu, dass der Vollzug der Entscheidung ausgesetzt wird, mit Ausnahme von Entscheidungen im Asylbereich, die gemäß § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h ergehen.“

45      Am 15. September 2015 trat das Egyes törvényeknek a tömeges bevándorlás kezelésével összefüggő módosításáról szóló 2015. évi CXL. törvény (Gesetz Nr. CXL von 2015 über die Änderung bestimmter Gesetze im Zusammenhang mit der Steuerung der Masseneinwanderung) (Magyar Közlöny 2015/124, im Folgenden: Gesetz zur Steuerung der Masseneinwanderung) in Kraft. Durch dieses Gesetz, mit dem u. a. das Asylgesetz geändert wurde, wurden die Begriffe „durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation“ und „Verfahren an der Grenze“ eingeführt. Es sieht ferner die Schaffung von Transitzonen vor, in denen die Asylverfahren angewandt werden.

46      Nach dem Gesetz zur Steuerung der Masseneinwanderung werden in einer „durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation“ die Anträge, die in den an der Grenze errichteten Transitzonen gestellt wurden, im Einklang mit den Regeln für das Verfahren an der Grenze geprüft.

47      Insoweit bestimmt der durch das Gesetz zur Steuerung der Masseneinwanderung eingefügte § 71/A des Asylgesetzes:

„(1)      Stellt der Ausländer seinen Antrag in der Transitzone

a)      vor der Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet oder

b)      nachdem er im ungarischen Hoheitsgebiet innerhalb eines Streifens von acht Kilometern ab der Außengrenze im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) [(ABl. 2016, L 77, S. 1)] oder von Grenzmarkierungen aufgegriffen und dann zum Eingang einer Anlage zum Schutz der Ordnung an der Grenze im Sinne des Az államhatárról szóló 2007. évi LXXXIX. törvény (Gesetz Nr. LXXXIX von 2007 über die Staatsgrenzen) gebracht worden ist,

gelten die Bestimmungen dieses Kapitels mit den hier vorgesehenen Ausnahmen.

(2)      Für die Dauer des Verfahrens an der Grenze stehen den Asylbewerbern die Rechte gemäß § 5 Absatz 1 Buchstaben a und c nicht zu.

(3)      Die für Asylsachen zuständige Behörde entscheidet vorrangig über die Zulässigkeit des Asylantrags, und zwar spätestens acht Tage nach Antragstellung. Sie stellt ihre Entscheidung unverzüglich zu.

(4)      Sind seit Antragstellung vier Wochen verstrichen, gestattet die Einwanderungsbehörde die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet nach Maßgabe des Gesetzes.

(5)      Ist der Antrag nicht unzulässig, gestattet die Einwanderungsbehörde die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet nach Maßgabe des Gesetzes.

(6)      Wird die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet gestattet, führt die für Asylsachen zuständige Behörde das Asylverfahren nach den allgemeinen Vorschriften durch.

(7)      Die Vorschriften über das Verfahren an der Grenze finden auf Personen, die besonderer Behandlung bedürfen, keine Anwendung.

…“

48      Durch das Határőrizeti területen lefolytatott eljárás szigorításával kapcsolatos egyes törvények módosításáról szóló 2017. évi XX. törvény (Gesetz Nr. XX von 2017 zur Änderung bestimmter Gesetze in Bezug auf die Verstärkung des in der überwachten Grenzzone angewandten Verfahrens) (Magyar Közlöny 2017/39, im Folgenden: Gesetz Nr. XX von 2017) wurden zusätzliche Fälle vorgesehen, in denen die Regierung das Vorliegen einer „durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation“ im Sinne des Asylgesetzes feststellen kann, und die Bestimmungen, die es gestatten, in einer solchen Situation von den allgemeinen Bestimmungen dieses Gesetzes abzuweichen, wurden geändert.

49      Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. XX von 2017 sieht § 80/A des Asylgesetzes vor:

„(1)      Eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation kann festgestellt werden,

a)      wenn die Zahl der in Ungarn ankommenden Asylbewerber im Durchschnitt höher liegt als

aa)      500 Personen pro Tag während eines Monats,

ab)      750 Personen pro Tag während zwei aufeinanderfolgender Wochen oder

ac)      800 Personen pro Tag während einer Woche;

b)      wenn die Zahl der Personen, die sich in den Transitzonen in Ungarn befinden – mit Ausnahme derjenigen, die den ausländischen Staatsangehörigen Unterstützung leisten –, im Durchschnitt höher liegt als

ba)      1 000 Personen pro Tag während eines Monats,

bb)      1 500 Personen pro Tag während zwei aufeinanderfolgender Wochen oder

bc)      1 600 Personen pro Tag während einer Woche;

c)      wenn, abgesehen von den in den Buchst. a und b genannten Fällen, im Zusammenhang mit einer solchen Migrationssituation ein Umstand eintritt, der

ca)      die Sicherheit der ungarischen Außengrenze im Sinne von Art. 2 Nr. 2 des Schengener Grenzkodex unmittelbar bedroht;

cb)      die öffentliche Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Gesundheit in einem Streifen des ungarischen Hoheitsgebiets von 60 Metern ab der ungarischen Außengrenze im Sinne von Art. 2 Nr. 2 des Schengener Grenzkodex oder von Grenzmarkierungen oder an irgendeinem Ort im ungarischen Hoheitsgebiet unmittelbar bedroht, insbesondere wenn in einer Aufnahmeeinrichtung oder einer Unterkunft für Ausländer in dem betreffenden Gebiet oder an dem fraglichen Ort oder in dessen Umgebung Konflikte ausbrechen oder Gewaltakte begangen werden.

(2)      Auf Initiative des Leiters der nationalen Polizei und des Leiters der für Asylsachen zuständigen Behörde und auf Vorschlag des zuständigen Ministers kann die Regierung durch Dekret feststellen, dass eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation vorliegt. Sie kann sich auf das gesamte ungarische Hoheitsgebiet oder einen bestimmten Teil davon erstrecken.

(4)      Das in Absatz 2 erwähnte Regierungsdekret bleibt für höchstens sechs Monate in Kraft, es sei denn, die Regierung verlängert seine Gültigkeit. Die Regierung kann die Gültigkeit des in Absatz 2 erwähnten Dekrets verlängern, wenn die Voraussetzungen für die Feststellung einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation zum Zeitpunkt der Verlängerung erfüllt sind.

(6)      In einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation sind die Bestimmungen der §§ 80/B bis 80/G allein in dem Gebiet anzuwenden, das durch das in Absatz 2 erwähnte Regierungsdekret festgelegt wird, und nur, soweit dies zur Bekämpfung der tieferen Ursachen einer solchen Situation und zu ihrer Bewältigung erforderlich ist.“

50      § 80/H des Asylgesetzes lautet:

„In einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation sind die Bestimmungen der Kapitel I bis IV und V/A bis VIII anzuwenden, vorbehaltlich der in den §§ 80/I bis 80/K vorgesehenen Ausnahmen.“

51      In § 80/I des Asylgesetzes heißt es:

„Folgende Bestimmungen sind nicht anzuwenden:

b)      § 35 Absätze 1 und 6.

i)      die §§ 71/A bis 72.“

52      § 80/J des Asylgesetzes lautet:

„(1)      Der Asylantrag ist persönlich bei der zuständigen Behörde und ausschließlich in der Transitzone zu stellen, es sei denn, der Asylbewerber

a)      ist Gegenstand einer die persönliche Freiheit beschränkenden Zwangsmaßnahme, Maßnahme oder Verurteilung,

b)      ist Gegenstand einer von der für Asylsachen zuständigen Behörde angeordneten Haftmaßnahme,

c)      hält sich rechtmäßig im ungarischen Hoheitsgebiet auf und beantragt nicht die Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung.

(2)      Der Asylbewerber unterliegt dem Asylverfahren ab der Einreichung seines Antrags auf internationalen Schutz bei der zuständigen Behörde bis zur Zustellung der am Ende des Verfahrens erlassenen Entscheidung, wenn gegen sie kein Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann.

(3)      Die Polizei begleitet den Ausländer, der sich illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhält und erklärt, einen Asylantrag stellen zu wollen, bis zum Eingang einer Anlage zum Schutz der Ordnung an der Grenze im Sinne des Az államhatárról szóló 2007. évi LXXXIX. törvény (Gesetz Nr. LXXXIX von 2007 über die Staatsgrenzen). Der Betroffene kann seinen Asylantrag gemäß den Bestimmungen von Absatz 1 stellen.

(4)      Während des Verfahrens stehen Asylbewerbern, die sich in der Transitzone aufhalten, die Rechte nach § 5 Abs. 1 Buchst. a und c nicht zu.

(5)      Die für Asylsachen zuständige Behörde weist dem Asylbewerber die Transitzone als Aufenthaltsort zu, bis der Überstellungsbeschluss nach der [Verordnung Nr. 604/2013] oder die Entscheidung, gegen die kein Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann, vollstreckbar geworden ist. Der Asylbewerber kann die Transitzone über den Ausgang verlassen.

(6)      Handelt es sich bei dem Asylbewerber um einen unbegleiteten Minderjährigen unter 14 Jahren, führt die für Asylsachen zuständige Behörde das Asylverfahren nach seiner Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet nach den allgemeinen Vorschriften durch. Sie stellt ihm unverzüglich eine vorläufige Unterkunft zur Verfügung und beantragt gleichzeitig bei der Vormundschaftsbehörde die Bestellung eines Vormunds zum Schutz und zur Vertretung des Minderjährigen. Der Vormund ist binnen acht Tagen nach Eingang des Antrags der für Asylsachen zuständigen Behörde zu bestellen. Die Vormundschaftsbehörde teilt dem unbegleiteten Minderjährigen und der für Asylsachen zuständigen Behörde unverzüglich den Namen des bestellten Vormunds mit.“

53      § 80/K des Asylgesetzes sieht vor:

„(1)      Eine ablehnende Entscheidung, die mit der Unzulässigkeit des Antrags begründet wird oder die im beschleunigten Verfahren ergangen ist, kann innerhalb von drei Tagen angefochten werden. Die für Asylsachen zuständige Behörde übermittelt dem Gericht binnen drei Tagen die Klageschrift zusammen mit den Unterlagen zur Rechtssache und der Klagebeantwortung.

(2)      Die für Asylsachen zuständige Behörde trifft eine Entscheidung nach Lage der Akten oder beendet das Verfahren, wenn der Asylbewerber

d)      die Transitzone verlässt.

(4)      Die Entscheidung, mit der das Verfahren gemäß Absatz 2 beendet wird, ist nicht im Verwaltungsrechtsweg anfechtbar.

(7)      Die an Asylbewerber, die die Transitzone verlassen haben, gerichteten Entscheidungen werden ihnen durch Bekanntgabe zugestellt. …

(10)      Nach Zustellung einer Entscheidung, gegen die kein Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann, verlässt der Asylbewerber die Transitzone.

(11)      Stellt der Asylbewerber einen neuen Antrag, obwohl das Verfahren über seinen früheren Antrag endgültig abgeschlossen oder sein früherer Antrag rechtskräftig abgelehnt wurde, stehen ihm die Rechte gemäß § 5 Absatz 1 Buchstaben a bis c nicht zu.“

 Gesetz über die Staatsgrenzen

54      § 5 des Az államhatárról szóló 2007. évi LXXXIX. törvény (Gesetz Nr. LXXXIX von 2007 über die Staatsgrenzen) (Magyar Közlöny 2007/88, im Folgenden: Gesetz über die Staatsgrenzen) bestimmt:

„(1)      Nach dem vorliegenden Gesetz ist es möglich, im ungarischen Hoheitsgebiet einen Streifen von 60 Metern ab der Außengrenze im Sinne von Art. 2 Nr. 2 des Schengener Grenzkodex oder Grenzmarkierungen zu nutzen, um Anlagen zum Schutz der Ordnung an der Grenze – einschließlich der von § 15/A erfassten – zu errichten, einzusetzen und zu betreiben sowie Aufgaben der nationalen Verteidigung und Sicherheit, des Katastrophenschutzes, der Grenzüberwachung, des Asyls und der Migrationspolizei zu erfüllen.

(1bis)      Die Polizei kann im ungarischen Hoheitsgebiet ausländische Staatsangehörige, die sich illegal dort aufhalten, in einem Streifen von 8 km ab der Außengrenze im Sinne von Art. 2 Nr. 2 des Schengener Grenzkodex oder Grenzmarkierungen festnehmen und bis zum Eingang der nächstgelegenen Anlage im Sinne von Absatz 1 begleiten, es sei denn, dass der Verdacht einer Straftat besteht.

(1ter)      In einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation kann die Polizei im ungarischen Hoheitsgebiet ausländische Staatsangehörige, die sich illegal dort aufhalten, festnehmen und bis zum Eingang der nächstgelegenen Anlage im Sinne von Absatz 1 begleiten, es sei denn, dass der Verdacht einer Straftat besteht.

…“

55      § 15/A dieses Gesetzes lautet:

(1)      In dem in § 5 Abs. 1 genannten Gebiet kann eine Transitzone eingerichtet werden, um als vorübergehender Aufenthaltsort für Personen zu dienen, die um Asyl oder subsidiären Schutz ersuchen, … und als Ort, an dem die Asyl- und Einwanderungsverfahren durchgeführt werden und an dem sich die zu diesem Zweck erforderlichen Einrichtungen befinden.

(2)      Eine Person, die internationalen Schutz beantragt und sich in einer Transitzone befindet, darf in das ungarische Hoheitsgebiet einreisen, wenn

a)      die für Asylsachen zuständige Behörde eine Entscheidung trifft, mit der internationaler Schutz gewährt wird,

b)      die Voraussetzungen für die Durchführung eines Asylverfahrens nach den allgemeinen Vorschriften erfüllt sind oder

c)      die Bestimmungen des § 71/A Absätze 4 und 5 des Asylgesetzes anzuwenden sind.

(2bis)      In einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation kann einer Person, die internationalen Schutz beantragt und sich in einer Transitzone befindet, in den in Absatz 2 Buchstaben a und b genannten Fällen die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet gestattet werden.

(3)      In der Transitzone nehmen die staatlichen Stellen im Einklang mit den für sie geltenden Rechtsvorschriften ihre Aufgaben und Befugnisse wahr.

(4)      Abweichend von den Bestimmungen des Absatzes 1 kann in einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation auch eine Anlage, die sich an einem anderen als dem in § 5 Absatz 1 genannten Ort befindet, als Transitzone ausgewiesen werden.“

 Verwaltungsgerichtsordnung

56      § 39 Abs. 6 des Közigazgatási perrendtartásról szóló 2017. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 2017 über die Verwaltungsgerichtsordnung)  (Magyar Közlöny 2017/30, im Folgenden: Verwaltungsgerichtsordnung) lautet:

„Sofern im vorliegenden Gesetz nichts anderes bestimmt ist, wird durch die Klageschrift das Inkrafttreten des Verwaltungsakts nicht ausgesetzt.“

57      § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung bestimmt:

„(1)      Jede Person, deren Recht oder berechtigtes Interesse durch eine Handlung der Verwaltung oder durch den Fortbestand einer aus dieser Handlung resultierenden Situation verletzt wurde, kann in jedem Stadium des Verfahrens bei dem mit der Sache befassten Gericht einen Antrag auf sofortigen gerichtlichen Rechtsschutz stellen, um den Eintritt eines unmittelbar bevorstehenden Schadens zu verhindern oder um zu erreichen, dass vorläufig über das streitige Rechtsverhältnis entschieden wird oder die Situation, die zum Rechtsstreit geführt hat, bestehen bleibt.

(2)      Im Rahmen eines Antrags auf sofortigen Rechtsschutz kann Folgendes begehrt werden:

a)      aufschiebende Wirkung,

…“

 Regierungsdekret 301/2007

58      § 33 des A menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény végrehajtásáról szóló, 301/2007. (XI. 9.) Korm. rendelet (Regierungsdekret 301/2007. [XI. 9.] zur Umsetzung des Asylgesetzes) (Magyar Közlöny 2007/151) sieht vor:

„(1)      Sofern es in Anbetracht der individuellen Situation des Asylbewerbers, der besonderer Behandlung bedarf, gerechtfertigt ist, muss die für Asylsachen zuständige Behörde für seine gesonderte Unterbringung in der Aufnahmeeinrichtung sorgen.

