A | Rückblick auf die wichtigsten Urteile des Jahres

Eine auf den Wert der menschlichen Persönlichkeit und die Rechtsstaatlichkeit gegründete Union



Warum gibt es den Gerichtshof der Europäischen Union?
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Im Jahr 2020 wurde der 20. Jahrestag der Verkündung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) begangen, die – ebenso wie der Vertrag über die Europäische Union – ausdrücklich auf die Rechtsstaatlichkeit Bezug nimmt, einen der den Mitgliedstaaten gemeinsamen Wert der Union, auf den diese sich gründet.

Die Charta verankert insbesondere die Würde, die Freiheit und die Gleichheit vor dem Gesetz aller Personen als Menschen, Arbeitnehmer, Bürger oder Parteien in einem Gerichtsverfahren. Ihre 54 Artikel markieren den Übergang von einem Europa der Gemeinschaften, bei dem wirtschaftliche Interessen im Vordergrund standen, zu einem Europa der Union, das auf dem Wert der menschlichen Persönlichkeit aufbaut.

Im Jahr 2020 hat der Gerichtshof mehrfach die Charta und den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit ausgelegt und damit eine entscheidende Rolle bei der Verteidigung der Grundfreiheiten, der Beseitigung von Diskriminierung und der Gewährleistung einer fairen Justiz gespielt.

  • In einem durch ein italienisches Gericht eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren hat der Gerichtshof die Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ausgelegt. Die Richtlinie setzt in diesem Bereich das in der Charta verankerte allgemeine Diskriminierungsverbot um. Der Gerichtshof hat entschieden, dass homophobe Äußerungen eine Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf darstellen, wenn sie von einer Person getätigt werden, die offenbar einen entscheidenden Einfluss auf die Einstellungspolitik eines Arbeitgebers hat. Das nationale Recht kann vorsehen, dass eine Vereinigung Schadensersatzansprüche geltend machen kann, auch wenn sich kein Geschädigter feststellen lässt. Urteil Associazione Avvocatura per i diritti LGBTI vom 23. April 2020, C-507/18

  • Eine Regelung der Flämischen Region (Belgien) hatte ein Verbot der Schlachtung von Tieren ohne vorherige Betäubung zur Folge. Da sich dies auf die rituelle Schlachtung auswirkte, klagten jüdische und muslimische Vereinigungen auf Nichtigerklärung dieser Regelung. Der Gerichtshof, der von einem belgischen Gericht mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst wurde, hat festgestellt, dass die fragliche Regelung, die einer Betäubung, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen, nicht entgegensteht und das Inverkehrbringen tierischer Erzeugnisse, die von rituell geschlachteten Tieren stammen, außerhalb der Flämischen Region nicht behindert, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der durch die Charta garantierte Religionsfreiheit und dem im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankerten Tierwohl sicherstellt (siehe Abschnitt „Verbraucherschutz“). Urteil Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a. vom 17. Dezember 2020, C-336/19

  • Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens hat der Gerichtshof entschieden, dass die von Ungarn erlassenen Beschränkungen der Finanzierung von Organisationen der Zivilgesellschaft durch außerhalb dieses Mitgliedstaats ansässige Personen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Diese Beschränkungen verstoßen nicht nur gegen die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankerten Kapitalverkehrsfreiheit, sondern auch gegen diejenigen aus den Bestimmungen der Charta über die Vereinigungsfreiheit sowie gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten (vgl. Abschnitt „Schutz personenbezogener Daten“). Urteil Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) vom 18. Juni 2020, C-78/18

  • In einem anderen Ungarn betreffenden Vertragsverletzungsverfahren hat der Gerichtshof das nationale Gesetz über das Hochschulwesen anhand der Charta geprüft. Nach diesem Gesetz dürfen Hochschuleinrichtungen mit Sitz außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu einem Abschluss führende Lehrtätigkeiten nur dann ausüben, wenn Ungarn einen völkerrechtlichen Vertrag mit dem Sitzstaat der betreffenden Einrichtung abgeschlossen hat und diese in ihrem Herkunftsland eine Hochschulausbildung durchführt. Der Gerichtshof hat entschieden, dass solche Bedingungen gegen die akademische Freiheit, die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten und die unternehmerische Freiheit verstoßen. Urteil Kommission/Ungarn (Hochschulausbildung) vom 6. Oktober 2020, C-66/18

  • In einem Eilvorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof ging es um den Grundsatz der Gleichbehandlung von nationalen Staatsangehörigen und Bürgern des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR). Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass die Charta Anwendung findet, wenn ein Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Kroatien) über das Auslieferungsersuchen eines Drittstaats (hier Russland) entscheiden muss, das einen Angehörigen eines anderen Drittstaats, der Mitglied der Europäischen Freihandelsassoziation und Vertragspartei des Abkommens über den EWR ist (Island), betrifft. Der Mitgliedstaat, bei dem das Auslieferungsersuchen gestellt wurde, muss sich daher vergewissern, dass dem Betroffenen in dem Drittstaat, der das Auslieferungsersuchen gestellt hat, nicht die Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung droht. Urteil Ruska Federacija vom 2. April 2020, C-897/19 PPU

  • Im Kontext zweier Eilvorabentscheidungsverfahren, die systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz in Polen betrafen, hat der Gerichtshof entschieden, dass die Vollstreckung eines von einer polnischen Justizbehörde ausgestellten Europäischen Haftbefehls (EHB) nur dann verweigert werden darf, wenn in Anbetracht der individuellen Situation des Betroffenen, der Art der in Rede stehenden Straftat und der tatsächlichen Umstände der Ausstellung des EHB ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene nach seiner Überstellung an die polnischen Behörden einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass sein durch die Charta garantiertes Grundrecht auf ein faires Verfahren verletzt wird. Urteil Openbaar Ministerie vom 17. Dezember 2020, C-354/20 PPU u. a.

  • Der Gerichtshof hat zwei Vorabentscheidungsersuchen, die die polnische Regelung über Disziplinarverfahren gegen Richter von 2017 betrafen, für unzulässig erklärt. Er hat allerdings auch darauf hingewiesen, dass der Umstand, dass nationale Richter Vorabentscheidungsersuchen gestellt haben, die sich als unzulässig erwiesen haben, es nicht rechtfertigt, Disziplinarverfahren gegen sie einzuleiten. Nationale Vorschriften, nach denen nationalen Richtern ein Disziplinarverfahren droht, wenn sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof richten, können nicht zugelassen werden. Es stellt eine wesentliche Garantie für die Unabhängigkeit der Justiz dar, dass Richter insoweit keinen Disziplinarverfahren oder -strafen ausgesetzt sind. Urteil Miasto Łowicz und Prokurator Generalny vom 26. März 2020, C-558/18 und C-563/18

Asylpolitik

Die Verstärkung der Migrationsströme und die Komplexität der Organisation der Aufnahme von Migranten haben dazu geführt, dass der Gerichtshof über die Vereinbarkeit der Regelungen bestimmter Mitgliedstaaten über die Asylverfahren mit den im Unionsrecht vorgesehenen Schutzvorgaben zu entscheiden hatte. Die Charta, die Verfahrensrichtlinie, die Aufnahmerichtlinie, die Rückführungsrichtlinie und die Dublin-III-Verordnung erlegen den Mitgliedstaaten eine Reihe von Verpflichtungen auf, wie z. B. die Garantie eines effektiven Zugangs zum Asylverfahren.

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs hat auch 2020 konkrete Antworten auf Fragen im Zusammenhang mit den Kriterien für die Umsetzung der geltenden Regelungen gegeben und dabei das Asylrecht mit dem Schutz der öffentlichen Ordnung und den berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten in Einklang gebracht.