(2)      Soweit dies möglich ist, muss die Einheit der Familie auch dann gewahrt bleiben, wenn eine Person, die besonderer Behandlung bedarf, gesondert untergebracht wird.“

59      § 34 Abs. 1 dieses Dekrets sieht vor:

„Neben den Bestimmungen der §§ 26 und 27 haben Asylbewerber, die besonderer Behandlung bedürfen – soweit dies im Hinblick auf ihre individuelle Situation und auch auf der Grundlage eines medizinischen Gutachtens erforderlich ist –, das Recht auf kostenlosen Zugang zu den angesichts ihres Gesundheitszustands gerechtfertigen Gesundheitsleistungen, zu Wiedereingliederungsmaßnahmen, zu psycholgischer Betreuung einschließlich klinischer Psychologie sowie zu psychotherapeutischer Behandlung.“

 Vorverfahren

60      Am 11. Dezember 2015 übersandte die Kommission Ungarn ein Mahnschreiben, in dem sie diesem Mitgliedstaat vorwarf, u. a. gegen Art. 46 Abs. 1, 3, 5 und 6 der Richtlinie 2013/32 verstoßen zu haben.

61      Ungarn antwortete auf das Mahnschreiben, dass die nationale Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

62      Am 7. März 2017 erließ Ungarn das Gesetz Nr. XX von 2017. Die Kommission war der Ansicht, dass dieses Gesetz neue Bedenken aufwerfe, die zu den bereits im oben genannten Mahnschreiben dargelegten hinzukämen.

63      Am 18. Mai 2017 übersandte die Kommission daher Ungarn ein ergänzendes Mahnschreiben, in dem sie diesem Mitgliedstaat vorwarf, seinen Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, den Art. 3, 6 und 7, Art. 24 Abs. 3, Art. 31 Abs. 8, den Art. 33, 38 und 43 sowie Art. 46 Abs. 1, 3, 5 und 6 der Richtlinie 2013/32, den Art. 2, 8, 9, 11 und 17 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. g und mit Art. 17 Abs. 3 und 4 dieser Richtlinie und schließlich den Art. 6, 18 und 47 der Charta nicht nachzukommen.

64      Im Antwortschreiben Ungarns vom 18. Juli 2017 auf das ergänzende Mahnschreiben, das am 2. Oktober und am 20. November 2017 vervollständigt wurde, hieß es, die nationale Regelung sei mit dem Unionsrecht vereinbar, sei aber in bestimmten Punkten geändert worden.

65      Am 8. Dezember 2017 übersandte die Kommission Ungarn eine mit Gründen versehene Stellungnahme, die am selben Tag zugestellt wurde und in der sie ausführte, dieser Mitgliedstaat sei dadurch seinen Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, den Art. 3 und 6, Art. 24 Abs. 3, Art. 43 und Art. 46 Abs. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2013/32 sowie Art. 2 Buchst. h und den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit den Art. 6, 18 und 47 der Charta nicht nachgekommen, dass er

–        im Rechtsbehelfsverfahren gegen eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt werde, die Prüfung im Sinne von Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 auf die tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte beschränke, die im Rahmen des Erlasses der Entscheidung geprüft worden seien,

–        Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 nicht in nationales Recht umgesetzt und Vorschriften erlassen habe, die in Fällen, die nicht unter Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie fielen, von der Grundregel abwichen, dass Klagen von Personen, die internationalen Schutz beantragten, automatisch aufschiebende Wirkung hätten,

–        illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhältige Drittstaatsangehörige zwangsweise hinter den Grenzzaun verbringe, ohne die in Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 festgelegten Verfahren und Garantien einzuhalten,

–        bestimme, dass der Asylantrag persönlich bei der zuständigen Behörde und ausschließlich in der Transitzone gestellt werden müsse,

–        bestimme, dass auf alle Asylbewerber (mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger unter 14 Jahren) ein Verfahren anzuwenden sei, das zur Folge habe, dass sie während der gesamten Dauer des Asylverfahrens in Einrichtungen einer Transitzone, die sie nur in Richtung Serbien verlassen könnten, in Haft bleiben müssten, ohne dass dies mit angemessenen Garantien verbunden sei,

–        die Frist für die Stellung eines Antrags auf Überprüfung erstinstanzlicher Entscheidungen, mit denen ein Asylantrag abgelehnt werde, von acht auf drei Tage verkürzt habe.

66      Am 8. Februar 2018 antwortete Ungarn auf die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission und bekräftigte, dass die nationale Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

67      Da die von Ungarn vorgebrachten Argumente die Kommission nicht überzeugten, beschloss sie am 21. Dezember 2018, die vorliegende Klage zu erheben.

 Zur Klage

 Vorbemerkungen

68      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist befand (Urteil vom 28. Januar 2020, Kommission/Italien, [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑122/18, EU:C:2020:41, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ob die geltend gemachte Vertragsverletzung vorgelegen hat, ist daher anhand der zu diesem Zeitpunkt geltenden nationalen Rechtsvorschriften zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juli 2019, Kommission/Belgien [Art. 260 Abs. 3 AEUV – Hochgeschwindigkeitsnetze], C‑543/17, EU:C:2019:573, Rn. 23 und 24).

69      In der mündlichen Verhandlung hat Ungarn bestätigt, dass bei Ablauf der Frist in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission, d. h. am 8. Februar 2018, die Bestimmungen des Gesetzes Nr. XX von 2017 im gesamten ungarischen Hoheitsgebiet galten, da die Anwendung des Regierungsdekrets, mit dem für das gesamte Hoheitsgebiet eine „durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation“ im Sinne des Asylgesetzes festgestellt wurde, mindestens bis zu diesem Datum verlängert worden war.

70      Folglich muss der Gerichtshof im Rahmen der Prüfung, ob die ungarische Regelung mit den Bestimmungen des Unionsrechts, deren Verletzung Ungarn von der Kommission zur Last gelegt wird, vereinbar ist, die Änderungen dieser Regelung durch das Gesetz Nr. XX von 2017 berücksichtigen.

 Zur ersten, den Zugang zum Verfahren des internationalen Schutzes betreffenden Rüge

 Vorbringen der Parteien

71      Die Kommission trägt vor, Ungarn habe die Art. 3 und 6 der Richtlinie 2013/32 durch das Erfordernis verletzt, den Asylantrag persönlich und ausschließlich in den Transitzonen von Röszke (Ungarn) und Tompa (Ungarn) zu stellen, zu denen der Zugang von den ungarischen Behörden stark eingeschränkt worden sei.

72      Hierzu führt die Kommission erstens aus, wenn eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation festgestellt worden sei, schreibe der durch das Gesetz Nr. XX von 2017 eingefügte § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes grundsätzlich vor, dass jeder Asylantrag persönlich in den an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn gelegenen Transitzonen von Röszke und Tompa zu stellen sei.

73      Überdies ließen die ungarischen Behörden pro Tag nur eine sehr geringe Zahl von Personen in jede der Transitzonen einreisen. So sei erwiesen, dass seit dem 23. Januar 2018 in jede von ihnen nur eine Person pro Tag einreisen dürfe; dies führe zu einer Wartezeit von mehreren Monaten, bis es möglich sei, in eine davon einzureisen und dort einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

74      Die Einreise in die Transitzonen von Röszke und Tompa werde auf der Basis einer informellen Warteliste gestattet, die den ungarischen Behörden von den „Leitern der Gemeinschaft“ übermittelt werde. Da es in dem Landstreifen zwischen der serbisch-ungarischen Grenze und den Transitzonen keinerlei Infrastruktur gebe, harrten nur wenige Personen vor deren Eingang aus, während sich die meisten von ihnen in den umliegenden serbischen Ortschaften aufhielten.

75      Zweitens weist die Kommission darauf hin, dass die Mitgliedstaaten nach den Art. 3 und 6 der Richtlinie 2013/32 dafür zu sorgen hätten, dass jede Person, die internationalen Schutz begehre, in ihrem Hoheitsgebiet einen entsprechenden Antrag stellen könne und nach ihrer Ankunft im Hoheitsgebiet Zugang zum Verfahren zur Zuerkennung dieses Schutzes habe. Dies gelte unabhängig davon, aus welchem Drittland der Antragsteller an die Grenze eines Mitgliedstaats gelange.

76      Ungarn gebe dadurch, dass es nur Personen, die sich in den Transitzonen von Röszke und Tompa befänden, gestatte, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen und registrieren zu lassen, und dass es den Zugang zu diesen Zonen extrem beschränke, den Personen, die sich an den ungarischen Grenzen befänden, nicht die Möglichkeit, innerhalb der in der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Frist einen solchen Antrag zu stellen und registrieren zu lassen.

77      Unabhängig von der genauen Zahl der Wartenden stehe ein System, das den in Art. 6 der Richtlinie 2013/32 eingeräumten Registrierungsanspruch davon abhängig mache, dass der Antrag an einem bestimmten, für lange Zeit nur beschränkt zugänglichen Ort gestellt werde, nicht mit dem in diesem Artikel aufgestellten Erfordernis im Einklang, wonach der Zugang zum Verfahren innerhalb einer bestimmten Frist zu gewährleisten sei.

78      Ungarn entgegnet erstens, dass Personen, die internationalen Schutz beantragten, nicht das Recht hätten, ihr Asylland frei zu wählen, und dass diejenigen, die sich an seinen Grenzen einfänden, zum Teil nicht vor Verfolgungen flüchteten, die sie unmittelbar bedrohten.

79      Zudem sei nicht nur Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 zu berücksichtigen, sonderen auch dessen Abs. 2 und 3, aus denen hervorgehe, dass der Unionsgesetzgeber die Mitgliedstaaten ermächtige, zu verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und an einem bestimmten Ort gestellt würden; dies impliziere zwangsläufig, dass es unmöglich sein könne, gleichzeitig eine Vielzahl von Anträgen zu stellen.

80      Überdies werde in der Richtlinie 2013/32 nicht festgelegt, an wie vielen Orten in jedem Mitgliedstaat die Möglichkeit bestehen müsse, Asylanträge zu stellen. Bei Ablauf der Frist in der mit Gründen versehenen Stellungnahme habe es im ungarischen Hoheitsgebiet die beiden Transitzonen in Röszke und Tompa gegeben; sie hätten sich auf der Reiseroute der Personen, die internationalen Schutz begehrt hätten, befunden, und in diesen Zonen hätten solche Anträge gestellt werden können. Außerdem versuchten die meisten Personen, die illegal nach Ungarn einreisten, die serbisch-ungarische Grenze in der Nähe dieser Transitzonen zu überschreiten, so dass bei vernünftiger Betrachtung von ihnen habe erwartet werden können, dass sie ihren Antrag in den genannten Transitzonen stellten.

81      Das Unionsrecht stehe daher § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes, der im Übrigen nur in einer „durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation“ Anwendung finde, nicht entgegen.

82      Eine solche Krisensituation könne u. a. festgestellt werden, wenn nationale Erfordernisse im Bereich der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit es rechtfertigten. Im vorliegenden Fall seien im Jahr 2018 in Ungarn über 17 000 Straftaten im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung begangen worden. Die Pflicht, einen Antrag auf internationalen Schutz in den Transitzonen zu stellen, erhöhe somit die Wirksamkeit des Kampfes gegen Menschenhandel und entspreche dem Erfordernis des Schutzes der Grenzen des Schengen-Raums.

83      Des Weiteren sehe § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes Ausnahmen von der Pflicht vor, den Asylantrag in den Transitzonen zu stellen. So könnten Personen, die sich rechtmäßig im ungarischen Hoheitsgebiet aufhielten, ihren Antrag dort überall stellen.

84      Darüber hinaus werde das Verfahren nach der Antragstellung in der betreffenden Transitzone im Einklang mit den allgemeinen Regeln durchgeführt. § 32/D des Asylgesetzes gewährleiste dabei, dass die für Asylsachen zuständige Behörde dieses Verfahren unmittelbar nach der Antragstellung eröffne. Der Antrag werde deshalb nach seiner Stellung in der betreffenden Transitzone unverzüglich registriert, spätestens aber, im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32, innerhalb von 24 Stunden.

85      Zweitens treffe es nicht zu, dass der Zugang zu den Transitzonen beschränkt worden sei. Außerdem hätten die ungarischen Behörden zwar Kenntnis von der Praxis, dass Asylbewerber, die in Serbien ein Asylverfahren einleiteten oder Unterstützung in Anspruch nähmen, vor den Transitzonen in einer von ihnen selbst, den serbischen Behörden und bestimmten Organisationen in Listen festgelegten Reihenfolge erschienen; sie hätten jedoch keinen Einfluss auf die festgelegte Reihenfolge, seien nicht an der Erstellung solcher Listen beteiligt und verwendeten sie auch nicht.

86      Schließlich bestehe der Grund dafür, dass es vor den Eingängen der Transitzonen von Röszke und Tompa keine langen Warteschlangen gebe, entgegen dem Vorbringen der Kommission darin, dass sich die betreffenden Personen in Serbien bereits in einem laufenden Asylverfahren befänden oder befunden hätten und dort Unterstützung erhielten.

 Würdigung durch den Gerichtshof

87      Mit ihrer ersten Rüge wirft die Kommission Ungarn im Wesentlichen vor, gegen die Art. 3 und 6 der Richtlinie 2013/32 verstoßen zu haben, weil pro Tag nur einer ganz geringen Zahl von Personen gestattet worden sei, aus Serbien in die an der serbisch-ungarischen Grenze befindlichen Transitzonen von Röszke und Tompa einzureisen, obwohl Anträge auf internationalen Schutz nur persönlich und nur in diesen Transitzonen gestellt werden könnten.

88      Zum einen ist erstens festzustellen, dass die Richtlinie 2013/32 nach ihrem Art. 3 Abs. 1 für alle Anträge auf internationalen Schutz gilt, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – gestellt werden.

89      Zweitens sieht Art. 6 („Zugang zum Verfahren“) der Richtlinie in Abs. 1 Unterabs. 1 vor, dass ein Antrag auf internationalen Schutz, der von einer Person bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, gestellt wird, spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung registriert wird. Wird der Antrag auf internationalen Schutz bei anderen Behörden gestellt, bei denen derartige Anträge wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind, gewährleisten die Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie, dass die Registrierung spätestens sechs Arbeitstage nach Antragstellung erfolgt.

90      Damit hat der Unionsgesetzgeber den Begriff der Behörden, die zwar nicht für die Registrierung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständig sind, bei denen solche Anträge jedoch wahrscheinlich gestellt werden (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32), weit gefasst. Darunter fällt somit grundsätzlich eine nationale Behörde, wenn plausibel ist, dass ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser bei ihr einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 57 bis 59). Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie bestimmt überdies ausdrücklich, dass Polizei, Grenzschutz, Einwanderungsbehörden und Personal von Gewahrsamseinrichtungen zu diesen Behörden gehören.

91      Drittens können die Mitgliedstaaten, wenn eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantragt, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, die in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie festgelegten Fristen einzuhalten, nach Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie ausnahmsweise vorsehen, dass die Frist für die Registrierung der Anträge auf internationalen Schutz auf zehn Arbeitstage nach ihrer Stellung verlängert wird.

92      Viertens ist hinzuzufügen, dass nach Art. 6 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, tatsächlich die Möglichkeit haben müssen, ihn so bald wie möglich förmlich zu stellen; unbeschadet dieses Rechts können die Mitgliedstaaten verlangen, dass ein solcher Antrag persönlich und/oder an einem dafür bestimmten Ort gestellt wird.

93      Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Mitgliedstaaten im Allgemeinen verpflichtet sind, innerhalb der in Art. 6 der Richtlinie 2013/32 festgelegten Frist jeden bei den nationalen Behörden gestellten Antrag auf internationalen Schutz eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der unter diese Richtlinie fällt, zu registrieren und anschließend sicherzustellen, dass die betreffenden Personen tatsächlich die Möglichkeit haben, ihren Antrag so bald wie möglich förmlich zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Januar 2018, Hasan, C‑360/16, EU:C:2018:35, Rn. 76).

94      Zum anderen ist hervorzuheben, dass die erste Rüge der Kommission, wie sie in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, nicht das Verfahren zur Registrierung oder förmlichen Stellung des Antrags auf internationalen Schutz als solches betrifft, sondern die Modalitäten, nach denen ein solcher Antrag zuvor bei den ungarischen Behörden gestellt werden kann.

95      Hierzu ist erstens festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 7 der Richtlinie 2013/32 sicherzustellen haben, dass jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose das Recht hat, im eigenen Namen oder über einen Dritten einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

96      Art. 7 der Richtlinie verleiht somit in Verbindung mit ihrem Art. 3 Abs. 1 jedem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen das Recht, auch an den Grenzen oder in den Transitzonen eines Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Insoweit macht Ungarn zwar zu Recht geltend, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie verlangen können, dass Anträge auf internationalen Schutz an einem bestimmten Ort förmlich gestellt werden; keine Bestimmung der Richtlinie sieht jedoch eine ähnliche Regel für die vorherige formlose Stellung der Anträge auf internationalen Schutz vor.

97      Ein solcher Antrag gilt im Übrigen als gestellt, sobald die betreffende Person bei einer der von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 erfassten Behörden seine Absicht bekundet hat, internationalen Schutz in Anspruch zu nehmen, ohne dass die Bekundung dieser Absicht von irgendeiner Verwaltungsformalität abhängig gemacht werden darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 93 und 94).

98      Aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32 ergibt sich somit, dass jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose das Recht hat, bei einer der von diesem Artikel erfassten Behörden einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, indem er bei einer von ihnen seine Absicht bekundet, internationalen Schutz in Anspruch zu nehmen.

99      Zweitens ist hervorzuheben, dass die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz bei einer der von Art. 6 der Richtlinie 2013/32 erfassten Behörden ein wesentlicher Schritt im Verfahren zur Zuerkennung dieses Schutzes ist.

100    Der Drittstaatsangehörige oder Staatenlose erwirbt nämlich die Eigenschaft eines Antragstellers, der internationalen Schutz begehrt, im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32, sobald er einen solchen Antrag stellt (Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 92).

101    Außerdem ist der Tag, an dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie maßgebend dafür, wann die Frist für die Registrierung dieses Antrags zu laufen beginnt, und nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie für die Pflicht, den Antragsteller in die Lage zu versetzen, seinen Antrag auf internationalen Schutz so bald wie möglich förmlich zu stellen. Ferner ist hervorzuheben, dass die förmliche Stellung dieses Antrags die Frist in Gang setzt, innerhalb deren die Asylbehörde nach Art. 31 der Richtlinie grundsätzlich über den Antrag auf internationalen Schutz entscheiden muss.

102    Das Recht, einen solchen Antrag zu stellen, ist somit eine Voraussetzung für die tatsächliche Beachtung der Rechte darauf, dass dieser Antrag registriert wird und innerhalb der in der Richtlinie 2013/32 festgelegten Fristen förmlich gestellt und geprüft werden kann, und letztlich für die Wirksamkeit des durch Art. 18 der Charta gewährleisteten Asylrechts.

103    Folglich darf ein Mitgliedstaat den Zeitpunkt, zu dem der Betroffene in die Lage versetzt wird, seinen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, nicht ungerechtfertigt hinauszögern, denn sonst würde die praktische Wirksamkeit von Art. 6 der Richtlinie beeinträchtigt.

104    Drittens ist darauf hinzuweisen, dass das eigentliche Ziel der Richtlinie 2013/32 und insbesondere ihres Art. 6 Abs. 1 darin besteht, einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren des internationalen Schutzes zu gewährleisten (Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 82).

105    Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 bestätigt überdies ein solches Ziel. Er soll nämlich die Stellung von Anträgen auf internationalen Schutz erleichtern, indem er den Mitgliedstaaten insbesondere vorschreibt, allen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die sich an Grenzübergangsstellen an den Außengrenzen, einschließlich Transitzonen, befinden, Informationen über die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen, zur Verfügung zu stellen, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass sie dies möglicherweise tun möchten.

106    Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 6 der Richtlinie 2013/32 gewährleisten müssen, dass die Betroffenen, wenn sie eine entsprechende Absicht bekunden, in der Lage sind, das Recht, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, auch an den Grenzen der Mitgliedstaaten wirksam auszuüben, damit dieser Antrag registriert wird und innerhalb der in der Richtlinie festgelegten Fristen förmlich gestellt und geprüft werden kann.

107    Zu prüfen ist, ob Ungarn diesem Erfordernis im vorliegenden Fall nachgekommen ist.

108    Insoweit bestätigt Ungarn, dass sich nach § 80/J des Asylgesetzes aus Serbien einreisende Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die in Ungarn internationalen Schutz in Anspruch nehmen wollten, sowohl für die Antragstellung als auch für die Stellung der förmlichen Anträge in eine der beiden Transitzonen von Röszke und Tompa begeben mussten.

109    In seinen Erklärungen hat Ungarn nämlich klargestellt, dass die in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 festgelegte Frist für die Registrierung eines Antrags auf internationalen Schutz erst dann zu laufen beginnen kann, wenn sich die Antragsteller in einer der Transitzonen befinden. Folglich können sie ihre Anträge nur in diesen Zonen stellen; dies hat Ungarn im Übrigen in der mündlichen Verhandlung bestätigt.

110    Nach dieser Vorbemerkung ist zu prüfen, ob die ungarischen Behörden, wie die Kommission geltend macht, die Zahl der Personen, denen de facto pro Tag gestattet wird, in eine der Transitzonen einzureisen, um dort einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, drastisch beschränkt haben.

111    Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Gegenstand einer Vertragsverletzungsklage auch eine Verwaltungspraxis sein kann, sofern sie einen gewissen Grad an Konstanz und Allgemeinheit aufweist (vgl. u. a. Urteile vom 9. Mai 1985, Kommission/Frankreich, 21/84, EU:C:1985:184, Rn. 13, und vom 5. September 2019, Kommission/Italien [Bakterium Xylella fastidiosa], C‑443/18, EU:C:2019:676, Rn. 74).

112    Außerdem obliegt es der Kommission, das Vorliegen der gerügten Vertragsverletzung nachzuweisen und dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es ihm ermöglichen, ihr Vorliegen zu prüfen, ohne dass sich die Kommission dabei auf irgendeine Vermutung stützen kann (vgl. u. a. Urteile vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland, C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 48, und vom 2. Mai 2019, Kommission/Kroatien [Deponie in Biljane Donje], C‑250/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:343, Rn. 33). Nur wenn die Kommission genügend Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts im Hoheitsgebiet des beklagten Mitgliedstaats beigebracht hat, obliegt es diesem, die gemachten Angaben und deren Folgen substantiiert und detailliert zu bestreiten (vgl. u. a. Urteile vom 26. April 2005, Kommission/Irland, C‑494/01, EU:C:2005:250, Rn. 44, und vom 28. März 2019, Kommission/Irland [System der Sammlung und Behandlung von kommunalem Abwasser], C‑427/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:269, Rn. 39).

113    Speziell zu einer die Anwendung einer nationalen Vorschrift betreffenden Rüge hat der Gerichtshof entschieden, dass für den Nachweis einer Vertragsverletzung Beweiselemente vorgelegt werden müssen, die im Vergleich zu denen, die gewöhnlich im Rahmen einer nur den Inhalt einer nationalen Vorschrift betreffenden Vertragsverletzungsklage herangezogen werden, von besonderer Natur sind, und dass die Vertragsverletzung daher nur durch einen hinreichend dokumentierten und detaillierten Nachweis der der nationalen Verwaltung bzw. den nationalen Gerichten vorgeworfenen und dem betreffenden Mitgliedstaat zuzurechnenden Praxis dargetan werden kann (Urteile vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland, C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 49, und vom 9. Juli 2015, Kommission/Irland, C‑87/14, EU:C:2015:449, Rn. 23).

114    Im vorliegenden Fall hat die Kommission, wie der Generalanwalt in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ihrer Klageschrift mehrere Berichte beigefügt, die ihr Vorbringen untermauern, wonach Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die bei den Behörden in den Transitzonen von Röszke und Tompa einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wollten, mehrere Monate warten mussten, weil es eine ständige und allgemeine, bis zum Ablauf der Frist in der mit Gründen versehenen Stellungnahme am 8. Februar 2018 fortbestehende Praxis der ungarischen Behörden gab, die darin bestand, die Einreise in diese beiden Transitzonen nur einer ganz begrenzten Zahl von Personen pro Tag zu gestatten.

115    So beschlossen die ungarischen Behörden nach einem der drei Berichte des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) schon im Oktober 2015, die Zahl der pro Tag gestatteten Einreisen in die Transitzonen von Röszke und Tompa zu begrenzen. Ferner geht aus diesen drei Berichten hervor, dass die Zahl der pro Tag gestatteten Einreisen in diese Transitzonen immer weiter reduziert wurde, so dass im Lauf des Jahres 2018 in jede von ihnen nur zwei Personen pro Tag einreisen durften. Insoweit ist hinzuzufügen, dass diese Berichte angesichts der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 137, Nr. 2545 [1954]) – das bei der Auslegung der Rechtsvorschriften der Union im Asylbereich zu beachten ist – übertragen wurde, besondere Relevanz haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Mai 2019, Bilali, C‑720/17, EU:C:2019:448, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

116    Überdies stimmen die Angaben in den genannten Berichten in weitem Umfang mit den Feststellungen in zwei der Klageschrift beigefügten und von der Kommission ebenfalls herangezogenen Berichten aus dem Jahr 2017 überein, die vom Sonderbeauftragten des Generalsekretärs des Europarats für Migration und Flüchtlinge und vom Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe erstellt wurden.

117    Darüber hinaus ergibt sich aus den der Klageschrift beigefügten Berichten des UNHCR, dass die Festlegung einer Höchstzahl der pro Tag zulässigen Einreisen in die Transitzonen von Röszke und Tompa durch die ungarischen Behörden zur Folge hatte, dass es für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die sich in Serbien nahe der serbisch-ungarischen Grenze aufhielten und in Ungarn internationalen Schutz beantragen wollten, eine immer längere Wartefrist gab, die im Februar 2018 mehr als elf Monate betrug.

118    Somit hat die Kommission einen hinreichend dokumentierten und detaillierten Nachweis dafür erbracht, dass es bei Ablauf der Frist in der mit Gründen versehenen Stellungnahme am 8. Februar 2018 eine ständige und allgemeine Praxis der ungarischen Behörden gab, die darin bestand, die Einreise in die Transitzonen von Röszke und Tompa systematisch so drastisch zu beschränken, dass es für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die aus Serbien einreisten und in Ungarn internationalen Schutz in Anspruch nehmen wollten, in der Praxis quasi unmöglich war, in Ungarn einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

119    Eine solche Verwaltungspraxis ist nicht mit den Anforderungen vereinbar, die sich aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 ergeben.

120    Keines der von Ungarn vorgetragenen Argumente kann dieses Ergebnis in Frage stellen.

121    Hierzu ist zunächst festzustellen, dass Ungarn zwar bestreitet, dass es Verwaltungsanweisungen gab, die auf eine Begrenzung der Zahl der Anträge auf internationalen Schutz abzielten, die pro Tag in den Transitzonen von Röszke und Tompa gestellt werden konnten.

122    Abgesehen davon, dass dieses Vorbringen in klarem Widerspruch zu den oben in den Rn. 115 und 116 erwähnten Berichten steht, hat Ungarn jedoch nicht in rechtlich hinreichender Weise erläutert, weshalb trotz des angeblichen Fehlens solcher Anweisungen Wartelisten erstellt worden waren – wie Ungarn einräumt –, um die Reihenfolge festzulegen, in der die in Serbien in unmittelbarer Nähe der Transitzonen von Röszke und Tompa befindlichen Personen, die in einer der Transitzonen einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wollten, dorthin einreisen durften.

123    Schon die bloße Existenz dieser Listen – unabhängig davon, dass die ungarischen Behörden nach den Angaben Ungarns weder an ihrer Erstellung mitwirkten noch Einfluss auf die darin festgelegte Reihenfolge des Zugangs zu den Transitzonen nahmen – ist als unabweisbare Konsequenz der oben in Rn. 118 konstatierten Praxis anzusehen.

124    Auch die Argumentation Ungarns, das allmähliche Verschwinden langer Warteschlangen vor dem Zugang zu den Transitzonen belege, dass es keine Beschränkung des Zugangs zu ihnen gegeben habe, greift nicht durch.

125    Es ist nämlich unstreitig, dass es in dem Landstreifen zwischen der serbisch-ungarischen Grenze und dem Eingangstor zu den Transitzonen von Röszke und Tompa keinerlei Infrastruktur gab, so dass es äußerst schwierig war, sich dort für längere Zeit aufzuhalten. Zudem lässt sich, wie die Kommission zutreffend hervorgehoben hat, den ihrer Klageschrift beigefügten Berichten entnehmen, dass die Warteschlangen vor dem Zugang zu beiden Transitzonen kürzer wurden, nachdem die oben in Rn. 122 angesprochenen Wartelisten zum Einsatz kamen, da nur die Personen mit einem entsprechenden Listenplatz von den serbischen Behörden am Tag, bevor sie in die Transitzone einreisen durften, in den Landstreifen zwischen der serbisch-ungarischen Grenze und dem Eingangstor zur betreffenden Transitzone gebracht wurden.

126    Folglich kann das Verschwinden langer Warteschlangen vor dem Eingang der Transitzonen von Röszke und Tompa die Feststellung, dass die ungarischen Behörden beschlossen hatten, den Zugang zu diesen Zonen drastisch zu beschränken, nicht in Frage stellen.

127    Schließlich kann, auch wenn es, worauf Ungarn hinweist, nach der Verordnung 2016/399 Sache der Mitgliedstaaten ist, u. a. für das ordnungsgemäße Überschreiten der Außengrenzen zu sorgen, die Beachtung einer solchen Pflicht keinen Verstoß der Mitgliedstaaten gegen Art. 6 der Richtlinie 2013/32 rechtfertigen.

128    Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit deren Art. 3 verstoßen hat, dass aus Serbien kommende Drittstaatsangehörige, die im ungarischen Hoheitsgebiet internationalen Schutz in Anspruch nehmen wollten, ihre Anträge auf internationalen Schutz nur in den Transitzonen von Röszke und Tompa stellen konnten und dass es eine ständige allgemeine Verwaltungspraxis gab, die Zahl von Antragstellern, die pro Tag in diese Transitzonen einreisen durften, drastisch zu beschränken.

 Zur zweiten und zur dritten, die Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, betreffenden Rüge

 Vorbringen der Parteien

–       Zur zweiten Rüge

129    Mit ihrer zweiten Rüge wirft die Kommission Ungarn vor, gegen Art. 24 Abs. 3 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32 verstoßen zu haben.

130    Zum einen hebt die Kommission erstens hervor, dass Art. 26 der Richtlinie 2013/32 den Grundsatz aufstelle, wonach eine Person, die internationalen Schutz beantrage, nicht allein deshalb in Haft genommen werden dürfe, weil sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Es sei zwar richtig, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 43 der Richtlinie insoweit Sonderregeln anwenden könnten, wenn sie Verfahren an der Grenze einführten, aber dann müssten sie die in Art. 43 vorgesehenen Anforderungen beachten. Mit dem Gesetz Nr. XX von 2017 seien jedoch neue, mit Art. 43 unvereinbare Bestimmungen erlassen worden.

131    So müsse – anders als Art. 43 es vorsehe – nach § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes das gesamte Verfahren zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz in der Transitzone durchgeführt werden.

132    Außerdem beschränke § 80/J Abs. 5 die Dauer des Verfahrens an der Grenze entgegen Art. 43 der Richtlinie 2013/32 nicht auf vier Wochen.

133    Zweitens würden auch die in Kapitel II der Richtlinie 2013/32 enthaltenen besonderen Verfahrensgarantien nicht eingehalten. So sei die „angemessene Unterstützung“ für Personen, die besondere Verfahrensgarantien benötigten, entgegen Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie während des in § 80/J des Asylgesetzes vorgesehenen Verfahrens nicht gewährleistet, denn durch das Gesetz Nr. XX von 2017 sei für den Fall einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation die Anwendung der Bestimmungen des Asylgesetzes ausgesetzt worden, nach denen auf Antragsteller, die besondere Verfahrensgarantien benötigten, die Verfahren an der Grenze keine Anwendung fänden.