  • Von einem ungarischen Gericht im Rahmen eines Eilvorabentscheidungsverfahrens befragt, hat der Gerichtshof entschieden, dass die Verwahrung von Asylbewerbern bzw. Drittstaatsangehörigen, die Gegenstand einer Rückkehrentscheidung sind, in der Transitzone Röszke an der serbisch-ungarischen Grenze als Haft anzusehen ist. Ergibt die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer solchen Haft, dass die betreffenden Personen ohne gültigen Grund in Haft genommen wurden, muss das angerufene Gericht sie unverzüglich freilassen oder gegebenenfalls eine Haftalternative anordnen. Urteil FMS u. a. vom 14. Mai 2020, C-924/19 PPU u. a.

  • Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht im Bereich der Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes und der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger verstoßen hat. Insbesondere stellen die Beschränkung des Zugangs zum Verfahren des internationalen Schutzes, die rechtswidrige Inhaftierung von Personen, die diesen Schutz beantragt haben, in Transitzonen sowie die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in ein an der Grenze befindliches Gebiet, ohne Beachtung der für ein Rückkehrverfahren geltenden Garantien, Verstöße gegen das Unionsrecht dar. Urteil Kommission/Ungarn vom 17. Dezember 2020, C-808/18

  • Im Rahmen dreier Vertragsverletzungsverfahren, die von der Kommission gegen Polen, Ungarn und die Tschechische Republik eingeleitet worden waren, hat der Gerichtshof entschieden, dass diese drei Mitgliedstaaten durch die Weigerung, den vorübergehenden Mechanismus zur Umsiedlung von internationalen Schutz beantragenden Personen umzusetzen, gegen ihre Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen haben. Diese Mitgliedstaaten können sich weder auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit noch auf das angebliche Nichtfunktionieren des Umsiedlungsmechanismus berufen, um sich der Umsetzung dieses Mechanismus generell zu entziehen. Urteil Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik vom 2. April 2020, C-715/17 u. a.

Schutz personenbezogener Daten



Der Gerichtshof in der digitalen Welt
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Die Europäische Union hat Vorschriften erlassen, die eine solide und kohärente Grundlage für den Schutz personenbezogener Daten bilden, und zwar unabhängig davon, auf welche Art und in welchem Kontext diese Daten erhoben werden (Online-Käufe, Bankdarlehen, Arbeitssuche, Auskunftsersuchen von Behörden). Diese Vorschriften gelten für Personen sowie öffentliche und private Einrichtungen in und außerhalb der Union, darunter Waren oder Dienstleistungen anbietende Unternehmen wie Facebook und Amazon, wenn sie personenbezogene Daten von Unionsbürgern verlangen oder wiederverwenden.

2020 hat sich der Gerichtshof wiederholt zu den Verantwortlichkeiten geäußert, die mit der Erhebung und Verarbeitung dieser Daten durch nationale Behörden, einschließlich der Nachrichtendienste, verbunden sind.

  • Der Gerichtshof hat den Beschluss der Kommission über die Angemessenheit des Mechanismus zum Schutz der aus der Union in die Vereinigten Staaten übermittelten personenbezogenen Daten („Datenschutzschild“) für nichtig erklärt. Dieser Beschluss folgte auf das Urteil Schrems von 2015 (C-362/14), mit dem der Gerichtshof die Entscheidung der Kommission für nichtig erklärt hatte, in der diese festgestellt hatte, dass die Vereinigten Staaten bezüglich der fraglichen Daten ein angemessenes Schutzniveau gewährleisteten („Safe Harbour“). Der Gerichtshof hat beanstandet, dass die Kommission in ihrem neuen Beschluss den Zugriff auf diese Daten und deren Verwendung durch die amerikanischen Behörden, einschließlich der Nachrichtendienste, nicht auf das absolut Notwendige beschränkt hat. Urteil Schrems und Facebook Ireland vom 16. Juli 2020, C-311/18

  • Hinsichtlich der Datenverarbeitung hat der Gerichtshof bestätigt, dass das Unionsrecht grundsätzlich nationalen Regelungen entgegensteht, die Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste im Hinblick auf die Bekämpfung von Straftaten oder der Kriminalität vorschreiben, allgemein und unterschiedslos Verkehrs- und Standortdaten der Nutzer an die Behörden zu übermitteln oder aufzubewahren. Er hat allerdings präzisiert, dass Ausnahmen möglich sind, um schwere Bedrohungen der nationalen Sicherheit abzuwehren, schwere Kriminalität zu bekämpfen oder schwere Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit zu verhüten. Urteile Privacy International und La Quadrature du Net u. a. vom 6. Oktober 2020, C-623/17 und C-511/18 u. a.


  • Schließlich hat der Gerichtshof festgestellt, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, dass es Beschränkungen der Finanzierung von Organisationen der Zivilgesellschaft durch außerhalb dieses Mitgliedstaats ansässige Personen erlassen hat. Ein ungarisches Gesetz sieht nämlich – unter Androhung von Sanktionen Registrierungs-, Melde- und Offenlegungspflichten für Organisationen der Zivilgesellschaft vor, die einen bestimmten Schwellenwert überschreitende Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Der Gerichtshof hat entschieden, dass diese Beschränkungen diskriminierend sind und nicht nur gegen die Kapitalverkehrsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit verstoßen, sondern auch gegen die Grundsätze der Achtung des Privatlebens (siehe Abschnitt „Eine auf den Wert der menschlichen Persönlichkeit und die Rechtsstaatlichkeit gegründete Union“) und des Schutzes personenbezogener Daten. Urteil Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) vom 18. Juni 2020, C-78/18

Verbraucherschutz

Der Verbraucherschutz ist eines der Hauptanliegen der Union. Die Union ist darauf bedacht, die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher zu fördern, die Verbraucherschutzregeln durchzusetzen und die Kenntnis der Verbraucher von ihren Rechten zu verbessern, wo immer in der Union sie leben, reisen oder ihre Einkäufe tätigen.

2020 hat sich der Gerichtshof wiederholt zur Tragweite ihrer Rechte geäußert.

 Der Gerichtshof: Gewährleistung der Verbraucherrechte in der Europäischen Union
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  • Der Gerichtshof hat erstmals die Unionsverordnung ausgelegt, mit der die „Neutralität des Internets" festgeschrieben wird, und zwar in zwei ungarischen Rechtssachen, in denen es um Geschäftspraktiken ging, bei denen Vorzugstarife („Nulltarife“) für die Nutzung bestimmter „privilegierter“ Anwendungen gewährt und zugleich die Nutzung der anderen Anwendungen blockiert oder verlangsamt wurden. Er hat entschieden, dass die Erfordernisse des Schutzes der Rechte der Internetnutzer und der nicht diskriminierenden Behandlung des Datenverkehrs solchen Praktiken entgegenstehen. Urteil Telenor Magyarország Zrt vom 15. September 2020, C-807/18 und C-39/19

  • In Rechtssachen, in denen es um die Vermietung möblierter Wohnungen über die Website Airbnb ging, hat der Gerichtshof entschieden, dass eine nationale Regelung, die die regelmäßige Kurzvermietung einer Wohnung an Personen, die sich nur vorübergehend in der betreffenden Gemeinde aufhalten, ohne dort einen Wohnsitz zu begründen, von einer Genehmigung abhängig macht, mit dem Unionsrecht in Einklang steht. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Bekämpfung des Mangels an Wohnungen, die längerfristig vermietet werden, einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt, der eine solche Regelung rechtfertigt. Urteil Cali Apartments vom 22. September 2020, C-724/18 u. a.

  • Im Zusammenhang mit missbräuchlichen Klauseln in Verbraucherverträgen hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass die Klausel in Hypothekenverträgen, der zufolge ein variabler Zinssatz auf der Grundlage des Index der nationalen Sparkassen gilt, eine missbräuchliche Klausel darstellt, wenn sie nicht klar und verständlich ist. In diesem Fall können die nationalen Gerichte, um den Verbraucher vor besonders nachteiligen Folgen wie z. B. der Nichtigkeit des Darlehensvertrags zu schützen, diese Klausel durch eine Klausel ersetzen, die auf im nationalen Recht verankerten anderen Kriterien beruht. Urteil Gómez del Moral Guasch vom 3. März 2020, C-125/18

  • Der Gerichtshof hat auch klargestellt, dass eine nationale Regelung zwar eine Verjährungsfrist für die Erstattungsklage des Verbrauchers vorsehen kann; diese Frist darf jedoch weder weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen noch die Ausübung der Rechte des Verbrauchers praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Urteil Raiffeisen Bank vom 9. Juli 2020, C-698/18 u. a.