134    § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes verpflichte die Antragsteller somit unter Verstoß gegen Art. 24 Abs. 3 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32, während der umfassenden Prüfung ihres Antrags länger als vier Wochen in der betreffenden Transitzone zu bleiben, ohne dass sich diese Prüfung auf die in Art. 33 der Richtlinie geregelten Fälle der Unzulässigkeit oder, in den Fällen ihres Art. 31 Abs. 8, auf eine inhaltliche Prüfung beschränke und ohne dass Personen, die im Sinne von Kapitel II der Richtlinie 2013/32 besondere Verfahrensgarantien benötigten, eine „angemessene Unterstützung“ erhielten.

135    Zum anderen gestatte Art. 72 AEUV den Mitgliedstaaten nicht, unter allgemeiner Berufung auf die Aufrecherhaltung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit die Anwendung des Unionsrechts zu verweigern.

136    Insoweit sei festzustellen, dass die durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation im ungarischen Hoheitsgebiet offenbar nicht für eine Übergangszeit festgestellt worden sei.

137    Überdies sei der Fall, dass eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantrage, vom Unionsgesetzgeber berücksichtigt worden, u. a. in Art. 6 Abs. 5, Art. 14 Abs. 1, Art. 31 Abs. 3 Buchst. b und Art. 43 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32, in Art. 10 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 sowie in Art. 18 der Richtlinie 2008/115. Diese Vorschriften sollten es den Mitgliedstaaten ermöglichen, in dringenden Fällen flexible Lösungen zu wählen und in gewissem Umfang von den allgemein geltenden Vorschriften abzuweichen. Folglich könne und müsse die durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation, auf die sich Ungarn berufe, im Rahmen des Unionsrechts bewältigt werden.

138    Ungarn entgegnet zum einen, die Verfahren in den Transitzonen würden in Anwendung der allgemeinen Regeln der Richtlinie 2013/32 durchgeführt, so dass sie nicht mit dem die Verfahren an der Grenze betreffenden Art. 43 dieser Richtlinie im Einklang stehen müssten.

139    Nach der Regelung, die bei Ablauf der Frist in der mit Gründen versehenen Stellungnahme in Kraft gewesen sei, seien die Transitzonen von Röszke und Tompa dem Wesen nach offene Aufnahmeeinrichtungen, die sich an der serbisch-ungarischen Grenze befänden und in denen das gesamte Verfahren zur Prüfung der Asylanträge stattfinde.

140    Was zum anderen die Beachtung von Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 angehe, werde in § 4 Abs. 3 des Asylgesetzes der Grundsatz aufgestellt, dass bei der Anwendung der Bestimmungen dieses Gesetzes die speziellen Bedürfnisse von Personen, die besonderer Behandlung bedürften, zu berücksichtigen seien. Infolgedessen achte die für Asylsachen zuständige Behörde ständig und während des gesamten Verfahrens auf die speziellen Bedürfnisse dieser Antragsteller. Ihre speziellen Bedürfnisse würden zudem in anderen Bestimmungen in spezifischerer Weise berücksichtigt.

141    Schließlich gestatte Art. 72 AEUV Ungarn jedenfalls, das Vorliegen einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation festzustellen und in einer solchen Situation abweichende Verfahrensregeln anzuwenden. Insoweit hätten sich die von der Kommission angeführten Bestimmungen des abgeleiteten Rechts als unzureichend erwiesen, um die seit der Krise im Jahr 2015 bestehende Situation in angemessener Weise zu bewältigen.

–       Zur dritten Rüge

142    Die Kommission wirft Ungarn vor, dadurch gegen die Verpflichtungen aus Art. 2 Buchst. h sowie den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 verstoßen zu haben, dass außer unbegleiteten Minderjährigen unter 14 Jahren alle Personen, die internationalen Schutz beantragten, für die gesamte Dauer des Verfahrens zur Prüfung ihres Antrags ohne Beachtung der insoweit vorgesehenen Garantien in Haft genommen würden.

143    Erstens führe der obligatorische Aufenthalt der Antragsteller in einer der Transitzonen von Röszke oder Tompa zu einer so weitgehenden Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit, dass er einer Haft im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 gleichzustellen sei.

144    Die Transitzonen seien nämlich geschlossene Orte, die die Antragsteller nur in Richtung Serbien verlassen könnten. Außerdem könne die für Asylsachen zuständige Behörde nach § 80/K Abs. 2 Buchst. d des Asylgesetzes das Verfahren einstellen, wenn der Antragsteller die betreffende Transitzone verlasse. Es stehe ihm daher nicht wirklich frei, diese Zone zu verlassen, denn damit würde er riskieren, dass die Prüfung seines Antrags eingestellt werde und er die Aussicht auf die Erlangung internationalen Schutzes verliere.

145    Ferner sei die von einer Person, die internationalen Schutz beantrage, in den Transitzonen verbrachte Zeit ein wichtiger Faktor für die Feststellung, ob der Aufenthalt in diesen Gebieten als Inhaftnahme angesehen werden könne. Die Vertreter der Kommission hätten vor Ort festgestellt, dass sich einige Antragsteller dort seit mehr als 14 Monaten aufgehalten hätten.

146    Zweitens sei eine solche Inhaftnahme unvereinbar mit Art. 26 der Richtlinie 2013/32 sowie mit Art. 8 Abs. 2 und 3, Art. 9 und Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33, denn sie erfolge generell, systematisch, ohne individuelle Beurteilung und ohne schriftliche und mit Gründen versehene Entscheidung; dies gelte auch für Minderjährige mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger unter 14 Jahren.

147    § 80/I des Asylgesetzes schließe zwar für den Fall einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation die Anwendung der nationalen Bestimmungen zur Umsetzung der unionsrechtlichen Vorschriften über die Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragten, nicht aus, doch seien diese nationalen Bestimmungen in einer solchen Situation nicht relevant, da sich dann alle Antragsteller gemäß § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes in einer der beiden Transitzonen aufhalten müssten.

148    Ungarn hält dem entgegen, die Transitzonen seien keine Orte der Inhaftnahme, sondern der Sache nach Aufnahmeeinrichtungen im ungarischen Hoheitsgebiet an der Außengrenze des Schengen-Raums, die zu dem Ort bestimmt worden seien, an dem das Asylverfahren im Einklang mit dem Unionsrecht durchgeführt werde.

149    Eine Person, die in das ungarische Hoheitsgebiet einreisen wolle, könne eine Grenzübergangsstelle außerhalb der Transitzonen nutzen, wenn sie im Besitz gültiger Dokumente sei. Überdies seien die Transitzonen nur in Richtung Ungarn geschlossen, um die Außengrenze des Schengen-Raums zu schützen, während es den Personen, die sich dort aufhielten, freistehe, sie in Richtung Serbien zu verlassen. Ferner seien weder die Dauer des Aufenthalts in einer Aufnahmeeinrichtung noch die dort herrschenden Bedingungen zu berücksichtigen, um zu ermitteln, ob der dortige Aufenthalt einer Inhaftnahme geleichgestellt werden könne.

150    Im Übrigen seien Antragsteller, die eine Transitzone verließen, nicht zwangsläufig nachteiligen Folgen ausgesetzt. § 80/K Abs. 2 Buchst. d des Asylgesetzes sehe nämlich in einem solchen Fall vor, dass die für Asylsachen zuständige Behörde auf der Grundlage der ihr vorliegenden Informationen entscheide oder das Verfahren einstelle. Folglich könne diese Behörde auch in Abwesenheit des Antragstellers über den Antrag auf internationalen Schutz entscheiden und ihm gegebenenfalls stattgeben.

151    Darüber hinaus führe die Stellung eines Asylantrags nicht automatisch zu einem systematischen Freiheitsentzug, da nach § 80/J Abs. 1 Buchst. c des Asylgesetzes derjenige, der sich rechtmäßig im ungarischen Hoheitsgebiet aufhalte, seinen Antrag jederzeit einreichen könne, ohne sich in eine der Transitzonen begeben oder dort bleiben zu müssen.

152    Daneben sei § 80/J Abs. 1 Buchst. b des Asylgesetzes zu berücksichtigen, der speziell die Stellung von Asylanträgen durch inhaftierte Personen betreffe. Spezielle Vorschriften über die Inhaftnahme und die Aufrechterhaltung der Haft seien in den §§ 31/A bis 31/I des Asylgesetzes enthalten und gewährleisteten in vollem Umfang die Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2013/33.

153    Die Vertreter der Kommission hätten nur die Transitzone von Röszke besucht, und es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die von ihnen bei dieser Gelegenheit befragten Personen keinen internationalen Schutz beantragt hätten, sondern Gegenstand eines ausländerpolizeilichen Verfahrens gewesen seien.

154    Schließlich treffe die für Asylsachen zuständige Behörde in allen Fällen eine Entscheidung über die Unterbringung in der fraglichen Transitzone als Aufenthaltsort des Betroffenen für die Dauer des Verfahrens im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33, und diese Entscheidung könne angefochten werden. Der individuelle Charakter der Unterbringung und Betreuung des Betroffenen komme im Übrigen darin zum Ausdruck, dass die Antragsteller nach Nationalitäten auf die Unterkünfte verteilt würden, sowie im Angebot einer speziellen Ernährung und in der Bereitstellung von Mobiliar und Gesundheitsleistungen, insbesondere in Form psychologischer Betreuung.

 Würdigung durch den Gerichtshof

155    Mit ihrer zweiten und ihrer dritten Rüge, die zusammen zu prüfen sind, wirft die Kommission Ungarn im Wesentlichen vor, dadurch gegen Art. 24 Abs. 3 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32 sowie Art. 2 Buchst. h und die Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 verstoßen zu haben, dass in den Transitzonen von Röszke und Tompa ein allgemeines System der Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragten, geschaffen worden sei, ohne die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Bedingungen und Garantien zu beachten.

156    Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es entgegen dem Vorbringen Ungarns im Rahmen der Prüfung der vorliegenden Klage irrelevant ist, dass diese beiden Transitzonen im Anschluss an das Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367), geschlossen wurden. Wie oben in Rn. 68 ausgeführt, ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung nämlich anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission gesetzt wurde, hier also am 8. Februar 2018.

–       Zum Vorliegen einer Inhaftnahme in den Transitzonen von Röszke und Tompa

157    Nach § 80/J Abs. 1, 5 und 6 des Asylgesetzes muss jeder, der internationalen Schutz beantragt und nicht bereits über einen Aufenthaltstitel für das ungarische Hoheitsgebiet verfügt, während der gesamten Prüfung seines Antrags und gegebenenfalls während des gerichtlichen Verfahrens wegen der Klage gegen eine etwaige Ablehnung des Antrags in einer der beiden Transitzonen von Röszke und Tompa bleiben, es sei denn, es handelt sich um einen unbegleiteten Minderjährigen unter 14 Jahren oder um eine Person, die bereits Gegenstand einer Haftmaßnahme oder einer Maßnahme zur Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit im Sinne von § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes ist.

158    Ungarn wendet sich jedoch gegen das Vorbringen der Kommission, dass eine solche Pflicht, in einer der beiden Transitzonen zu bleiben, eine Haft im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 darstelle.

159    Hierzu ist festzustellen, dass die Haft einer Person, die internationalen Schutz beantragt, im Sinne dieser Bestimmung ein eigenständiger unionsrechtlicher Begriff ist, unter dem jede Zwangsmaßnahme zu verstehen ist, mit der dem Antragsteller seine Bewegungsfreiheit entzogen und er vom Rest der Bevölkerung isoliert wird, indem er dazu gezwungen wird, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 223).

160    Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Klageschrift sowie den ihr beigefügten Unterlagen, dass Personen, die internationalen Schutz beantragt haben und sich in der Transitzone von Röszke oder Tompa aufhalten, dauerhaft in der betreffenden Transitzone bleiben müssen, die abgeschlossen und mit Stacheldraht eingezäunt ist. Sie sind in Containern mit einer Grundfläche von nicht mehr als 13 m2 untergebracht. Sie dürfen, abgesehen von ihrem Rechtsbeistand, keinen Kontakt zu Personen außerhalb der betreffenden Transitzone aufnehmen, und ihre Bewegungsmöglichkeiten innerhalb der Transitzone sind beschränkt und werden von Sicherheitskräften überwacht, die ständig in der Transitzone und deren unmittelbarer Umgebung präsent sind.

161    Ungarn bestreitet diese Gegebenheiten nicht.

162    Wie der Generalanwalt in Nr. 134 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, folgt daraus, dass sich die Unterbringung von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in den Transitzonen von Röszke und Tompa nicht von einer Haftregelung unterscheidet.

163    Das Vorbringen Ungarns, es stehe den Antragstellern frei, die betreffende Transitzone in Richtung Serbien zu verlassen, kann diese Beurteilung nicht in Frage stellen.

164    Zum einen ist nämlich – ohne dass der Gerichtshof im Rahmen der vorliegenden Rechtssache über die Vereinbarkeit des Verhaltens der serbischen Behörden mit dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Serbien über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt im Anhang des Beschlusses 2007/819/EG des Rates vom 8. November 2007 (ABl. 2007, L 334, S. 45) zu entscheiden hätte – festzustellen, dass eine etwaige Einreise der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, nach Serbien von diesem Drittstaat höchstwahrscheinlich als rechtswidrig angesehen würde, so dass sie mit Sanktionen rechnen müssten. Insbesondere aus diesem Grund kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass Personen, die internationalen Schutz beantragt haben und sich in den Transitzonen von Röszke und Tompa aufhalten, tatsächlich die Möglichkeit hätten, diese Transitzonen zu verlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 229).

165    Zum anderen liefen die Antragsteller Gefahr, jede Aussicht auf Erlangung des Flüchtlingsstatus in Ungarn zu verlieren, wenn sie das ungarische Hoheitsgebiet verließen. Nach § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes können sie einen neuen Asylantrag nämlich nur in einer dieser beiden Transitzonen stellen. Außerdem ergibt sich aus § 80/K Abs. 2 und 4 des Asylgesetzes, dass die für Asylsachen zuständige Behörde beschließen kann, das Verfahren des internationalen Schutzes zu beenden, wenn der Asylbewerber eine der beiden Transitzonen verlässt, und dass eine solche Entscheidung nicht im Verwaltungsrechtsweg anfechtbar ist (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 230).

166    Folglich ist die aus § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes resultierende Pflicht der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zum Aufenthalt in den Transitzonen von Röszke und Tompa als Haft im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 anzusehen.

–       Zur Vereinbarkeit der Inhaftnahme in den Transitzonen von Röszke und Tompa mit den Anforderungen der Richtlinien 2013/32 und 2013/33

167    Die Kommission wirft Ungarn erstens vor, ein System der Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragten, in den Transitzonen von Röszke und Tompa geschaffen zu haben, das die in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfülle und aus keinem der in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33 genannten Gründe gerechtfertigt sei.

168    Nach ständiger Rechtsprechung wird in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33 erschöpfend aufgezählt, aus welchen verschiedenen Gründen die Inhaftnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gerechtfertigt sein kann. Jeder dieser Gründe entspricht einem besonderen Bedürfnis und hat autonomen Charakter (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 250 und die dort angeführte Rechtsprechung).

169    Im 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 heißt es zwar, dass sie andere von den Mitgliedstaaten vorgesehene Haftgründe – einschließlich der Haftgründe im Rahmen eines Strafverfahrens – unberührt lässt, wenn diese vom Status als Person, die internationalen Schutz beantragt, unabhängig sind, doch beruht im vorliegenden Fall das durch § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes geschaffene System der Inhaftnahme nicht auf einem vom Status der Antragsteller unabhängigen Grund.

170    Daher ist zu prüfen, ob in den Fällen des oben in Rn. 157 beschriebenen Kreises von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, die Tatsache, dass sie bei ihrer Ankunft im ungarischen Hoheitsgebiet in den Transitzonen von Röszke und Tompa in Haft genommen werden, unter zumindest einen der in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33 aufgeführten Gründe fällt.

171    Insoweit ist auszuschließen, dass eine solche Inhaftnahme aus einem der in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. d bis f genannten Gründe gerechtfertigt sein kann.

172    Was zum einen den in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 genannten Haftgrund angeht, ist nämlich unstreitig, dass der oben in Rn. 157 beschriebene Kreis von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in den Transitzonen von Röszke und Tompa in Haft genommen wird, ohne dass zuvor festgestellt wurde, dass ihr individuelles Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder die innere oder äußere Sicherheit Ungarns berührt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 67).

173    Zum anderen ist hinsichtlich der in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. d und f der Richtlinie 2013/33 genannten Haftgründe ebenfalls unstreitig, dass die Antragsteller in den Transitzonen von Röszke oder Tompa bleiben müssen, obwohl sie sich nicht aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Haft befinden und obwohl keine Entscheidung gemäß Art. 28 der Verordnung Nr. 604/2013 ergangen ist.

174    Ferner kann eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, zwar nach Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 insbesondere in unmittelbarer Nähe der Grenzen eines Mitgliedstaats in Haft genommen werden, um ihre Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen oder um Beweise zu sichern, auf die sich ihr Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären.

175    Auch wenn das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems es erfordert, dass die zuständigen nationalen Behörden über verlässliche Informationen bezüglich der Identität oder Staatsangehörigkeit der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, und bezüglich der Beweise, auf die sich ihr Antrag stützt, verfügen, kann ein solches Ziel es jedoch nicht rechtfertigen, dass Haftmaßnahmen beschlossen werden, ohne dass die nationalen Behörden zuvor im Einzelfall geprüft haben, ob die Maßnahmen in angemessenem Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen; eine solche Prüfung muss sich insbesondere darauf erstrecken, ob die Inhaftnahme nur als letztes Mittel eingesetzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2017, K., C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 48).

176    Ungarn bestreitet aber nicht, dass das durch § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes geschaffene Haftsystem für Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, keine individuelle Prüfung der Verhältnismäßigkeit ihrer Inhaftnahme im Hinblick auf das verfolgte Ziel vorsieht, das darin besteht, ihre Identität oder Staatsangehörigkeit zu überprüfen oder Beweise zu sichern, auf die sich ihr Antrag stützt.

177    Daher bleibt schließlich noch zu prüfen, ob das durch § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes geschaffene Haftsystem nach Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2013/33 gerechtfertigt sein kann, der vorsieht, dass ein Mitgliedstaat eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in Haft nehmen darf, um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in sein Hoheitsgebiet zu entscheiden.

178    Insoweit ist zunächst festzustellen, dass sich die von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. c erfasste Fallgruppe auf Haftsysteme erstreckt, die von den Mitgliedstaaten eingeführt werden, wenn sie beschließen, Verfahren an der Grenze im Sinne von Art. 43 der Richtlinie 2013/32 anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 237 und 238).

179    Art. 43 der Richtlinie 2013/32 ermächtigt die Mitgliedstaaten nämlich, Personen, die an der Grenze internationalen Schutz beantragen, unter den dort genannten Voraussetzungen und zur Gewährleistung der Wirksamkeit der dort vorgesehenen Verfahren in Haft im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 zu nehmen, bevor sie ihnen die Einreise in ihr Hoheitsgebiet gestatten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 237 und 239).

180    Auch wenn Ungarn förmlich bestreitet, dass die in den Transitzonen von Röszke und Tompa gemäß § 80/J des Asylgesetzes durchgeführten Verfahren zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz Verfahren an der Grenze im Sinne von Art. 43 der Richtlinie 2013/32 sind, darf der Gerichtshof daher im Rahmen seiner Prüfung der Vereinbarkeit der ungarischen Regelung mit Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2013/33 – dem einzigen in dieser Bestimmung aufgeführten Grund, der das durch § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes geschaffene Haftsystem zu rechtfertigen vermag – nicht außer Acht lassen, ob Art. 43 der Richtlinie 2013/32 eingehalten wurde.

181    Sodann ist hervorzuheben, dass nach Art. 43 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 die Dauer einer auf diesem Artikel beruhenden Haft einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, keinesfalls vier Wochen ab der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 überschreiten darf. Art. 43 Abs. 3 gestattet den Mitgliedstaaten lediglich, unter den dort genannten Umständen die Verfahren an der Grenze über die Frist von vier Wochen hinaus fortzusetzen, sofern die Antragsteller unter normalen Bedingungen in der Nähe der betreffenden Grenze oder Transitzone untergebracht werden; dies schließt die Möglichkeit aus, sie weiter in Gewahrsam zu behalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 241 bis 245).

182    Die einschlägige ungarische Regelung enthält jedoch keine Bestimmung, aus der hervorgeht, dass sich die Inhaftnahme der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in den Transitzonen von Röszke und Tompa auf die Dauer von vier Wochen ab der Stellung ihres Antrags beschränkt.

183    Zudem ergibt sich aus Art. 43 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32, dass eine auf dieser Bestimmung beruhende Inhaftnahme nur gerechtfertigt ist, damit der betreffende Mitgliedstaat prüfen kann, ob ein Antrag auf internationalen Schutz gemäß Art. 33 der Richtlinie 2013/32 unzulässig oder aus einem der in Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie aufgeführten Gründe als unbegründet abzulehnen ist, bevor er dem Antragsteller die Einreise in sein Hoheitsgebiet gestattet.

184    Wie oben in Rn. 157 ausgeführt, müssen Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, aber während der gesamten Prüfung ihres Antrags sowie während des gerichtlichen Verfahrens wegen der Klage gegen eine etwaige Ablehnung des Antrags in den Transitzonen von Röszke und Tompa bleiben und nicht nur, damit geprüft werden kann, ob ihre Anträge aus einem der in der vorstehenden Randnummer genannten Gründe abgelehnt werden können.

185    Folglich entspricht das durch § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes geschaffene Haftsystem nicht den in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 aufgestellten Bedingungen und kann daher im vorliegenden Fall nicht auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2013/33 gerechtfertigt werden.

186    Aus alledem folgt, dass § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes die Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, unter anderen als den in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Voraussetzungen und in anderen als den in Art. 8 der Richtlinie 2013/33 abschließend aufgezählten Fällen der Zulässigkeit einer solchen Inhaftnahme vorsieht.

187    Zweitens wirft die Kommission Ungarn vor, gegen Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 verstoßen zu haben, weil die „angemessene Unterstützung“ für Personen, die internationalen Schutz beantragten und besondere Verfahrensgarantien benötigten, im Sinne dieser Bestimmung während des in den Transitzonen von Röszke und Tompa durchgeführten Verfahrens nicht gewährleistet sei.

188    Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 unter einem „Antragsteller, der besondere Verfahrensgarantien benötigt“, ein Antragsteller zu verstehen ist, dessen Fähigkeit, die Rechte aus dieser Richtlinie in Anspruch nehmen und den sich aus ihr ergebenden Pflichten nachkommen zu können, aufgrund individueller Umstände eingeschränkt ist. Wie aus dem 29. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, gehören zu diesen Umständen das Alter des Betroffenen, sein Geschlecht, seine sexuelle Ausrichtung, seine Geschlechtsidentität, eine Behinderung, eine schwere Erkrankung, eine psychische Störung sowie die Folgen von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schweren Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt.

189    Wie sich aus den Art. 21 und 22 der Richtlinie 2013/33 ergibt, bedürfen diese Antragsteller aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit während des gesamten Asylverfahrens besonderer Berücksichtigung durch die Mitgliedstaaten, namentlich in Bezug auf die Bedingungen ihrer Aufnahme im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats während dieses Verfahrens.

190    Wie speziell aus Art. 11 der Richtlinie hervorgeht, ist die Inhaftnahme von Antragstellern, die besondere Verfahrensgarantien benötigen, zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, doch ist ihre Gesundheit, insbesondere ihre psychische Gesundheit, im Fall ihrer Inhaftnahme ein vorrangiges Anliegen der Mitgliedstaaten, die dafür Sorge tragen müssen, dass bei diesen Personen regelmäßige Überprüfungen stattfinden und dass sie „in angemessener Weise unterstützt werden“, wobei ihrer besonderen Situation Rechnung zu tragen ist.

191    Im Hinblick darauf sieht Art. 24 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32 vor, dass die Mitgliedstaaten, wenn die angemessene Unterstützung für Antragsteller, die besondere Verfahrensgarantien benötigen, im Rahmen eines Verfahrens an der Grenze im Sinne von Art. 43 der Richtlinie nicht geleistet werden kann, dieses Verfahren nicht oder nicht mehr anwenden.

192    Somit müssen die nationalen Behörden nach einer individuellen Prüfung dafür Sorge tragen, dass die Inhaftnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat und besondere Verfahrensgarantien benötigt, auf der Grundlage von Art. 43 der Richtlinie 2013/32 sie nicht der angemessenen Unterstützung beraubt, auf die sie im Rahmen der Prüfung ihres Antrags Anspruch hat.

193    Im vorliegenden Fall macht Ungarn geltend, mehrere Bestimmungen der einschlägigen ungarischen Regelung dienten dazu, den speziellen Bedürfnissen aller Personen, die internationalen Schutz beantragt hätten und besondere Verfahrensgarantien benötigten, im Sinne von Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 Rechnung zu tragen.

194    So bestimme § 4 Abs. 3 des Asylgesetzes, dass die Behörden bei Antragstellern, die besonderer Behandlung bedürften, deren spezielle Bedürfnisse berücksichtigen müssten. Desgleichen sähen die §§ 29 und 30 des Asylgesetzes vor, dass den speziellen Bedürfnissen dieser Antragsteller bei der Gewährleistung ihrer Aufnahmebedingungen Rechnung zu tragen sei sowie dann, wenn die zuständige Behörde die Inanspruchnahme der materiellen Aufnahmevoraussetzungen einschränke oder versage.

195    Ferner ergebe sich aus § 33 Abs. 1 und 2 des Regierungsdekrets 301/2007, dass die für Asylsachen zuständige Behörde dafür sorgen müsse, dass ein Antragsteller, der besondere Verfahrensgarantien benötige, in der Aufnahmeeinrichtung gesondert und, soweit möglich, unter Wahrung der Einheit seiner Familie untergebracht werde. Überdies gehe aus § 34 dieses Dekrets hervor, dass ein solcher Antragsteller bei Bedarf das Recht auf kostenlosen Zugang zu Gesundheitsleistungen, einschließlich psychologischer Betreuung, habe.

196    Gleichwohl räumt Ungarn ein, dass sich seit dem Inkrafttreten von § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes alle Personen, die internationalen Schutz beantragt haben und besondere Verfahrensgarantien benötigen, mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger unter 14 Jahren und derjenigen, die bereits über einen Aufenthaltstitel für das ungarische Hoheitsgebiet verfügen oder Gegenstand einer anderen Haftmaßnahme oder Maßnahme zur Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit sind, während des gesamten Verfahrens zur Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz sowie gegebenenfalls während des gerichtlichen Verfahrens wegen ihrer Klage gegen eine Ablehnung dieses Antrags in den Transitzonen von Röszke und Tompa aufhalten müssen.

197    Zudem geht aus keiner der von Ungarn angeführten nationalen Bestimmungen hervor, dass die zuständigen ungarischen Behörden prüfen müssen, ob eine solche Inhaftnahme mit dem in Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 aufgestellten Erfordernis einer angemessenen Unterstützung schutzbedürftiger Antragsteller während des genannten Zeitraums vereinbar ist.

198    Eine solche Haftregelung ist unvereinbar mit dem aus Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 resultierenden Erfordernis, den speziellen Bedürfnissen dieser Gruppen von Antragstellern Rechnung zu tragen.

199    Wie oben in den Rn. 191 und 192 hervorgehoben worden ist, steht Art. 24 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32 nämlich dem entgegen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat und besondere Verfahrensgarantien benötigt, automatisch auf der Grundlage von Art. 43 der Richtlinie 2013/32 in Haft genommen wird, ohne dass zuvor geprüft worden wäre, ob die Inhaftnahme sie nicht der angemessenen Unterstützung beraubt, auf die sie Anspruch hat. Daraus, dass die durch § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes geschaffene Haftregelung die Grenzen überschreitet, innerhalb deren Art. 43 der Richtlinie 2013/32 die Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, gestattet (siehe oben, Rn. 181 bis 185), folgt, dass es erst recht nicht mit Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 im Einklang steht, wenn eine solche Haftregelung auf alle Antragsteller, die besondere Verfahrensgarantien benötigen – mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger unter 14 Jahren und derjenigen, die bereits über einen Aufenthaltstitel für das ungarische Hoheitsgebiet verfügen oder Gegenstand einer anderen Haftmaßnahme oder Maßnahme zur Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit sind –, angewandt wird, ohne zu prüfen, ob ihre Inhaftnahme mit ihren speziellen Bedürfnissen vereinbar ist.

200    Drittens wirft die Kommission Ungarn vor, dadurch gegen Art. 11 der Richtlinie 2013/33 verstoßen zu haben, dass alle Minderjährigen, die internationalen Schutz beantragt hätten, mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger unter 14 Jahren während der gesamten Dauer des Verfahrens zur Prüfung ihres Antrags in den Transitzonen von Röszke und Tompa in Haft genommen würden.

201    Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 bestimmt u. a., dass Minderjährige nur im äußersten Falle in Haft genommen werden dürfen, nachdem festgestellt worden ist, dass weniger einschneidende alternative Maßnahmen nicht wirksam angewandt werden können.

202    Der Schutz, der damit speziell Minderjährigen gewährt wird, vervollständigt die allgemeineren Garantien in Art. 11 für alle Antragsteller, die besondere Aufnahmebedingungen benötigen.

203    Ungarn bestreitet nicht, dass alle Minderjährigen, die internationalen Schutz beantragt haben, mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger unter 14 Jahren in einer der beiden Transitzonen von Röszke oder Tompa bleiben müssen, bis die Prüfung ihres Antrags abgeschlossen ist, sowie gegebenenfalls bis zum Ende des gerichtlichen Verfahrens wegen ihrer Klage gegen eine Ablehnung dieses Antrags, es sei denn, sie sind Gegenstand einer anderen Haftmaßnahme oder Maßnahme zur Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit oder verfügen bereits über einen Aufenthaltstitel für das ungarische Hoheitsgebiet; dies ist unvereinbar mit den speziellen Garantien, die sich aus Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 ergeben.

204    Viertens wirft die Kommission Ungarn vor, gegen Art. 9 der Richtlinie 2013/33 verstoßen zu haben, weil die Inhaftnahme der Personen, die internationalen Schutz beantragt hätten, in den Transitzonen von Röszke und Tompa nicht schriftlich angeordnet werde und es dem Antragsteller nicht ermögliche, die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft zu erfahren.

205    Nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 wird die Haft einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet, wobei in der Anordnung die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft anzugeben sind.

206    Ungarn macht geltend, die für Asylsachen zuständige Behörde treffe in allen Fällen eine Entscheidung über die Unterbringung in der betreffenden Transitzone als Aufenthaltsort der Person, die internationalen Schutz beantragt habe, für die Dauer des Verfahrens zur Prüfung ihres Antrags.

207    Dieses Vorbringen wird jedoch nicht durch Bezugnahme auf eine Bestimmung der einschlägigen nationalen Regelung gestützt. Überdies ist es zwar richtig, dass nach § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes die für Asylsachen zuständige Behörde dem Antragsteller die betreffende Transitzone als Aufenthaltsort zuweist, doch geht aus ihm nicht hervor, dass eine solche Anordnung schriftlich erfolgen und mit einer den Anforderungen von Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 genügenden Begründung versehen sein muss.

208    Folglich hat die Kommission in rechtlich hinreichender Weise dargetan, dass Ungarn die Anforderungen von Art. 9 der Richtlinie 2013/33 nicht erfüllt hat.

209    Nach alledem hat Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 24 Abs. 3 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32 sowie aus den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 verstoßen.

210    Dagegen hat die Kommission nicht dargelegt, aus welchen Gründen Ungarn gegen Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 verstoßen haben soll, da dort lediglich der Begriff „Haft“ im Sinne dieser Richtlinie definiert wird.

211    Insoweit ist klarzustellen, dass der Umstand, dass Ungarn in den Transitzonen von Röszke und Tompa für andere Fälle als die, in denen die Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, unionsrechtlich zulässig ist, ein Haftsystem eingeführt hat, ohne die unionsrechtlich vorgesehenen Garantien für eine Inhaftnahme zu beachten, nicht als Nachweis dafür ausreicht, dass dieser Mitgliedstaat die Definition des Begriffs „Haft“ in Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 nicht oder mangelhaft umgesetzt hat.