  • Zur Kennzeichnung eines kosmetischen Mittels hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Angabe des „Verwendungszwecks“, die auf dem Behältnis und der Verpackung anzubringen ist, den Verbraucher klar über die Anwendung und die Verwendungsweise des Mittels informieren muss. Die Angaben zu den besonderen Vorsichtsmaßnahmen für den Gebrauch des Mittels, zu seinem Verwendungszweck und zu seinen Bestandteilen können nicht in einem Firmenkatalog vermerkt werden, auf den das Symbol einer Hand mit einem aufgeschlagenen Buch verweist. Urteil A.M./E.M. vom 17. Dezember 2020, C-667/19

  • Im Bereich des Verbraucher- und Umweltschutzes hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Automobilhersteller keine Software in seine Fahrzeuge einbauen darf, die geeignet ist, die Ergebnisse der Zulassungstests in Bezug auf Schadstoffemissionen zu verfälschen. Ein Verbraucher, dem durch den Kauf eines widerrechtlich manipulierten Fahrzeugs ein Schaden entstanden ist, kann den Automobilhersteller vor den Gerichten des Mitgliedstaats verklagen, in dem ihm das Fahrzeug verkauft wurde. Der Schaden des Käufers verwirklicht sich nämlich in dem Mitgliedstaat, in dem er das Fahrzeug zu einem über dem tatsächlichen Wert liegenden Preis erwirbt. Urteil CLCV u. a. vom 17. Dezember 2020, C-693/18 / Urteil Verein für Konsumenteninformation vom 9. Juli 2020, C-343/19

  • Ein besserer Schutz der Verbraucher und der Umwelt ergibt sich auch aus dem Urteil des Gerichts, mit dem die Klage von PlasticsEurope, einem internationalen Verband, der die Interessen von Unternehmen vertritt und verteidigt, die Plastikerzeugnisse herstellen und einführen, abgewiesen und die Entscheidung der Europäischen Chemikalienagentur bestätigt wurde, mit der Bisphenol A als Stoff mit endokrinschädlichen Eigenschaften und wahrscheinlich schwerwiegenden Auswirkungen auf die Umwelt der Genehmigungspflicht unterworfen wird. Urteil PlasticsEurope vom 16. Dezember 2020, T-207/18

  • Zwei 2020 verkündete Urteile betreffen den Verzehr von Fleisch. Der Gerichtshof hat in dem einen Urteil entschieden, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung, nach der Tiere vor der Schlachtung betäubt werden müssen nicht entgegensteht (siehe Abschnitt „Eine auf den Wert der menschlichen Persönlichkeit und die Rechtsstaatlichkeit gegründete Union“). In dem anderen Urteil hat das Gericht die Klage von zweien der weltweit größten Fleischerzeuger und -vertreiber abgewiesen, die die Nichtigerklärung einer Verordnung beantragt hatten, mit der ihnen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit untersagt wurde, bestimmte Erzeugnisse tierischen Ursprungs in die Union auszuführen. Die brasilianischen Behörden gewährten nämlich für bestimmte nationale Betriebe nicht die Garantien, die in der Union im Hinblick auf die öffentliche Gesundheit erforderlich sind. Urteil Centraal Israëlitisch Consistorie van België vom 17. Dezember 2020, C-336/19 / Urteil BRF und SHB Comercio e Industria de Alimentos vom 8. Juli 2020, T-429/18

Luftverkehr

Im vergangenen Jahr hatte der Gerichtshof die Gelegenheit, seine Rechtsprechung auf dem Gebiet des Luftverkehrs weiterzuentwickeln. Ein wiederkehrendes Thema ist die Frage, in welchen Situationen die Fluggäste Ausgleichsleistungen erhalten können. Die Rechte der Verbraucher in diesem Bereich werden so durch die Klarstellungen des Gerichtshofs gestärkt.


Was macht der Gerichtshof für uns?
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  • Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein Fluggast, dessen Flug annulliert wurde oder erheblich verspätet war, die Zahlung der unionsrechtlich vorgesehenen Ausgleichsleistung in der Landeswährung seines Wohnorts verlangen kann. Das Unionsrecht verbietet es, dass der von einem solchen Fluggast gestellte Antrag auf Ausgleichsleistung nur deshalb zurückgewiesen wird, weil er in der nationalen Währung beziffert wurde. Es wäre mit dem Erfordernis einer weiten Auslegung der Fluggastrechte sowie mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung der geschädigten Fluggäste unvereinbar, eine Zahlung in Landeswährung zu verweigern. Urteil Delfly vom 3. September 2020, C-356/19

  • Ein Fluggast verklagte das Luftfahrtunternehmen TAP auf Ausgleichsleistungen, weil sein Flug von Fortaleza (Brasilien) über Lissabon (Portugal) nach Oslo (Norwegen) bei der Ankunft knapp 24 Stunden Verspätung hatte. Diese Verspätung beruhte darauf, dass das Flugzeug, mit dem der Flug Lissabon-Oslo durchgeführt wurde, auf einem vorangegangenen Flug umgeleitet worden war, um einen Fluggast von Bord zu bringen, der andere Fluggäste und Flugbegleiter angegriffen hatte. Der Gerichtshof hat entschieden, dass das störende Verhalten eines Fluggastes das Luftfahrtunternehmen von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen wegen der Annullierung oder großen Verspätung des betreffenden Fluges oder eines nachfolgenden Fluges, den es selbst mit demselben Luftfahrzeug durchgeführt hat, befreien kann. Urteil Transportes Aéreos Portugueses vom 11. Juni 2020, C-74/19

  • Einem kasachischen Fluggast wurde in Larnaka (Zypern) die Beförderung auf einem Flug der rumänischen Fluggesellschaft Blue Air nach Bukarest (Rumänien) verweigert, und zwar mit der Begründung, dass seine Reiseunterlagen unzureichend seien. Von einem zyprischen Gericht befragt, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Fluggesellschaft nicht selbst endgültig darüber entscheiden darf, ob diese Reiseunterlagen unzureichend sind, und dass im Fall einer Klage des Fluggastes das nationale Gericht zu beurteilen hat, ob für die Nichtbeförderung vertretbare Gründe gegeben waren. Wenn dies nicht der Fall ist, hat der Fluggast Anspruch auf die im Unionsrecht vorgesehenen Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen. Urteil Blue Air vom 30. April 2020, C-584/18

  • Die italienische Wettbewerbsbehörde hatte Ryanair vorgeworfen, auf seiner Website Flugpreise veröffentlicht zu haben, bei deren erstmaliger Angabe bestimmte wesentliche Bestandteile fehlten. Dazu befragt, hat der Gerichtshof entschieden, dass Luftfahrtunternehmen bei der Veröffentlichung ihrer Preisangebote ab deren erster Anzeige die Mehrwertsteuer auf Inlandsflüge, die Gebühren für Kreditkartenzahlung und die Check-in-Gebühren, wenn keine andere, kostenfreie Art des Check-ins angeboten wird, angeben müssen. Urteil Ryanair vom 23. April 2020, C-28/19

  • Vom Berufungsgericht Helsinki (Finnland) befragt, hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein Fluggast, der einen Alternativflug akzeptiert hat, der von dem Luftfahrtunternehmen durchgeführt wurde, das den ursprünglich vorgesehenen Flug durchführen sollte und diesen annulliert hatte, Anspruch auf eine Ausgleichszahlung wegen erheblicher Verspätung des Alternativflugs hat. Urteil Finnair vom 12. März 2020, C-832/18

Arbeitnehmer und soziale Sicherheit

Um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien zu fördern, hat die Union die Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten koordiniert. Unter Wahrung der Zuständigkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten für die Organisation ihres jeweiligen Systems versucht das Unionsrecht insbesondere im Namen des Grundsatzes der Gleichbehandlung, die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen entsandter Arbeitnehmer möglichst weitgehend denen von Arbeitnehmern anzugleichen, die von im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Unternehmen beschäftigt werden. Damit will das Unionsrecht die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer bestmöglich schützen.

Jahr für Jahr muss der Gerichtshof das Unionsrecht auf diesem Gebiet bei zahlreichen Gelegenheiten auslegen. 2020 bildet insoweit keine Ausnahme.


Der Gerichtshof am Arbeitsplatz Schutz der Arbeitnehmerrechte
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  • Mit einer Frage zu dem vom Großherzogtum Luxemburg gezahlten Kindergeld befasst, hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Mitgliedstaat, der Kindergeld für alle im Inland wohnenden Kinder zahlt, diese Leistung Kindern des Ehepartners eines Grenzgängers, der zu ihnen in keinem Abstammungsverhältnis steht, aber zu ihrem Unterhalt beiträgt, nicht verweigern kann. Denn das Kindergeld, das eine soziale Vergünstigung und eine Leistung der sozialen Sicherheit darstellt, unterliegt dem Gleichbehandlungsgrundsatz, auf den sich die Grenzgänger und mittelbar ihre Familienangehörigen berufen können. Urteil Caisse pour l'avenir des enfants vom 2. April 2020, C-802/18

  • Im Kontext eines Rechtsstreits zwischen einer deutschen Schülerin, die in Frankreich wohnte, und dem Land Rheinland-Pfalz, wo sie eine Sekundarschule besuchte, hat der Gerichtshof befunden, dass es eine unionsrechtlich grundsätzlich verbotene mittelbare Diskriminierung von Grenzgängern und ihrer Familien darstellt, wenn die Übernahme der Kosten der Schülerbeförderung von der Voraussetzung eines Wohnsitzes im betreffenden Bundesland abhängig gemacht wird. Im Fall der Schülerbeförderung im Land Rheinland-Pfalz ist dieses Wohnsitzerfordernis nicht durch die effiziente Organisation des Schulsystems als zwingender Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt. Urteil Landkreis Südliche Weinstraße/PF u. a. vom 2. April 2020, C-830/18

  • Der Gerichtshof hat die Nichtigkeitsklagen Ungarns und Polens gegen die Richtlinie zur Stärkung der Rechte entsandter Arbeitnehmer abgewiesen. Insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklung des Binnenmarkts nach den schrittweisen Erweiterungen der Union durfte der Unionsgesetzgeber eine Neubewertung der Interessen der Unternehmen, die vom freien Dienstleistungsverkehr Gebrauch machen, und der Interessen ihrer in einen Aufnahmemitgliedstaat entsandten Arbeitnehmer vornehmen, um sicherzustellen, dass der freie Dienstleistungsverkehr unter gleichen Wettbewerbsbedingungen für diese Unternehmen und die des Aufnahmemitgliedstaats erfolgt. Urteile Ungarn und Polen/Parlament und Rat vom 8. Dezember 2020, C-620/18 und C-626/18

  • In einer Rechtssache, die einen niederländischen Spediteur betraf, der Fahrer aus Deutschland und Ungarn beschäftigte, hat der Gerichtshof entschieden, dass die Entsendungsrichtlinie grundsätzlich auf den Güterkraftverkehr – auch den grenzüberschreitenden – anwendbar ist. Daher gelten die Tarifverträge des Aufnahmemitgliedstaats für die dorthin entsandten Arbeitnehmer. Dass ein im grenzüberschreitenden Verkehr tätiger Kraftfahrer, der einem Unternehmen im Aufnahmemitgliedstaat überlassen wird, dort die mit seinen Aufgaben zusammenhängenden Anweisungen erhält und seine Aufgaben dort beginnt oder beendet, reicht allerdings für sich genommen nicht für die Annahme aus, dass der Fahrer in diesen Mitgliedstaat entsandt worden ist. Urteil Federatie Nederlandse Vakbeweging vom 1. Dezember 2020, C-815/18

  • Die spanische Fluggesellschaft Vueling wurde in Frankreich wegen Sozialbetrugs strafrechtlich verurteilt, weil sie ihr an den Pariser Flughafen Roissy-Charles De Gaulle entsandtes fliegendes Personal bei der spanischen statt der französischen Sozialversicherung versichert hatte. Nach Auffassung des Gerichtshofs kann diese rechtskräftige Feststellung eines Betrugs die französischen Zivilgerichte, bei denen auf Schadensersatz geklagt wird, jedoch dann nicht binden, wenn dieser Feststellung unter Verstoß gegen das Unionsrecht kein Dialog mit dem spanischen Versicherungsträger vorausgegangen war, der diesen in die Lage versetzt, den Fall zu überprüfen und gegebenenfalls die Bescheinigungen über die Zugehörigkeit der Arbeitnehmer zur spanischen Sozialversicherung für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen. Urteil CRPNPAC und Vueling Airlines vom 2. April 2020, C-370/17 u. a.

  • In Bezug auf das Recht auf bezahlten Jahresurlaub hat der Gerichtshof erläutert, dass ein Arbeitnehmer, der rechtswidrig entlassen worden war und dann wieder seine ursprüngliche Beschäftigung aufgenommen hatte, für die Zeit zwischen diesen beiden Zeitpunkten auch dann Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub hat, wenn er in dieser Zeit nicht gearbeitet hat. Ist der Arbeitnehmer in dieser Zeit jedoch einer neuen Beschäftigung nachgegangen, kann er die Ansprüche, die dem Zeitraum entsprechen, in dem er dieser Beschäftigung nachgegangen ist, nur gegenüber dem neuen Arbeitgeber geltend machen. Urteil Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca vom 25. Juni 2020, C-762/18 u. a.

Staatliche Beihilfen

Die mit staatlichen Beihilfen verbundenen Probleme werfen strategische und komplexe Fragen nach der Auslegung und Anwendung der unionsrechtlichen Regeln auf.

2020 hatten der Gerichtshof und das Gericht über beihilferechtliche Beschlüsse zu befinden, die Schlüsselbereiche der Wirtschaft der Mitgliedstaaten betrafen. Diese Rechtssachen spiegeln die Schwierigkeiten bei der Anwendung der beihilferechtlichen Regeln in Bereichen wie dem Steuerwesen, der Energiepolitik, dem Umweltschutz oder der gesetzlichen Krankenversicherung wider.

  • Die von Österreich gestellte Frage, ob die Kommission die staatliche Beihilfe für den Bau des Kernkraftwerks Hinkley Point C im Vereinigten Königreich genehmigen durfte weil sie die Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete fördern soll, hat der Gerichtshof bejaht. Er hat darauf hingewiesen, dass das Vereinigte Königreich vorbehaltlich der Beachtung der unionsrechtlichen Umweltschutzregelungen frei bestimmen kann, wie sich sein Energiemix zusammensetzt. Urteil Österreich/Kommission vom 22. September 2020, C-594/18 P

  • Der Gerichtshof hatte außerdem zu prüfen, ob zwei Krankenversicherungsträgern, die unter der Kontrolle des slowakischen Staates im Rahmen eines gesetzlichen Krankenversicherungssystems tätig waren, staatliche Mittel gewährt werden durften. Er hat festgestellt, dass dieses System, obwohl ein gewisser Wettbewerb zwischen den verschiedenen privaten und öffentlichen Trägern besteht, ein soziales und solidaritätsbezogenes Ziel verfolgt. Daher hat er unter Bestätigung des Beschlusses der Kommission entschieden, dass die beiden fraglichen Träger nicht unter die Unionsvorschriften über staatliche Beihilfen fallen. Urteil Kommission und Slowakei/Dôvera zdravotná poistʼovňa vom 11. Juni 2020, C-262/18 P u. a.