–       Zu Art. 72 AEUV

212    Nach Art. 72 AEUV berühren die Bestimmungen von Titel V des AEU-Vertrags, der den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betrifft, nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.

213    Wie oben in Rn. 141 dargelegt, macht Ungarn geltend, dass Art. 72 AEUV die Mitgliedstaaten ermächtige, von den gemäß Art. 78 AEUV erlassenen Unionsvorschriften im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz abzuweichen, wenn die Einhaltung dieser Vorschriften die Mitgliedstaaten daran hindere, eine durch einen Massenzustrom von Personen, die internationalen Schutz beantragten, gekennzeichnete Notlage angemessen zu bewältigen. Daraus folge im vorliegenden Fall insbesondere, dass die nationalen Vorschriften für die Verfahren in den Transitzonen von Röszke und Tompa von Art. 24 Abs. 3 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32 abweichen dürften.

214    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten ist, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die öffentliche Ordnung in ihrem Hoheitsgebiet sowie ihre innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten, doch bedeutet dies nicht, dass solche Maßnahmen der Anwendung des Unionsrechts völlig entzogen wären. Der AEU-Vertrag sieht nämlich, wie der Gerichtshof entschieden hat, ausdrückliche Abweichungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit nur in seinen Art. 36, 45, 52, 65, 72, 346 und 347 vor, die ganz bestimmte außergewöhnliche Fälle betreffen. Aus ihnen lässt sich kein allgemeiner, dem AEU-Vertrag immanenter Vorbehalt ableiten, der jede zur Wahrung der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit getroffene Maßnahme vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnähme. Würde ein solcher Vorbehalt unabhängig von den besonderen Tatbestandsmerkmalen der Bestimmungen des AEU-Vertrags anerkannt, könnte dies die Verbindlichkeit und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts beeinträchtigen (Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 143 und die dort angeführte Rechtsprechung).

215    Außerdem ist die in Art. 72 AEUV vorgesehene Ausnahme eng auszulegen, wie es u. a. bei den in den Art. 346 und 347 AEUV vorgesehenen Ausnahmen ständiger Rechtsprechung entspricht. Daraus folgt, dass Art. 72 AEUV nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er die Mitgliedstaaten ermächtigt, durch bloße Berufung auf ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit von den Bestimmungen des Unionsrechts abzuweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 144 und 145 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

216    Die Tragweite der Erfordernisse bezüglich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit kann daher nicht einseitig von jedem Mitgliedstaat ohne Kontrolle durch die Unionsorgane bestimmt werden. Folglich obliegt dem Mitgliedstaat, der sich auf Art. 72 AEUV beruft, der Nachweis, dass eine Inanspruchnahme der in diesem Artikel geregelten Ausnahme erforderlich ist, um seine Zuständigkeiten im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit wahrzunehmen (Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 146 und 147).

217    Erstens ist jedoch festzustellen, dass sich Ungarn im Rahmen der vorliegenden Klage lediglich allgemein auf die Gefahr von Störungen der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit durch einen Massenzustrom von Personen, die internationalen Schutz beantragen, berufen hat, ohne in rechtlich hinreichender Weise darzutun, dass es angesichts der Lage, die in seinem Hoheitsgebiet bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme am 8. Februar 2018 bestand, erforderlich war, speziell von Art. 24 Abs. 3 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32 abzuweichen.

218    Es trifft zwar zu, dass sich Ungarn zur Stützung seines die erste Rüge betreffenden Verteidigungsvorbringens darauf berufen hat, dass im Jahr 2018 im Zusammenhang mit der illegalen Einwanderung eine erhebliche Zahl von Straftaten begangen worden sei, doch fehlt es an Angaben dazu, welche Auswirkungen sie bis zum 8. Februar 2018 auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit im ungarischen Hoheitsgebiet gehabt haben sollen. Ungarn gibt auch nicht an, inwiefern eine Abweichung von Art. 24 Abs. 3 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32 in Anbetracht einer solchen Zahl von Straftaten geboten gewesen sein soll, um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit zu gewährleisten.

219    Vielmehr ist festzustellen, dass nach den eigenen Angaben dieses Mitgliedstaats die meisten der betreffenden Straftaten im Zusammenhang mit regelwidriger Einreise und regelwidrigem Aufenthalt im ungarischen Hoheitsgebiet standen. § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes schreibt aber die Inhaftnahme von Personen vor, die ohne den Versuch einer illegalen Einreise nach Ungarn internationalen Schutz beantragt haben und deren Aufenthalt im ungarischen Hoheitsgebiet aufgrund ihrer Eigenschaft als Antragsteller nicht als regelwidrig angesehen werden kann.

220    Folglich hat Ungarn nicht dargetan, inwiefern es wegen der angeführten Straftaten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit erforderlich gewesen sein soll, in der in § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes vorgesehenen Weise von den Garantien abzuweichen, die für die Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, nach Art. 24 Abs. 3 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32 gelten.

221    Zweitens ist hervorzuheben, dass der Unionsgesetzgeber der Wahrnehmung der Zuständigkeiten, über die die Mitgliedstaaten nach Art. 72 AEUV verfügen, gebührend Rechnung getragen hat, indem er ihnen in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 gestattet hat, Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in Haft zu nehmen, wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist; dies setzt jedoch, wie oben in Rn. 172 ausgeführt, den Nachweis voraus, dass das individuelle Verhalten des Antragstellers eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats berührt.

222    Überdies hat der Unionsgesetzgeber, wie die Kommission hervorhebt, beim Erlass der Richtlinien 2013/32 und 2013/33 auch dem Fall Rechnung getragen, dass ein Mitgliedstaat einen ganz erheblichen Anstieg der Zahl von Personen, die internationalen Schutz beantragen, bewältigen muss.

223    So gestatten es u. a. Art. 10 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33, teilweise von den Bestimmungen der Richtlinie abzuweichen, wenn die Aufnahmekapazitäten der Hafteinrichtungen oder die Unterbringungskapazitäten der Aufnahmeeinrichtungen erschöpft sind.

224    Ferner ist festzustellen, dass Art. 43 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 es ermöglicht, im Fall eines Massenzustroms von Personen, die internationalen Schutz beantragen, an den Grenzen eines Mitgliedstaats oder in seinen Transitzonen die in Art. 43 geregelten Verfahren an der Grenze über die in dessen Abs. 2 vorgesehene Frist von vier Wochen hinaus fortzuführen, unter Beschränkung der Bewegungsfreiheit dieser Personen gemäß Art. 7 der Richtlinie 2013/33 auf ein Gebiet in der Nähe der Grenzen oder Transitzonen des Mitgliedstaats (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 247).

225    Folglich kann sich Ungarn im Rahmen der vorliegenden Klage nicht auf Art. 72 AEUV berufen, um den Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus Art. 24 Abs. 3 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32 zu rechtfertigen.

226    Nach alledem hat Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 24 Abs. 3 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32 sowie den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 verstoßen, dass ein allgemeines System der Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in den Transitzonen von Röszke und Tompa geschaffen wurde, ohne die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Garantien zu beachten.

 Zur vierten, die Abschiebung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger betreffenden Rüge

 Vorbringen der Parteien

227    Die Kommission wirft Ungarn vor, in § 5 Abs. 1ter des Gesetzes über die Staatsgrenzen gestattet zu haben, dass in einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation Drittstaatsangehörige, die sich illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhielten, zwangsweise in einen Landstreifen ohne jede Infrastruktur verbracht würden, der sich zwischen einem Grenzzaun auf ungarischem Hoheitsgebiet und der eigentlichen Grenze zwischen Serbien und Ungarn befinde, ohne dass die in Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 festgelegten Verfahren und Garantien eingehalten würden.

228    Erstens trete § 5 Abs. 1ter des Gesetzes über die Staatsgrenzen an die Stelle von § 5 Abs. 1bis dieses Gesetzes, wenn eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation festgestellt werde, und betreffe alle Drittstaatsangehörigen, die sich illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhielten. Ungarn könne sich daher nicht auf die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Ausnahme von ihrem Anwendungsbereich berufen.

229    Zweitens habe ein Drittstaatsangehöriger, der zwar nicht bis an die eigentliche Grenze, aber zu einem schmalen Grenzstreifen auf ungarischem Hoheitsgebiet begleitet werde, auf dem sich keinerlei Infrastruktur befinde und von dem aus keine Möglichkeit bestehe, sich in das übrige ungarische Hoheitsgebiet – abgesehen von den Transitzonen von Röszke und Tompa – zu begeben, angesichts der langen Wartezeit bis zur Einreise in eine dieser Transitzonen praktisch keine andere Wahl, als das ungarische Hoheitsgebiet zu verlassen.

230    Bei der in § 5 Abs. 1ter des Gesetzes über die Staatsgrenzen vorgesehenen Maßnahme handele es sich mithin um eine „Abschiebung“ im Sinne von Art. 3 Nr. 5 der Richtlinie 2008/115, auch wenn keine tatsächliche Verbringung aus dem Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats stattfinde.

231    Die Abschiebung der illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen erfolge, ohne dass ihnen gegenüber eine Rückkehrentscheidung erlassen werde, wahllos, ohne Berücksichtigung des Kindeswohls, der familiären Bindungen und des Gesundheitszustands des Betroffenen und ohne Beachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung. Es gebe keine schriftliche Begründung, und mangels einer Rückkehrentscheidung verfüge der Betroffene nicht über einen Rechtsbehelf.

232    Drittens könne eine solche substantielle, allgemeine und dauerhafte Abweichung von den Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 nicht gemäß Art. 72 AEUV gerechtfertigt werden. Der Unionsgesetzgeber habe dieser Bestimmung des Primärrechts im Übrigen Rechnung getragen, indem er in Art. 18 der Richtlinie 2008/115 Sonderregeln für die Anwendung in Notlagen aufgrund einer außergewöhnlich großen Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen sei, geschaffen habe.

233    Ungarn führt erstens aus, § 5 Abs. 1bis des Gesetzes über die Staatsgrenzen falle unter die Ausnahme in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115. § 5 Abs. 1ter dieses Gesetzes könne nur in einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation angewandt werden, um die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit zu wahren.

234    Art. 72 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 EUV gestatte den Mitgliedstaaten, Vorschriften zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit zu erlassen und anzuwenden, die von den Bestimmungen des Unionsrechts abwichen. Insoweit habe sich der im Sekundärrecht vorgesehene rechtliche Rahmen für die Bewältigung der durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituationen auch nach Auffassung der Kommission als unzureichend erwiesen; diese habe daraus die Konsequenzen gezogen, indem sie im Jahr 2016 Vorschläge für eine umfangreiche Reform der Richtlinien 2013/32 und 2008/115 vorgelegt habe.

235    In einer Krisensituation, wie sie in Ungarn bestehe, dürfe § 5 Abs. 1ter des Gesetzes über die Staatsgrenzen daher von den Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 abweichen, die nach Ansicht der Kommission verletzt worden sein sollten.

236    Zweitens bestehe die der Polizei durch § 5 Abs. 1ter eingeräumte Befugnis jedenfalls darin, Drittstaatsangehörige, die sich illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhielten und dort festgenommen würden, nicht über die Grenze zwischen Serbien und Ungarn zu bringen, sondern nur auf die andere Seite des in Ungarn kurz vor der Grenze errichteten Grenzzauns, möge es auch auf dem Landstreifen zwischen dem Grenzzaun und der eigentlichen Grenze keinerlei Infrastruktur geben. Die Drittstaatsangehörigen würden folglich nicht nach Serbien abgeschoben. Mangels einer tatsächlichen Rückführung sei die Anwendung der Vorschriften der Richtlinie 2008/115 per definitionem ausgeschlossen, da ein Mitgliedstaat nicht in seinem eigenen Hoheitsgebiet eine Abschiebungsmaßnahme vollziehen könne.

237    Der gemäß § 5 Abs. 1ter des Gesetzes über die Staatsgrenzen vorgenommene Transfer solle es den Drittstaatsangehörigen in Wirklichkeit ermöglichen, so schnell wie möglich in den Transitzonen von Röszke und Tompa einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

238    Das Unionsrecht gebe im Übrigen weder vor, wohin illegal aufhältige Personen zu verbringen seien, noch schreibe es vor, dass sie betreut werden müssten.

239    Drittens entspreche die Art und Weise, in der die Drittstaatsangehörigen bei der praktischen Anwendung der auf der Grundlage von § 5 Abs. 1ter des Gesetzes über die Staatsgrenzen getroffenen polizeilichen Maßnahmen behandelt würden, den Anforderungen von Art. 3 Nr. 5 der Richtlinie 2008/115.

240    Die allgemeinen Garantien in Bezug auf polizeiliche Maßnahmen, insbesondere das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit, würden im Rendőrségről szóló 1994. évi XXXIV. törvény (Gesetz Nr. XXXIV von 1994 über die Polizei)  (Magyar Közlöny 1994/41) festgelegt. Außerdem habe eine von Zwangsmaßnahmen betroffene Person gemäß Art. 92 dieses Gesetzes die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf einzulegen. Schließlich werde in Art. 33 des Gesetzes im Einzelnen definiert, welche Anforderungen im Rahmen einer polizeilichen Maßnahme gemäß § 5 Abs. 1ter des Gesetzes über die Staatsgrenzen zu beachten seien.

 Würdigung durch den Gerichtshof

241    Mit ihrer vierten Rüge wirft die Kommission Ungarn im Wesentlichen vor, dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 verstoßen zu haben, dass Drittstaatsangehörige, die sich illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhielten und dort festgenommen würden, zwangsweise zu einem Landstreifen verbracht werden könnten, der sich hinter einem Grenzzaun auf ungarischem Hoheitsgebiet, wenige Meter von der Grenze zwischen Serbien und Ungarn entfernt, befinde, ohne dass die in diesen Bestimmungen festgelegten Verfahren und Garantien eingehalten würden.

242    Insoweit ist erstens hervorzuheben, dass die Richtlinie 2008/115 nach ihrem Art. 2 Abs. 1 grundsätzlich auf alle Drittstaatsangehörigen Anwendung findet, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten.

243    Der Begriff „illegaler Aufenthalt“ wird in Art. 3 Nr. 2 dieser Richtlinie definiert als die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 6 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats. Aus dieser Definition geht hervor, dass sich jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, in dessen Hoheitsgebiet befindet, schon allein deswegen illegal dort aufhält, ohne dass Voraussetzungen in Bezug auf die Mindestdauer der Anwesenheit oder die Absicht zum Verbleib im Hoheitsgebiet bestünden (Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 48).

244    Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass § 5 Abs. 1ter des Gesetzes über die Staatsgrenzen es gestattet, Drittstaatsangehörige, die sich im Sinne von Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhalten, zwangsweise zu einem Landstreifen hinter dem Grenzzaun zu bringen, es sei denn, sie stehen im Verdacht, eine Straftat begangen zu haben.

245    Zweitens ist festzustellen, dass in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie die Gründe aufgezählt werden, aus denen die Mitgliedstaaten beschließen können, die Richtlinie nicht auf einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen im Sinne ihres Art. 3 Nr. 2 anzuwenden.

246    Es ist jedoch unstreitig, dass sich der Anwendungsbereich von § 5 Abs. 1ter des Gesetzes über die Staatsgrenzen nicht auf die Kategorien illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger beschränkt, bei denen die Mitgliedstaaten nach Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 von ihr abweichen dürfen. Im Übrigen macht Ungarn nicht geltend, dass § 5 Abs. 1ter unter eine der in Art. 2 Abs. 2 vorgesehenen Ausnahmen falle.

247    Drittens unterliegt ein Drittstaatsangehöriger, auf den die Richtlinie 2008/115 Anwendung findet, grundsätzlich den von ihr vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Abschiebung, solange sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 61, und vom 19. März 2019, Arib u. a., C‑444/17, EU:C:2019:220, Rn. 39).

248    Nach diesen Normen und Verfahren muss gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen ein Rückführungsverfahren anhängig gemacht werden, dessen Ablauf einer Abstufung der zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, die ihm gegenüber grundsätzlich ergangen sein muss, zu treffenden Maßnahmen entspricht, damit er unter vollständiger Achtung seiner Grundrechte und seiner Würde in humaner Weise zurückgeführt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 62, und vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung).