  • Der Gerichtshof hat auch untersucht, welcher Art die Subventionen waren, die Frankreich in Form von Ermäßigungen der Gehaltsabzüge Fischerei- und Aquakulturunternehmen, die durch die Havarie des Schiffes Erika und die starken Stürme von 1999 geschädigt wurden, gewährt hatte. Er hat insbesondere festgestellt, dass diese Ermäßigungen nicht die den Unternehmen obliegenden Abgaben betrafen, sondern die Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten. Sie verschafften somit den Unternehmen keinen Vorteil, so dass die Unionvorschriften über staatliche Beihilfen, die nur für Unternehmen gelten, in diesem Fall nicht anwendbar waren. Der Gerichtshof hat daher die Entscheidung der Kommission, mit der Frankreich aufgegeben wurde, diese Subventionen zurückzufordern, teilweise für nichtig erklärt. Urteil Ministre de lʼAgriculture et de l'Alimentation/ Compagnie des pêches de Saint-Malo vom 17. September 2020, C-212/19

  • Dagegen hat der Gerichtshof Italien zur Zahlung eines Pauschalbetrags von 7,5 Mio. Euro und eines Zwangsgelds von täglich 80 000 Euro verurteilt, weil es rechtswidrig an den Hotelsektor in Sardinien gewährte Beihilfen in Höhe von etwa 13,7 Mio. Euro nicht zurückgefordert hat. Obwohl die Kommission 2008 Italien aufgegeben hatte, diese Beihilfen zurückzufordern, und der Gerichtshof 2012 insoweit eine Vertragsverletzung Italiens festgestellt hatte, war dieser Mitgliedstaat seiner Rückforderungspflicht noch immer nicht nachgekommen. Die Kommission erhob daher eine zweite Vertragsverletzungsklage auf Verhängung finanzieller Sanktionen gegen Italien, der der Gerichtshof stattgegeben hat. Urteil Kommission/Italien vom 12. März 2020, C-576/18

  • Das Gericht hat seinerseits den Beschluss der Kommission, mit dem die irischen Steuervorbescheide zugunsten von Apple als rechtswidrige staatliche Beihilfe eingestuft wurden, für nichtig erklärt. Nach Auffassung der Kommission hatte Irland Apple etwa 13 Mrd. Euro an rechtswidrigen Steuervorteilen gewährt, die es daher von Apple zurückfordern müsse. Das Gericht hat jedoch festgestellt, dass die Kommission nicht hinreichend nachgewiesen hat, dass die Steuervorbescheide Apple einen selektiven wirtschaftlichen Vorteil verschafften und damit eine staatliche Beihilfe zugunsten dieses Unternehmens vorlag. Urteil Irland/Kommission und Apple Sales International vom 15. Juli 2020, T-778/16 u. a.

  • Das Gericht hat ferner den Beschluss der Kommission, mit dem Beihilfen der Autonomen Gemeinschaft von Valencia (Spanien) zugunsten der spanischen Fußballvereine Valencia CF und Elche CF für rechtswidrig erklärt wurden, für nichtig erklärt. Nach Ansicht der Kommission handelte es sich um Beihilfen in Form von Bürgschaften für Vereinigungen, die mit diesen Fußballvereinen in Verbindung stehen, zur Absicherung von Bankdarlehen, die von diesen Vereinigungen aufgenommen wurden, um sich an der Erhöhung des Kapitals der betreffenden Vereine zu beteiligen. Das Gericht hat jedoch entschieden, dass der Beschluss der Kommission mehrere Fehler aufwies, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob auf dem Markt vergleichbare Bürgschaften angeboten wurden. Urteile Valencia Club de Fútbol und Elche Club de Fútbol vom 12. März 2020, T-732/16 und T-901/16

  • Dagegen hat das Gericht die Klagen gegen den Beschluss der Kommission abgewiesen, mit dem die Beihilfe der Autonomen Region Sardinien zugunsten mehrerer Luftverkehrsunternehmen, die Sardinien anfliegen, für rechtswidrig erklärt wurden. Diese Beihilfe, die die Flugverbindungen zur Insel verbessern und sie als Reiseziel fördern sollten, war den Begünstigten über die Betreiber der wichtigsten sardischen Flughäfen zur Verfügung gestellt worden. Das Gericht hat bestätigt, dass die Beihilfe nicht diesen Betreibern, sondern den betreffenden Luftverkehrsunternehmen gewährt worden war, die sie somit zurückzahlen müssen. Urteile Volotea, Germanwings und easyJet vom 13. Mai 2020, T-607/17, T-716/17 und T-8/18

  • Das Gericht hat außerdem den Beschluss der Kommission bestätigt, wonach die spanische Steuerregelung für bestimmte von Werften mit wirtschaftlichen Interessenvereinigungen (WIV) geschlossene Finanzierungs-Leasingvereinbarungen als Anlageinstrument, das Steuervergünstigungen ermöglichte, eine Beihilferegelung zugunsten der Mitglieder der WIV darstellte. Nach Auffassung der Kommission war diese Regelung, in deren Rahmen eine Reederei ein Schiff nicht direkt bei einer Werft, sondern über eine WIV kauft, teilweise mit dem Binnenmarkt unvereinbar, und zwar insoweit, als sie es den Reedereien ermöglichte, einen Nachlass von 20 bis 30 % auf den Kaufpreis von Schiffen zu erhalten, die von spanischen Werften gebaut wurden. Urteil Spanien/Kommission vom 23. September 2020, T-515/13 RENV u. a.

  • Schließlich hat das Gericht den Beschluss bestätigt, mit dem die Kommission festgestellt hatte, dass die unbeschränkte staatliche Garantie, die Frankreich dem IFP Énergies nouvelles (IFPEN) gewährt hatte, einer französischen öffentlichen Einrichtung, die insbesondere mit Forschungs- und Entwicklungsaufgaben im Energiebereich betraut ist, eine Maßnahme war, die teilweise eine staatliche Beihilfe darstellte. Das Gericht hat die Auffassung vertreten, dass es dem IFPEN und Frankreich nicht gelungen war, die Vermutung zu widerlegen, wonach die Gewährung einer solchen Garantie dem Begünstigten einen wirtschaftlichen Vorteil gegenüber seinen Wettbewerbern verschaffe. Urteil Frankreich/Kommission u. a. vom 5. Oktober 2020, T-479/11 RENV u. a.

Wettbewerb

Der freie Wettbewerb trägt zur Förderung des Wohlergehens der Unionsbürger bei, indem ihnen eine größere Auswahl an Produkten und Dienstleistungen von besserer Qualität zu wettbewerbsfähigeren Preisen angeboten wird. Um dieses Ergebnis zu erreichen, sorgt das Unionsrecht dafür, dass Beschränkungen und Verzerrungen des Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt verhindert werden. Die wichtigsten Rechtsnormen auf diesem Gebiet sind im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankert: Sie verbieten sowohl Kartelle, die den freien Wettbewerb behindern können, als auch die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung.

2020 haben der Gerichtshof und das Gericht die Wettbewerbsregeln in zahlreichen Rechtssachen, die verschiedene Wirtschaftszweige betrafen, ausgelegt und angewandt.

Gericht der EU - Gewährleistung der Einhaltung des EU-Rechts durch die Organe

Vgl. das YouTube-Video

  • Das Gericht hat Nachprüfungsbeschlüsse der Kommission, die aufgrund des Verdachts auf wettbewerbswidrige Praktiken mehrerer französischer Unternehmen des Vertriebssektors ergangen sind, teilweise für nichtig erklärt. Es hat entschieden, dass die Kommission nicht nachgewiesen hat, dass sie über hinreichend ernsthafte Indizien verfügte, die einen Austausch von Informationen über die künftigen Geschäftsstrategien der betroffenen Unternehmen vermuten ließen. Urteile Casino u. a. vom 5. Oktober 2020, T-249/17 u. a.

  • Das Gericht hat das von der Kommission festgestellte Vorliegen eines Kartells auf dem Markt für Smartcard-Chips bestätigt, in dessen Rahmen mehrere Unternehmen ihre Preispolitik abgesprochen hatten. Das Gericht hat allerdings die von der Kommission, insbesondere gegen Infineon, verhängte Geldbuße herabgesetzt, da dieses Unternehmen nur wenige wettbewerbswidrige Kontakte mit seinen Konkurrenten gehabt und die Kommission einen der von ihr berücksichtigten Kontakte nicht nachgewiesen hatte. Urteil Infineon Technologies vom 8. Juli 2020, T-758/14 RENV

  • Erstmals hatte das Gericht über die Rechtmäßigkeit von Regeln eines internationalen Sportverbands zu befinden. Das Gericht hat entschieden, dass die Regeln der International Skating Union (Internationale Eislaufunion) den freien Wettbewerb behindern, weil sie Sanktionen gegen Sportler vorsehen, die an nicht von ihr anerkannten Eisschnelllauf- Wettkämpfen teilnehmen. Das Gericht war der Auffassung, dass sich die Beschränkungen, die sich aus der in der fraglichen Regelung vorgesehenen Vorabgenehmigungsregelung ergeben, nicht mit dem Ziel des Schutzes der Integrität des Sports rechtfertigen lassen. Urteil International Skating Union vom 16. Dezember 2020, T-93/18

  • Das Gericht hat den Beschluss der Kommission bestätigt, mit dem ein Missbrauch der beherrschenden Stellung der Lietuvos geležinkeliai AB (LG), des staatlichen Eisenbahnunternehmens Litauens auf dem litauischen Markt für den Schienengüterverkehr festgestellt wurde. LG hatte mit dem Unternehmen Orlen eine Schienengüterverkehrsvereinbarung über die Beförderung von Mineralölerzeugnissen nach Westeuropa geschlossen. Nach einem Rechtsstreit mit LG wollte Orlen die staatliche Eisenbahngesellschaft Lettlands mit dieser Beförderung beauftragen. LG hinderte das konkurrierende lettische Unternehmen jedoch daran, den Vertrag mit Orlen abzuschließen, indem sie die Gleisstrecke abbaute, die den litauischen Ort, von dem aus die Güter verbracht werden sollten, mit Lettland verband. Ein solches Verhalten stellt nach Auffassung des Gerichts einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung dar. Urteil Lietuvos geležinkeliai AB vom 18. November 2020, T-814/17

  • Im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einer Gesellschaft, die ein Hotel in Deutschland betreibt, und der Gesellschaft niederländischen Rechts Booking.com BV, die eine Buchungsplattform für Unterkünfte betreibt, hat der Gerichtshof, der von einem deutschen Gericht angerufen worden war, entschieden, dass ein Hotel, das die Plattform Booking.com nutzt, diese vor einem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Hotel liegt, auf Unterlassung eines etwaigen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung verklagen kann. Er ist daher nicht der Auffassung von Booking.com gefolgt, wonach die Klage bei einem Gericht in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz habe, zu erheben sei. Urteil Wikingerhof GmbH & Co. KG/Booking.com BV vom 24. November 2020, C-59/19

  • Eine beherrschende Stellung auf dem Markt der elektronischen Kommunikation und dem der Medien kann den Informationspluralismus gefährden. Diese Erwägung lag einer italienischen Regelung zugrunde, die es Unternehmen, die auf ersterem Markt eine bedeutende Stellung haben, untersagt, eine wichtige wirtschaftliche Dimension auf letzterem Markt zu erlangen. Im Kontext einer von der französischen Gesellschaft Vivendi lancierten Kampagne zur feindlichen Übernahme von Anteilen der italienischen Gesellschaft Mediaset und der sich daran anschließenden Rechtsstreitigkeiten hat der Gerichtshof allerdings entschieden, dass eine solche Regelung eine verbotene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt, wenn sie nicht zur Erreichung des Ziels, den Informationspluralismus zu schützen, geeignet ist. Urteil Vivendi SA vom 3. September 2020, C-719/18

  • Im Rahmen der Fusionskontrolle, hat das Gericht den Beschluss der Kommission, mit dem die Genehmigung für die geplante Übernahme von Telefónica UK durch Hutchison 3G UK versagt wurde, für nichtig erklärt. Es hat entschieden, dass die Kommission weder nachgewiesen hat, dass diese Übernahme einen effizienten Wettbewerb auf dem britischen Mobilfunkmarkt erheblich behindern würde, noch, dass sie zu einer Erhöhung der Preise der Dienstleistungen führen und sich negativ auf deren Qualität auswirken würde. Urteil CK Telecoms UK Investments vom 28. Mai 2020, T-399/16

Bankensektor und Steuerwesen

Die Regeln über den Binnenmarkt der Union ermöglichen es, Waren und Dienstleistungen innerhalb der Union frei zu vertreiben. Um insbesondere Verzerrungen des Wettbewerbs zwischen Unternehmen zu vermeiden, sind die Mitgliedstaaten übereingekommen, ihre Regeln über die Besteuerungen von Waren und Dienstleistungen einander anzugleichen. Auf Ebene der Union wurden außerdem Maßnahmen ergriffen, um die Wirtschaftspolitik sowie die Regeln über die Besteuerung von Gesellschaften und Einkommen in gewissem Umfang zu koordinieren, um sie fair, effizient und wachstumsfördernd zu gestalten. Es liegt jedoch in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, zu bestimmen, wie hoch die von Einzelnen zu zahlenden Steuern sind und wozu die erhobenen Steuern verwendet werden.

  • In einer Rechtssache, die das Unternehmen Google Ireland betraf, hat der Gerichtshof entschieden, dass eine ungarische Regelung, nach der in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Werbedienstleister im Hinblick auf die ungarische Werbesteuer einer Anmeldepflicht unterliegen, mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs, vereinbar ist. Dieser Grundsatz und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stehen hingegen einer anderen ungarischen Regelung entgegen, nach der gegen Dienstleister, die dieser Anmeldepflicht nicht nachgekommen sind, Geldbußen verhängt werden, die sich nach wenigen Tagen auf mehrere Millionen Euro belaufen können. Urteil Google Ireland vom 3. März 2020, C-482/18

  • In einer anderen ungarischen Rechtssache hat der Gerichtshof entschieden, dass die in Ungarn auf den Umsatz von Telekommunikations- und Einzelhandelsunternehmen erhobenen Sondersteuern mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Diese Unternehmen, die hauptsächlich von natürlichen und juristischen Personen aus anderen Mitgliedstaaten gehalten werden, erzielen die höchsten Umsätze auf den betreffenden ungarischen Märkten und tragen daher den Großteil dieser Sondersteuern. Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass dieser Umstand die wirtschaftliche Realität dieser Märkte widerspiegelt und daher keine Diskriminierung der betreffenden Unternehmen darstellt. Urteile Vodafone Magyarország und Tesco-Global Áruházak vom 3. März 2020, C-75/18 und C-323/18

  • 2020 hat das Gericht die ersten vier Urteile zu Beschlüssen der Europäischen Zentralbank (EZB) erlassen, mit denen im Rahmen der Aufsicht über Kreditinstitute Geldbußen verhängt wurden. Es hat drei Beschlüsse wegen unzureichender Begründung teilweise für nichtig erklärt, weil diese keine genauen Angaben zu der von der EZB zur Bemessung der verhängten Geldbußen angewandten Methodik enthielten. Urteile VQ/EZB vom 8. Juli 2020, T-203/18, T-576/18, T-577/18 und T-578/18

Geistiges Eigentum

Der Gerichtshof und das Gericht gewährleisten die Auslegung und Anwendung der Vorschriften, die die Union erlassen hat, um das geistige Eigentum (Urheberrecht, Markenrecht, Geschmacksmusterschutz) zu schützen und zu verteidigen und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu stärken.

Im Jahr 2020 haben die beiden Unionsgerichte bei zahlreichen Gelegenheiten auf diesem Gebiet Recht gesprochen und dabei sowohl die Grenzen der Haftung für Verletzungen der Rechte des geistigen Eigentums als auch die Voraussetzungen, unter denen das geistige Eigentum geschützt ist, erläutert, wobei im Markenrecht das besondere Augenmerk auf den Begriffen „Unterscheidungskraft“ und „Verwechslungsgefahr“ lag.