249    So müssen die zuständigen nationalen Behörden, sobald die Unrechtmäßigkeit des Aufenthalts festgestellt wurde, nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, unbeschadet der Ausnahmen in Art. 6 Abs. 2 bis 5, eine Rückkehrentscheidung erlassen (Urteil vom 11. Dezember 2014, Boudjlida, C‑249/13, EU:C:2014:2431, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

250    Zudem geht aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 hervor, dass die Rückkehrentscheidung am Ende eines fairen und transparenten Verfahrens ergehen muss. Insbesondere muss die zuständige nationale Behörde, wenn sie eine Rückkehrentscheidung erlassen will, nach Art. 5 der Richtlinie zum einen den Grundsatz der Nichtzurückweisung einhalten und in gebührender Weise das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen berücksichtigen und ihn zum anderen hierzu anhören (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 101 bis 103).

251    In der Richtlinie 2008/115 werden ferner die Formerfordernisse für Rückkehrentscheidungen festgelegt. Nach ihrem Art. 12 Abs. 1 müssen diese Entscheidungen schriftlich ergehen und eine Begründung enthalten. Nach ihrem Art. 13 Abs. 1 sind die Mitgliedstaaten überdies verpflichtet, wirksame Rechtsbehelfe gegen sie einzuführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 40).

252    Nachdem die Rückkehrentscheidung erlassen wurde, muss dem Drittstaatsangehörigen, an den sie sich richtet, gemäß Art. 7 der Richtlinie grundsätzlich eine gewisse Frist für die freiwillige Ausreise aus dem betreffenden Mitgliedstaat gesetzt werden. Die zwangsweise Abschiebung darf nach Art. 8 der Richtlinie nur als letztes Mittel eingesetzt werden und steht unter dem Vorbehalt ihres Art. 9, wonach die Mitgliedstaaten die Abschiebung in den dort genannten Fällen aufschieben müssen.

253    Folglich müssen die Mitgliedstaaten, unbeschadet der Ausnahmen in Art. 6 Abs. 2 bis 5 der Richtlinie 2008/115, gegen Drittstaatsangehörige, die sich illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten und in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, unter Beachtung der darin vorgesehenen materiellen und prozessualen Garantien eine Rückkehrentscheidung erlassen, bevor sie sie gegebenenfalls abschieben.

254    Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass Ungarn nicht bestreitet, dass nach § 5 Abs. 1ter des Gesetzes über die Staatsgrenzen Drittstaatsangehörige, die sich illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhalten, zwangsweise an einen Ort hinter dem Grenzzaun gebracht werden können, ohne dass zuvor die in Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Verfahren und Garantien eingehalten wurden. Insoweit ist hervorzuheben, dass die von Ungarn eingeführten und oben in Rn. 240 dargelegten Garantien im Zusammenhang mit dem Tätigwerden der Polizei den in der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Garantien offenkundig nicht entsprechen.

255    Zweitens ist entgegen dem Vorbringen Ungarns die zwangsweise Verbringung eines Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhält, an einen Ort hinter dem auf ungarischem Hoheitsgebiet errichteten Grenzzaun einer Abschiebung aus Ungarn gleichzustellen.

256    Zwar ist nach Art. 3 Nr. 5 der Richtlinie 2008/115 unter der Abschiebung die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat in Vollstreckung einer Rückkehrverpflichtung zu verstehen, doch würden die Garantien, die mit den in der Richtlinie vorgesehenen Rückkehr- und Abschiebungsverfahren verbunden sind, ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn ein Mitgliedstaat sich ihnen entziehen könnte, obwohl er einen Drittstaatsangehörigen zu einer Ortsveränderung zwingt, die in der Praxis seiner tatsächlichen Verbringung aus dem Hoheitsgebiet gleichkommt.

257    Ungarn räumt ein, dass sich zwischen dem Grenzzaun, hinter den die illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zwangsweise gebracht werden können, und der Grenze zwischen Serbien und Ungarn nur ein schmaler Landstreifen ohne jede Infrastruktur befindet. Nachdem der Drittstaatsangehörige von den ungarischen Polizeibehörden zwangsweise zu diesem schmalen Landstreifen gebracht wurde, hat er deshalb keine andere Wahl, als das ungarische Hoheitsgebiet zu verlassen und sich nach Serbien zu begeben, um dort Unterkunft und Nahrung zu finden.

258    Insoweit ist festzustellen, dass ein Drittstaatsangehöriger entgegen dem Vorbringen Ungarns keine echte Möglichkeit hat, von diesem Landstreifen aus in eine der beiden Transitzonen von Röszke und Tompa zu gelangen, um dort einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

259    Wie oben in Rn. 128 ausgeführt, gab es nämlich zumindest bis zum Ablauf der Frist in der mit Gründen versehenen Stellungnahme, die die Kommission an Ungarn richtete, eine ständige und allgemeine Praxis der ungarischen Behörden, die darin bestand, den Zugang zu diesen Transitzonen drastisch zu reduzieren, so dass ein Drittstaatsangehöriger, der zwangsweise hinter den Grenzzaun gebracht worden war, nicht die geringste Aussicht hatte, kurzfristig in eine der Transitzonen zu gelangen.

260    Im Übrigen sind der Sonderbeauftragte des Generalsekretärs des Europarats für Migration und Flüchtlinge sowie der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe in ihren der Klageschrift der Kommission beigefügten Berichten im Wesentlichen zum gleichen Ergebnis gekommen.

261    Schließlich ist die Argumentation von Ungarn, dass § 5 Abs. 1ter des Gesetzes über die Staatsgrenzen gemäß Art. 72 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 EUV gerechtfertigt sei, aus entsprechenden wie den oben in den Rn. 216 und 217 dargelegten Gründen zurückzuweisen; insoweit beschränkt sich dieser Mitgliedstaat nämlich darauf, allgemein die Gefahr von Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung und der nationalen Sicherheit geltend zu machen, ohne in rechtlich hinreichender Weise darzutun, dass es für ihn angesichts der Situation, die in seinem Hoheitsgebiet am 8. Februar 2018 bestand, erforderlich war, speziell von der Richtlinie 2008/115 abzuweichen (vgl. entsprechend Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main, C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 27 bis 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

262    Was speziell Art. 4 Abs. 2 EUV anbelangt, hat Ungarn nicht dargetan, dass angesichts dieser Situation die tatsächliche Wahrung der in dieser Bestimmung genannten grundlegenden staatlichen Funktionen wie der des Schutzes der nationalen Sicherheit nur durch eine Abweichung von der Richtlinie 2008/115 sichergestellt werden konnte (vgl. entsprechend Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 170).

263    Ferner ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber durch den Erlass u. a. von Art. 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 4, Art. 11 Abs. 2 und 3 sowie Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2008/115 der Ausübung der Zuständigkeiten, über die die Mitgliedstaaten nach Art. 72 AEUV verfügen, gebührend Rechnung getragen hat. Diese Bestimmungen ermöglichen es den Mitgliedstaaten nämlich, von mehreren Vorschriften der Richtlinie abzuweichen, wenn der Schutz der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen oder nationalen Sicherheit es gebietet.

264    Außerdem ist, wie die Kommission geltend macht, Art. 18 der Richtlinie 2008/115, auf den sich Ungarn nicht berufen hat, ausdrücklich den Notlagen gewidmet, mit denen ein Mitgliedstaat konfrontiert werden kann, wenn eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals führt. Nach Art. 18 können Mitgliedstaaten, die mit einer solchen Notlage konfrontiert sind, von bestimmten Vorschriften über die Inhaftnahme und die Fortdauer der Haft illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger abweichen, dürfen aber nicht gegen ihre allgemeine Pflicht verstoßen, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren aus der Richtlinie 2008/115 hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen.

265    Schließlich reicht der bloße Umstand, dass eine Überarbeitung der Richtlinie 2008/115 geplant sein soll, entgegen dem Vorbringen Ungarns nicht zum Nachweis dafür aus, dass die derzeit geltenden Bestimmungen dieser Richtlinie den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten in den von Art. 72 AEUV erfassten Bereichen nicht gebührend Rechnung tragen.

266    Aus alledem folgt, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 verstoßen hat, dass es die Abschiebung aller Drittstaatsangehörigen, die sich illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhalten, mit Ausnahme derjenigen von ihnen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, gestattet, ohne die in den genannten Bestimmungen vorgesehenen Verfahren und Garantien zu beachten.

 Zur fünften, das Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats betreffenden Rüge

 Vorbringen der Parteien

267    Die Kommission führt erstens aus, Ungarn habe Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 nicht ordnungsgemäß umgesetzt; danach dürfe eine Person, die internationalen Schutz beantragt habe, bis zum Ende des Verfahrens zur Prüfung ihrer Klage gegen die Entscheidung, mit der ihr Antrag in erster Instanz abgelehnt worden sei, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats bleiben.

268    Nach ungarischem Recht habe die Erhebung einer Klage gegen eine Entscheidung der Verwaltung grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung sehe lediglich vor, dass eine solche Wirkung unter bestimmten Voraussetzungen gerichtlich angeordnet werden könne.

269    Das Asylgesetz als lex specialis lege seinerseits die verwaltungsgerichtlichen Vorschriften für die Kontrolle von Entscheidungen in Asylsachen fest. Mit dem am 1. August 2015 in Kraft getretenen Gesetz zur Steuerung der Masseneinwanderung seien aber die Bestimmungen des Asylgesetzes aufgehoben worden, die die aufschiebende Wirkung von Klagen gegen die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz ausdrücklich garantiert hätten. Sie seien unabhängig vom Vorliegen einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation weggefallen.

270    Nach § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes habe der Antragsteller zwar ein Bleiberecht. Es werde dort aber von zusätzlichen, nicht klar dargelegten Voraussetzungen abhängig gemacht. Im Übrigen gewährleiste auch der in einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation anwendbare § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes keine angemessene Umsetzung von Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32. Der nach § 80/J Abs. 5 vorgeschriebene Aufenthalt in einer Transitzone sei nämlich als Haft einzustufen und entspreche nicht den Anforderungen von Art. 46 der Richtlinie.

271    Zweitens sehe § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes in Bezug auf die gerichtliche Kontrolle von Entscheidungen, mit denen ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt werde, vor, dass eine dagegen erhobene Klage grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung habe; dies stehe nicht im Einklang mit Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32, wonach die Mitgliedstaaten entweder die automatische aufschiebende Wirkung von Klagen gegen solche Entscheidungen gewährleisten oder dafür sorgen müssten, dass ein Gericht über die aufschiebende Wirkung entscheide.

272    Außerdem werde im Asylgesetz nicht klargestellt, ob § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung auf gerichtliche Verfahren, die den Anwendungsbereich des Asylgesetzes beträfen, Anwendung finde.

273    Drittens würden die in Art. 46 Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/32 genannten Fallgruppen, für die die in Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie aufgestellte Regel gelte, zwar von § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h des Asylgesetzes erfasst, und dessen § 53 Abs. 6 sehe vor, dass die Einreichung einer Klageschrift nicht zur Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung führe, abgesehen von Entscheidungen im Asylbereich, die gemäß § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h ergangen seien.

274    Das Asylgesetz lege jedoch nicht eindeutig fest, dass die Erhebung einer Klage gegen Entscheidungen, die auf der Grundlage von § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h ergangen seien, aufschiebende Wirkung habe. Nur im Umkehrschluss lasse sich folgern, dass etwas anderes gelte als das Fehlen aufschiebender Wirkung. Aus dem Wortlaut des Asylgesetzes gehe jedenfalls nicht hervor, ob diese abweichende Regel automatisch eine aufschiebende Wirkung impliziere, wie es Art. 46 Abs. 5 und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/32 verlange.

275    Ungarn trägt vor, die nationale Regelung gewährleiste in angemessener Weise, dass Personen, die internationalen Schutz beantragten, im Einklang mit Art. 46 der Richtlinie 2013/32 im ungarischen Hoheitsgebiet bleiben könnten, auch wenn dieser Artikel nicht wortwörtlich in nationales Recht umgesetzt worden sei.

276    Erstens sehe § 5 Abs. 1 des Asylgesetzes vor, dass der Antragsteller unter den in diesem Gesetz genannten Voraussetzungen das Recht habe, im ungarischen Hoheitsgebiet zu bleiben. Dieses Recht stehe jedem Antragsteller im Rahmen eines Asylverfahrens zu; dies bedeute nach § 35 Abs. 1 des Asylgesetzes, dass er darüber bis zur Zustellung der am Ende des Asylverfahrens ergehenden Entscheidung verfüge, bei der es sich gegebenenfalls um die im Anschluss an die Prüfung der Klage gegen die Entscheidung, den Antrag auf internationalen Schutz abzulehnen, ergehende gerichtliche Entscheidung handele.

277    Die Bezugnahme auf die gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen in § 5 Abs. 1 des Asylgesetzes impliziere, dass der Drittstaatsangehörige dem im Gesetz festgelegten Status des Antragstellers entsprechen müsse. Eine andere Voraussetzung könnte in der Verpflichtung des Antragstellers bestehen, sich an dem von der für Asylsachen zuständigen Behörde bestimmten Ort aufzuhalten. § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes enthalte eine derartige Regel. Schließlich seien nach diesen Voraussetzungen auch Personen, die einen erneuten Antrag auf internationalen Schutz stellten, vom Bleiberecht ausgeschlossen (§ 80/K Abs. 11 des Asylgesetzes).

278    Überdies habe der Antragsteller nach § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes, wenn eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation festgestellt werde, das Recht, bis zur Zustellung der endgültigen Entscheidung in der betreffenden Transitzone und damit im ungarischen Hoheitsgebiet zu bleiben (§ 80/J Abs. 2 des Asylgesetzes).

279    Zweitens könne der Antragsteller in den von Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 erfassten Fallgruppen gemäß § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung einen Antrag auf sofortigen gerichtlichen Rechtsschutz stellen; daraufhin könne aufschiebende Wirkung eintreten, so dass die Möglichkeit bestehe, im ungarischen Hoheitsgebiet zu bleiben.

280    Drittens gelte für die von Art. 46 Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/32 erfassten Fallgruppen, auf die Art. 46 Abs. 5 Anwendung finde, § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h des Asylgesetzes; in beiden Fällen sei das Recht auf Verbleib im ungarischen Hoheitsgebiet von Rechts wegen gewährleistet.

 Würdigung durch den Gerichtshof

281    Mit ihrer fünften Rüge wirft die Kommission Ungarn im Wesentlichen vor, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 46 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/32 verstoßen zu haben, weil dieser Mitgliedstaat nicht garantiere, dass Personen, die internationalen Schutz beantragten, unter den in diesen Bestimmungen vorgesehenen Voraussetzungen das Recht hätten, bis zum Ende des Verfahrens zur Prüfung ihrer Klage gegen die Entscheidung, mit der ihr Antrag in erster Instanz abgelehnt worden sei, im ungarischen Hoheitsgebiet zu bleiben.

–       Zum ersten, Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 betreffenden Teil des fünften Klagegrundes

282    Erstens ist festzustellen, dass nach Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 die Mitgliedstaaten den Personen, die internationalen Schutz beantragen, vorbehaltlich der in Art. 41 Abs. 1 und in Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie vorgesehenen Fälle gestatten, bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die in Art. 46 Abs. 1 genannten Entscheidungen und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verbleiben.

283    Nach Art. 2 Buchst. p der Richtlinie 2013/32 ist unter „Verbleib im Mitgliedstaat“ der Verbleib im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen – des Mitgliedstaats zu verstehen, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder geprüft wird.

284    Zweitens ist hervorzuheben, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, dessen Antrag auf internationalen Schutz in erster Instanz von der Asylbehörde abgelehnt wurde, nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. b weiterhin in den Genuss der in dieser Richtlinie vorgesehenen Aufnahmebedingungen kommt, solange er sich nach Art. 46 der Richtlinie 2013/32 im Hoheitsgebiet aufhalten darf, um eine solche ablehnende Entscheidung anzufechten.

285    Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 sieht nämlich vor, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in den Genuss der in dieser Richtlinie vorgesehenen Aufnahmebedingungen kommt, solange sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verbleiben darf, und nach ihrem Art. 2 Buchst. b gilt ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser als Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, im Sinne dieser Richtlinie, solange über den Antrag noch nicht endgültig entschieden wurde.