  • In Bezug auf die Haftung von Personen und Unternehmen für Verletzungen der Rechte aus einer Unionsmarke hat der Gerichtshof entschieden, dass die bloße Lagerung von markenrechtsverletzenden Waren durch Amazon im Rahmen ihres Online- Marktplatzes (Amazon-Marketplace) keine Markenrechtsverletzung durch Amazon darstellt. Ein Unternehmen, das Waren für einen Drittanbieter von gefälschten Produkten ohne Kenntnis von der Markenrechtsverletzung lagert, benutzt die Marke nicht auf unzulässige Weise selbst, wenn es nicht wie der Verkäufer das Ziel verfolgt, die Waren zum Verkauf anzubieten oder in den Verkehr zu bringen. Urteil Coty Germany vom 2. April 2020, C-567/18 u. a.

  • Hinsichtlich der Unterscheidungskraft, die für die Gültigkeit einer Marke erforderlich ist, hat das Gericht darauf hingewiesen, dass eine Form, deren Eintragung als dreidimensionale Marke beantragt wird, nicht unterscheidungskräftig ist, wenn sie nicht erheblich von der Norm und der Branchenüblichkeit abweicht. So reicht es bei einem Schnürsenkel für die Unterscheidungskraft nicht aus, dass seine Form neu und sein Design schön ist. Die Funktion einer Marke besteht nämlich darin, auf die betriebliche Herkunft der Ware hinzuweisen und es so den Verbrauchern zu ermöglichen, bestimmte Waren einem bestimmten Unternehmen zuzuordnen. Urteil Hickies vom 5. Februar 2020, T-573/18

  • Im gleichen Sinne, aber diesmal zu einer Bildmarke, hat das Gericht ausgeführt, dass das Motiv eines von einer Panzerkette eingefassten Löwenkopfes eine verbreitete und typische Gestaltungsform von Knöpfen und Schmuck darstellt und damit für diese Waren nicht unterscheidungskräftig ist. In einer anderen Rechtssache hat es dagegen beanstandet, dass das EUIPO bei der Beurteilung der Frage, ob eine in einem Schachbrettmuster bestehende Marke für Taschen und Gepäck Unterscheidungskraft durch Benutzung erworben hat, bestimmte Beweise nicht berücksichtigt hatte. Urteile Pierre Balmain vom 5. Februar 2020, T-331/19 und T-332/19 / Urteil Louis Vuitton Malletier vom 10. Juni 2020, T-105/19

  • Eine Wortmarke ist auch dann nicht unterscheidungskräftig, wenn sie lediglich eine Eigenschaft der Ware beschreibt, für die ihre Eintragung beantragt wird. Das Gericht hat entschieden, dass die Wortmarke WAVE für Aquarienleuchten Unterscheidungskraft besitzen kann, weil das Wort „wave“ keine Eigenschaft dieser Leuchten beschreibt. Urteil Tetra GmbH vom 23. September 2020, T-869/19

  • Eben unter dem Gesichtspunkt einer nur geringen Unterscheidungskraft von zwei Zeichen, die ein Horn darstellen, um Postdienstleistungen zu bezeichnen, hat das Gericht eine Verwechslungsgefahr zwischen den Zeichen verneint. Die Darstellung eines Posthorns, oft auf einem gelben Hintergrund, wird traditionell von den nationalen Postbetreibern in der Union verwendet. Die Öffentlichkeit assoziiert das Posthorn oder die gelbe Farbe daher nicht mit einem bestimmten Unternehmen, sondern mit einer unbestimmten Zahl von nationalen Postbetreibern. Urteil Deutsche Post vom 11. November 2020, T-25/20

  • Ebenfalls zur Verwechslungsgefahr zwischen zwei Marken, diesmal aber solchen für Sportartikel und Sportbekleidung, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Bekanntheit des Fußballspielers Lionel Messi geeignet ist, die Gefahr der Verwechslung zwischen seiner Marke MESSI und der älteren Marke MASSI eines spanischen Unternehmens auszuschließen. Urteil Messi vom 17. September 2020, C-449/18 u. a.

  • In einer weiteren Rechtssache, in der es um die Frage ging, ob eine Verwechslungsgefahr vorliegt, hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass der Umstand, dass zwei Marken dasselbe Wort enthalten (in diesem Fall das Wort „Teruel“ in den Marken AIRESANO BLACK El IBERICO DE TERUEL und JAMON DE TERUEL CONSEJO REGULADOR DE LA DENOMINACION DE ORIGEN), nicht ausreicht, um eine Verwechslungsgefahr hervorzurufen. Urteil Consejo Regulador vom 28. Mai 2020, T-696/18

  • Zum Kriterium der Ähnlichkeit zweier Marken hat das Gericht festgestellt, dass die für industrielle Dienstleistungen angemeldete Wortmarke LOTTOLAND eine starke Ähnlichkeit mit den älteren, für Glücksspiele angemeldeten Bildmarken LOTTO aufweist. Allerdings besteht zwischen der Wortmarke und den Bildmarken kein Zusammenhang, da die betreffenden Dienstleistungen verschiedenartig sind und unterschiedliche Verkehrskreise angesprochen werden. In Anbetracht dieses fehlenden Zusammenhangs, wird mit der Benutzung der Marke LOTTOLAND die Unterscheidungskraft oder die Wertschätzung der älteren Marken nicht in unlauterer Weise ausgenutzt, so dass diese nicht beeinträchtigt werden. Urteil Lottoland vom 11. November 2020, T-820/19

  • Bisweilen kommt es vor, dass sich in einem Rechtsstreit über unterscheidungskräftige Zeichen nicht Privatpersonen oder Unternehmen gegenüberstehen, sondern Mitgliedstaaten. So verhielt es sich in dem Rechtsstreit, in dem es um die Verwendung des Begriffs „Teran“ für eine Keltertraubensorte ging, die in Slowenien und Kroatien angebaut wird. Nach dem Beitritt von Slowenien zur Union im Jahr 2004 wurde diese Bezeichnung als geschützte Ursprungsbezeichnung (g. U.) anerkannt. 2017 wurde in einer Verordnung festgelegt, dass der Begriff „Teran“ nach dem Beitritt Kroatiens zur Union im Jahr 2013 auch für bestimmte kroatische Weine verwendet werden darf. Das Gericht hat die Klage Sloweniens auf Nichtigerklärung dieser Verordnung, die es ermöglicht, dass die g. U. friedlich nebeneinander bestehen, ohne dass die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes beeinträchtigt würden, abgewiesen. Urteil Slowenien/Kommission vom 9. September 2020, T-626/17

Arbeitsweise der europäischen Organe

Es obliegt den beiden Unionsgerichten, zu überprüfen, ob die Handlungen (oder die Unterlassung, bestimmte Handlungen vorzunehmen) der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union mit dem Unionsrecht im Einklang stehen. Somit garantieren der Gerichtshof und das Gericht den gerichtlichen Schutz der Rechte Einzelner, wenn diese unmittelbar und individuell von Entscheidungen betroffen sind, die auf Ebene der Union getroffen werden. Dagegen sind nur die nationalen Gerichte zuständig, wenn es um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Handlungen nationaler Behörden anhand des nationalen Rechts geht.

  • Die Unionsgerichte wurden mehrfach von Herrn Junqueras i Vies, dem Vizepräsidenten des Gobierno autonómico de Cataluña (autonome Regierung von Katalonien, Spanien), im Zusammenhang mit seiner Wahl in das Europäische Parlament im Jahr 2019 angerufen. Der Vizepräsident des Gerichts und dann – im Rahmen eines Rechtsmittels – die Vizepräsidentin des Gerichtshofs haben seinen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, mit dem er seine parlamentarische Immunität schützen wollte, zurückgewiesen. Das Gericht hat ferner seinen Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung des Europäischen Parlaments, mit der das Freiwerden seines Sitzes festgestellt wurde, für unzulässig erklärt. Das Europäische Parlament konnte nämlich nicht die Entscheidungen der spanischen Behörden, die auf der Grundlage des nationalen Rechts den Verlust des Mandats von Herrn Junqueras i Vies und das Freiwerden seines Sitzes im Europäischen Parlament festgestellt hatten, in Frage stellen. Beschluss Junqueras i Vies vom 3. März 2020, T-24/20 R / Beschluss Junqueras i Vies vom 8. Oktober 2020, C-201/20 P(R) / Beschluss Junqueras i Vies vom 15. Dezember 2020, T-24/20

  • Das Gericht hat eine Klage auf Feststellung, dass der Europäische Rat es rechtswidrig unterlassen habe, den tschechischen Premierminister wegen eines behaupteten Interessenkonflikts von seinen Tagungen über die Annahme des mehrjährigen Finanzrahmens der Union 2021/2027 auszuschließen, abgewiesen. Das Gericht hat die Auffassung vertreten, dass nur die Mitgliedstaaten dafür zuständig sind, zu bestimmen, wer – der Staats- oder der Regierungschef – sie bei den Tagungen des Europäischen Rates vertreten soll, und die Gründe festzulegen, die dazu führen können, dass eine dieser Personen sie bei diesen Tagungen nicht vertreten kann. Beschluss Wagenknecht vom 17. Juli 2020, T-715/19

  • Herr Shindler und andere Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs leben seit langem in Italien und Frankreich. Daher waren sie weder beim Referendum über den Brexit noch bei den Parlamentswahlen von 2017 stimmberechtigt, obwohl diese Abstimmungen entscheidend dafür waren, dass sie ihre Eigenschaft als Unionsbürger behalten konnten. Sie klagten daher beim Gericht auf Feststellung, dass die Kommission es rechtswidrig unterlassen hat, ihre Unionsbürgerschaft zu bewahren. Das Gericht hat die Klage abgewiesen, da die Kommission nicht befugt ist, einen verbindlichen Rechtsakt zu erlassen, durch den die Unionsbürgerschaft bestimmter Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs nach dessen Austritt aus der Union aufrechterhalten wird. Beschluss Shindler vom 14. Juli 2020, T-627/19

B | KENNZAHLEN DER RECHTSPRECHUNGSTÄTIGKEIT

Gerichtshof

Der Gerichtshof kann vor allem befasst werden

  • mit Vorabentscheidungsersuchen, wenn ein nationales Gericht Zweifel hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit eines von der Union erlassenen Rechtsakts hat. Das nationale Gericht setzt dann das bei ihm anhängige Verfahren aus und ruft den Gerichtshof an, der über die Auslegung oder die Gültigkeit der fraglichen Bestimmungen entscheidet. Nach dieser Klärung durch den Gerichtshof kann das nationale Gericht über den ihm vorliegenden Rechtsstreit befinden. Für Rechtssachen, in denen eine besonders rasche Antwort geboten ist (wenn es z. B. um Asyl, Grenzkontrollen oder Kindesentführungen geht), ist ein Eilvorabentscheidungsverfahren vorgesehen;
  • mit Rechtsmitteln gegen Entscheidungen des Gerichts, die einen Rechtsbehelf darstellen, in dessen Rahmen der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts aufheben kann;
  • mit Klagen, die in erster Linie gerichtet sind:
    • auf Nichtigerklärung eines Rechtsakts der Union (Nichtigkeitsklage) oder
    • auf Feststellung, dass ein Mitgliedstaat gegen das Unionsrecht verstoßen hat (Vertragsverletzungsklage). Kommt der Mitgliedstaat dem Urteil, mit dem die Vertragsverletzung festgestellt wurde, nicht nach, kann eine zweite Klage wegen „doppelter Vertragsverletzung“ dazu führen, dass der Gerichtshof eine finanzielle Sanktion gegen den Mitgliedstaat verhängt;
  • mit Ersuchen um ein Gutachten über die Vereinbarkeit einer Übereinkunft, die die Union mit einem Drittstaat oder einer internationalen Organisation schließen will, mit den Verträgen. Das Ersuchen kann von einem Mitgliedstaat oder einem europäischen Organ (Parlament, Rat oder Kommission) eingereicht werden.

735 neue Rechtssachen

Vorabentscheidungs- verfahren 556 davon 9 Eilvorabentscheidungs- verfahren

Mitgliedstaaten, aus denen die meisten Ersuchen stammen Deutschland 139 Österreich 50 Italien 44 Polen 41 Belgien 36

37 Klagen davon 18 Vertragsverletzungsklagen und davon 2 Klagen wegen „doppelter Vertragsverletzung“

131 Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts

1 Gutachtenantrag

8 Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

Eine Partei, die außerstande ist, die Verfahrenskosten zu bestreiten, kann Prozesskostenhilfe beantragen

792 erledigte Rechtssachen

Vorabentscheidungs-verfahren

534 davon 9 Eilvorabentscheidungs-verfahren

37 Klagen davon

including 26 festgestellte Vertragsverletzungen gegen 14 Mitgliedstaaten davon

3 Urteile wegen „doppelter Vertragsverletzung“

204 Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts davon

davon 40 die zur Aufhebung der Entscheidung des Gerichts geführt haben

15.4 Durchschnittliche Verfahrensdauer 15,4 Monate

3.9 Eilvorabentscheidungsverfahren Monate

1 045 Anhängige Rechtssachen am 31. Dezember 2020

Wichtigste behandelte Sachgebiete

Geistiges und gewerbliches Eigentum 27

Landwirtschaft 26

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 119

Sozialrecht 56

Staatliche Beihilfen und Wettbewerb 104

Steuerwesen 95

Umwelt 48

Verbraucherschutz 56

Verkehr 86

Verkehrs- und Niederlassungsfreiheit und Binnenmarkt 96

Zollunion 24

Gericht

Das Gericht entscheidet im ersten Rechtszug über Klagen von natürlichen Personen oder juristischen Personen (Gesellschaften, Vereinigungen etc.) und Mitgliedstaaten gegen Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union sowie über Klagen auf Ersatz eines von den Organen oder ihren Bediensteten verursachten Schadens. Eine große Zahl der Streitsachen ist wirtschaftlicher Natur: geistiges Eigentum (Marken, Muster und Modelle der Europäischen Union), Wettbewerb, staatliche Beihilfen sowie Banken- und Finanzaufsicht.

Das Gericht ist auch für die Entscheidung über die dienstrechtlichen Streitigkeiten zwischen der Europäischen Union und ihren Bediensteten zuständig.

Gegen die Entscheidungen des Gerichts kann beim Gerichtshof ein Rechtsmittel eingelegt werden, das auf Rechtsfragen beschränkt ist. In Rechtssachen, die bereits zweifach geprüft worden sind (durch eine unabhängige Beschwerdekammer, dann durch das Gericht), lässt der Gerichtshof das Rechtsmittel nur dann zu, wenn damit eine für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage aufgeworfen wird.

847 neue Rechtssachen

729 Klagen

davon 69 staatliche Beihilfen und Wettbewerb (davon 2 von den Mitgliedstaaten erhobene Klagen)

282 geistiges und gewerbliches Eigentum

118 öffentlicher Dienst der EU

260 sonstige Klagen (davon 10 von den Mitgliedstaaten erhobene Klagen)

75 Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

Eine Partei, die außerstande ist, die Verfahrenskosten zu bestreiten, kann Prozesskostenhilfe beantragen.

748 erledigte Rechtssachen

631 Klagen

davon 41 staatliche Beihilfen und Wettbewerb

237 geistiges und gewerbliches Eigentum

79 öffentlicher Dienst der EU

274 sonstige Klagen

15.4 Durchschnittliche Verfahrensdauer: Monate

23% Anteil der mit Rechtsmitteln beim Gerichtshof angefochtenen Entscheidungen:

1 497 Anhängige Rechtssachen am 31. Dezember 2020

Wichtigste behandelte Sachgebiete

Geistiges und gewerbliches Eigentum 319

Landwirtschaft 21

Öffentliche Aufträge 21

Restriktive Maßnahmen 65

Staatliche Beihilfen 292

Statut der Beamten der EU 182

Umwelt 14

Wettbewerb 78

Wirtschafts- und Währungspolitik 156

Zugang zu Dokumenten 24