286    Angesichts des engen Zusammenhangs zwischen den Anwendungsbereichen der Richtlinie 2013/32 und der Richtlinie 2013/33 ist auch für die Zwecke von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 die in Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2013/32 zur Festlegung ihres Anwendungsbereichs enthaltene Definition der bestandskräftigen Entscheidung heranzuziehen, wonach es sich um eine Entscheidung darüber, ob dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, handelt, gegen die kein Rechtsbehelf nach Kapitel V der Richtlinie 2013/32 mehr eingelegt werden kann, unabhängig davon, ob ein solcher Rechtsbehelf zur Folge hat, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten darf.

287    Daraus folgt zum einen, dass sich Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 zwar darauf beschränkt, einer in ihren Anwendungsbereich fallenden Person, die internationalen Schutz beantragt hat, ein Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu gewähren, doch besteht dieses Recht, vorbehaltlich der Ausnahmen in Art. 41 Abs. 1 und in Art. 46 Abs. 6 dieser Richtlinie, ohne jede Bedingung, und zum anderen, dass die von einem Mitgliedstaat festgelegten Modalitäten für die Ausübung dieses Rechts insbesondere mit den Richtlinien 2013/32 und 2013/33 im Einklang stehen müssen.

288    Drittens ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Bestimmungen einer Richtlinie mit unbestreitbarer Verbindlichkeit sowie mit der erforderlichen Konkretheit, Bestimmtheit und Klarheit umzusetzen sind, damit dem Erfordernis der Rechtssicherheit Genüge getan wird, das es für den Fall, dass die Richtlinie Rechte für den Einzelnen begründen soll, gebietet, dass die Begünstigten in die Lage versetzt werden, von ihren Rechten in vollem Umfang Kenntnis zu erlangen (Urteile vom 8. Juli 1999, Kommission/Frankreich, C‑354/98, EU:C:1999:386, Rn. 11, vom 14. März 2006, Kommission/Frankreich, C‑177/04, EU:C:2006:173, Rn. 48, und vom 4. Oktober 2018, Kommission/Spanien, C‑599/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:813, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

289    Folglich müssen die von einem Mitgliedstaat festgelegten Modalitäten für die Ausübung des in Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 verankerten Rechts auf Verbleib in seinem Hoheitsgebiet hinreichend klar und bestimmt sein, damit die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, Kenntnis vom genauen Umfang eines solchen Rechts erlangen kann und damit beurteilt werden kann, ob die betreffenden Modalitäten insbesondere mit den Richtlinien 2013/32 und 2013/33 im Einklang stehen.

290    In Anbetracht dieser Erwägungen ist im vorliegenden Fall zum einen festzustellen, dass unstreitig im Fall der Feststellung einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes abweichend von § 5 Abs. 1 Buchst. a dieses Gesetzes bestimmt, dass die Antragsteller bis zum Ende des Verfahrens zur Prüfung der Klage gegen die Entscheidung der für Asylsachen zuständigen Behörde, ihren Antrag abzulehnen, in den Transitzonen von Röszke und Tompa bleiben müssen.

291    § 80/J Abs. 5 garantiert somit, dass die Antragsteller das Recht haben, im ungarischen Hoheitsgebiet zu bleiben, solange ihre Klage gegen die Entscheidung, mit der ihr Antrag abgelehnt wurde, anhängig ist. Wie oben in Rn. 226 ausgeführt, unterliegen die Antragsteller während dieses Zeitraums jedoch einem allgemeinen System der Inhaftnahme in den Transitzonen, das mit ihren Rechten aus Art. 24 Abs. 3 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32 sowie aus den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 unvereinbar ist.

292    Insoweit ist in Anbetracht der Situation, um die es im Rahmen der Prüfung der vorliegenden Rüge geht, insbesondere festzustellen, dass keiner der in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33 genannten Haftgründe den Fall betrifft, dass ein Antrag auf internationalen Schutz in erster Instanz von der Asylbehörde abgelehnt wurde und die Frist für die Erhebung einer Klage gegen diese Entscheidung noch nicht abgelaufen ist oder eine solche Klage erhoben wurde.

293    Wie sich oben aus Rn. 287 ergibt, darf ein Mitgliedstaat keine Modalitäten für die Ausübung des durch Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 gewährleisteten Rechts auf Verbleib in seinem Hoheitsgebiet festlegen, die die Rechte verletzen, die den Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, nach den Richtlinien 2013/32 und 2013/33 zustehen.

294    Folglich hat Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 verstoßen, dass Personen, deren Antrag auf internationalen Schutz in erster Instanz von der Asylbehörde abgelehnt wurde, im Fall der Feststellung einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation nur unter der Bedingung im ungarischen Hoheitsgebiet bleiben dürfen, dass sie in einer gegen die Richtlinien 2013/32 und 2013/33 verstoßenden Weise in Haft genommen werden.

295    Zum anderen ist unstreitig, dass § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes, der durch das Gesetz Nr. XX von 2017 nicht aufgehoben wurde, für den Fall, dass keine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation festgestellt wurde, vorsieht, dass der Asylbewerber unter den in diesem Gesetz genannten Voraussetzungen das Recht hat, im ungarischen Hoheitsgebiet zu bleiben, wobei ein solches Recht nach § 35 Abs. 1 des Asylgesetzes besteht, bis die am Ende des Asylverfahrens ergangene Entscheidung zugestellt wurde und gegen sie kein Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann.

296    Die Kommission trägt jedoch vor, diese Regelung gewährleiste nicht, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt habe, unter den in Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Voraussetzungen im ungarischen Hoheitsgebiet bleiben dürfe, weil dieses Recht in § 5 Abs. 1 des Asylgesetzes von nicht näher definierten Voraussetzungen abhängig gemacht werde.

297    Ungarn hat in seinen Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben, dass die Voraussetzungen, auf die § 5 Abs. 1 Bezug nehme, darin bestünden, dass der Betroffene dem im Asylgesetz festgelegten Status als Antragsteller entspreche und der ihm gegebenenfalls auferlegten Pflicht nachkomme, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, bei dem es sich nach § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes um eine der beiden Transitzonen von Röszke und Tompa handeln könne, wenn eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation festgestellt worden sei. Außerdem solle durch diese Voraussetzungen im Einklang mit § 80/K Abs. 11 des Asylgesetzes einem Antragsteller, der einen neuen Asylantrag gestellt habe, obwohl das Verfahren über seinen früheren Antrag endgültig abgeschlossen oder sein früherer Antrag rechtskräftig abgelehnt worden sei, das Recht zum Verbleib im ungarischen Hoheitsgebiet verwehrt werden.

298    Insoweit ist erstens festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 7 der Richtlinie 2013/33 den Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, unter bestimmten Voraussetzungen einen Aufenthaltsort zuweisen können, auch nachdem ihr Antrag in erster Instanz von der Asylbehörde abgelehnt wurde. Daher kann es nicht als unvereinbar mit Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 angesehen werden, dass das Recht, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu bleiben, von der Einhaltung einer solchen Voraussetzung in Bezug auf den Aufenthaltsort abhängig gemacht wird, sofern diese Voraussetzung die in Art. 7 der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Garantien beachtet. Ungarn hat jedoch nicht angegeben, welche Bestimmung des Asylgesetzes genau eine solche Voraussetzung enthalten soll.

299    Zweitens finden § 80/J Abs. 5 und § 80/K Abs. 11 des Asylgesetzes nur Anwendung, wenn eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation festgestellt wurde, und in einem solchen Fall ist, wie Ungarn in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes nicht anwendbar. Es ist daher widersprüchlich, wenn Ungarn geltend macht, dass in § 80/J Abs. 5 und in § 80/K Abs. 11 des Asylgesetzes die Voraussetzungen festgelegt würden, unter denen sein § 5 Abs. 1 gelte.

300    Drittens schließlich ist die in der Beachtung des gesetzlich festgelegten Status als Person, die internationalen Schutz beantragt hat, bestehende Voraussetzung, von der, wie Ungarn selbst angegeben hat, das aus § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes resultierende Bleiberecht ebenfalls abhängt, diversen Auslegungen zugänglich und nimmt Bezug auf weitere, von Ungarn nicht konkretisierte Voraussetzungen.

301    Wie oben in Rn. 289 ausgeführt, müssen die von einem Mitgliedstaat festgelegten Modalitäten für die Ausübung des durch Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 gewährleisteten Rechts auf Verbleib in seinem Hoheitsgebiet aber hinreichend klar und bestimmt sein, damit die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, Kenntnis vom genauen Umfang eines solchen Rechts erlangen kann und beurteilt werden kann, ob die betreffenden Modalitäten insbesondere mit den Richtlinien 2013/32 und 2013/33 im Einklang stehen.

302    Nach alledem hat Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 verstoßen.

–       Zum zweiten, Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 betreffenden Teil des fünften Klagegrundes

303    Abweichend von Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 gestattet ihr Art. 46 Abs. 6 es den Mitgliedstaaten, in den dort vorgesehenen Fällen – u. a. dann, wenn die Entscheidung, den Antrag auf internationalen Schutz abzulehnen, auf bestimmten Unzulässigkeitsgründen beruht – nicht automatisch ein Recht auf Verbleib im Inland bis zur Entscheidung über die Klage des Antragstellers zu gewähren, sofern ein Gericht befugt ist, darüber zu entscheiden, ob der Antragsteller trotz der ihm gegenüber ergangenen erstinstanzlichen Entscheidung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats bleiben darf.

304    Die Kommission trägt vor, Ungarn habe die genannte Bestimmung nicht korrekt umgesetzt, denn zum einen habe die Erhebung einer Klage gegen eine Entscheidung, den Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, nach § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes keine aufschiebende Wirkung, und zum anderen gehe aus diesem Gesetz nicht klar hervor, ob § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung, der es gestatte, bei dem angerufenen Gericht die Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung der Verwaltung zu beantragen, auf gerichtliche Verfahren, die das Asylgesetz beträfen, anwendbar sei.

305    Folglich wirft die Kommission Ungarn im Wesentlichen vor, Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 nicht hinreichend klar und genau umgesetzt zu haben, weil aus der ungarischen Regelung nicht ausdrücklich hervorgehe, dass § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung für Entscheidungen gelte, mit denen ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt werde.

306    Diese Argumentation ist jedoch unbegründet.

307    Wie der Generalanwalt in Nr. 207 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, lässt die bloße Tatsache, dass § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung von allgemeiner Tragweite ist und dass in § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes nicht klargestellt wird, dass § 50 im Rahmen der in diesem Gesetz geregelten Verfahren Anwendung findet, nicht den Schluss zu, dass Ungarn Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 nicht genau und hinreichend klar nachgekommen ist. Insoweit ist hervorzuheben, dass § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes weder die Anwendung von § 50 ausschließt noch eine mit ihm unvereinbare Regel aufstellt. Zudem hat die Kommission nichts vorgebracht, das Zweifel daran wecken könnte, dass die ungarischen Gerichte die Möglichkeit haben, § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung im Rahmen der Prüfung einer Klage gegen eine Entscheidung anzuwenden, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt wird.

308    Folglich ist der zweite Teil der fünften Rüge als unbegründet zurückzuweisen, ohne dass geprüft zu werden braucht, ob mit § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung darüber hinaus Art. 46 Abs. 6 letzter Unterabsatz der Richtlinie 2013/32 vollständig und korrekt umgesetzt wird.

–       Zum dritten, Art. 46 Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/32 betreffenden Teil des fünften Klagegrundes

309    Abweichend von der in Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 aufgestellten Regel ergibt sich aus den Buchst. a und b dieser Bestimmung, dass im Fall der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz als unbegründet aufgrund der in Art. 31 Abs. 8 Buchst. h der Richtlinie aufgeführten Umstände oder als unzulässig gemäß ihrem Art. 33 Abs. 2 Buchst. c und e das Recht zum Verbleib im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats unter den in Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie und nicht unter den in ihrem Art. 46 Abs. 6 letzter Unterabsatz vorgesehenen Voraussetzungen zu gewähren ist.

310    Die Kommission wirft Ungarn vor, diese Ausnahme nicht hinreichend klar und genau umgesetzt zu haben, weil aus § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes nicht klar hervorgehe, dass die Erhebung einer Klage aufschiebende Wirkung habe, wenn sie sich gegen eine auf der Grundlage von § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h des Asylgesetzes ergangene Entscheidung richte.

311    Diese Argumentation ist jedoch als unbegründet zurückzuweisen.

312    Wie der Generalanwalt in Nr. 211 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, geht nämlich schon aus dem Wortlaut von § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes klar hervor, dass Klagen gegen Entscheidungen, die gemäß § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h des Asylgesetzes ergangen sind, automatisch aufschiebende Wirkung haben.

313    Somit ist auch der dritte Teil der fünften Rüge als unbegründet zurückzuweisen, ohne dass geprüft zu werden braucht, ob mit § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes darüber hinaus Art. 46 Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/32 vollständig und korrekt umgesetzt wird.

314    Folglich hat Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 verstoßen, dass es die Ausübung des Rechts von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben und unter diese Bestimmung fallen, auf Verbleib im ungarischen Hoheitsgebiet von unionsrechtswidrigen Voraussetzungen abhängig gemacht hat.

315    Nach alledem ist festzustellen, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, aus Art. 6, Art. 24 Abs. 3, Art. 43 und Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 und aus den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 verstoßen hat, dass es

–        vorgesehen hat, dass Anträge auf internationalen Schutz von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die aus Serbien einreisen und im ungarischen Hoheitsgebiet das Verfahren des internationalen Schutzes in Anspruch nehmen möchten, nur in den Transitzonen von Röszke und Tompa gestellt werden können, und zugleich eine ständige und allgemeine Verwaltungspraxis eingeführt hat, mit der die Zahl der Antragsteller, die pro Tag in diese Transitzonen einreisen dürfen, drastisch beschränkt wird;

–        ein allgemeines System der Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in den Transitzonen von Röszke und Tompa geschaffen hat, ohne die in Art. 24 Abs. 3 und in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 sowie in den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 festgelegten Garantien einzuhalten;

–        die Abschiebung aller illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen mit Ausnahme derjenigen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, gestattet hat, ohne die in Art. 5, in Art. 6 Abs. 1, in Art. 12 Abs. 1 und in Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 festgelegten Verfahren und Garantien einzuhalten;

–        die Ausübung des Rechts der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben und unter Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 fallen, auf Verbleib im ungarischen Hoheitsgebiet von unionsrechtswidrigen Voraussetzungen abhängig gemacht hat.

316    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

 Kosten

317    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jede Partei ihre eigenen Kosten. Sofern dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint, kann der Gerichtshof jedoch entscheiden, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt. Da die Kommission beantragt hat, Ungarn die Kosten aufzuerlegen, und da Ungarn mit seinem Vorbringen im Wesentlichen unterliegt, ist Ungarn in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls zu verurteilen, neben den eigenen Kosten vier Fünftel der Kosten der Kommission zu tragen. Die Kommission trägt ein Fünftel ihrer Kosten.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Ungarn hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, aus Art. 6, Art. 24 Abs. 3, Art. 43 und Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes und aus den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, verstoßen, dass es

–        vorgesehen hat, dass Anträge auf internationalen Schutz von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die aus Serbien einreisen und im ungarischen Hoheitsgebiet das Verfahren des internationalen Schutzes in Anspruch nehmen möchten, nur in den Transitzonen von Röszke (Ungarn) und Tompa (Ungarn) gestellt werden können, und zugleich eine ständige und allgemeine Verwaltungspraxis eingeführt hat, mit der die Zahl der Antragsteller, die pro Tag in diese Transitzonen einreisen dürfen, drastisch beschränkt wird;

–        ein allgemeines System der Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in den Transitzonen von Röszke und Tompa geschaffen hat, ohne die in Art. 24 Abs. 3 und in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 sowie in den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 festgelegten Garantien einzuhalten;

–        die Abschiebung aller illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen mit Ausnahme derjenigen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, gestattet hat, ohne die in Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 festgelegten Verfahren und Garantien einzuhalten;

–        die Ausübung des Rechts der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben und unter Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 fallen, auf Verbleib im ungarischen Hoheitsgebiet von unionsrechtswidrigen Voraussetzungen abhängig gemacht hat.

2.      Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.      Ungarn trägt neben seinen eigenen Kosten vier Fünftel der Kosten der Europäischen Kommission.

4.      Die Europäische Kommission trägt ein Fünftel ihrer Kosten.

Unterschrift


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.