70 Jahre im Dienst der Bürger und einer Union des Rechts

A | Die Tätigkeit des Unionsorgans im Jahr 2022
B | Wichtigste Ereignisse des Jahres
C | Beziehungen zur Öffentlichkeit

 
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A | Die Tätigkeit des Unionsorgans im Jahr 2022

Am 4. Dezember 1952 leisteten die ersten Mitglieder des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ihren Amtseid in einer der vier Amtssprachen der EGKS.

Alfredo Calot Escobar

Kanzler des Gerichtshofs


Der Kanzler des Gerichtshofs, Generalsekretär des Unionsorgans, leitet die Verwaltungsdienststellen unter Aufsicht des Präsidenten.


Am 4. Dezember 1952 leisteten die ersten Mitglieder des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ihren Amtseid in einer der vier Amtssprachen der EGKS. Neun Mitglieder – sieben Richter und zwei Generalanwälte –, die die Rechtskulturen der einzelnen Mitgliedstaaten repräsentierten, um einen fruchtbaren Dialog der Rechtstraditionen zu ermöglichen, eine Kanzlei, die für den ordentlichen Geschäftsgang sorgt, ein Sprachendienst, der den Zugang zur europäischen Justiz ohne Sprachbarriere gewährleistet, und eine Verwaltung, die die ordnungsgemäße Verwendung der öffentlichen Mittel im Dienst des Rechtsprechungsorgans der EGKS sicherstellt: So sah, in groben Zügen, der Gerichtshof nach seiner Errichtung aus.

70 Jahre später kann der Gerichtshof mit Stolz auf seinen Weg zurückblicken, weil es ihm gelungen ist, mit der Zeit zu gehen, ohne seine Grundwerte aufzugeben.

Mehr denn je stellt die Unterstützung der Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs, der seit seiner Errichtung über 43 000 Entscheidungen erlassen hat, für alle seine Dienststellen die Richtschnur dar.

Insoweit war 2022 ein wichtiges Jahr, da die Weichen für ein Schlüsselprojekt des Gerichtshofs gestellt wurden, nämlich die Einrichtung eines integrierten Systems zur Bearbeitung der Rechtssachen, das es den beiden Gerichten langfristig ermöglichen wird, von der Anhängigmachung einer Rechtssache bis zur Verbreitung der Entscheidung in einem völlig digitalisierten, gesicherten und integrierten Workflow zu arbeiten. Dieses Projekt, das ganz auf die zügige Durchführung der Verfahren und eine Justiz von hoher Qualität ausgerichtet ist, wird im Jahr 2024 nach mehreren Jahren intensiver Zusammenarbeit zwischen den Gerichten, den Kanzleien und den Dienststellen umgesetzt werden. Es stellt eine wichtige Etappe im Prozess der Digitalisierung der Rechtsprechungstätigkeit dar, der vor einigen Jahren mit der Einführung von e-Curia begonnen hat, und bestätigt erneut, dass der Schlüssel für Effizienz und Fortschritt in der zügigen Umsetzung der technologischen Entwicklung liegt.

Daneben gibt es weitere strategische Ziele, die den Arbeitsplan des Gerichtshofs leiten. In diesem Rahmen wurden 2022 wichtige Projekte angestoßen, von denen einige zweifelsohne an die Leitprinzipien anknüpfen, die das Handeln des Gerichtshofs seit seiner Errichtung bestimmen.

Zu diesen Prinzipien gehört seit sieben Jahrzehnten die Suche nach Mitarbeitern aus allen Mitgliedstaaten, die die höchsten Anforderungen an Kompetenz und Professionalität erfüllen. Mehrsprachig, hochqualifiziert und dem Aufbau eines Europas der Justiz verschrieben, stehen sie im Zentrum des Projekts der Valorisierung und Bindung von Talenten, das der Gerichtshof umsetzt. Insoweit hat dieser 2022 eine umfassende Initiative der Verbesserung der Zugänglichkeit und der Inklusion lanciert, die die Einstellung, Integration und Entfaltung von Kollegen mit Behinderung fördern soll, damit jeder seine Fähigkeiten bestmöglich entwickeln kann. Diese Initiative, an der sich der ganze Gerichtshof beteiligt, soll auch sicherstellen, dass der Gerichtshof der Europäischen Union allen Rechtsuchenden, an den Verfahren beteiligten Akteuren und Besuchern physisch oder virtuell zugänglich ist.

Das Bestreben, stets für den Bürger ansprechbar zu sein, aber auch die breite Öffentlichkeit besser zu erreichen, liegt schon lange der Kommunikations- und Informationspolitik des Gerichtshofs zugrunde. In diesem Jubiläumsjahr gab es zahlreiche entsprechende Initiativen wie z. B. das Pilotprojekt des Webstreamings von mündlichen Verhandlungen, das in dieser Veröffentlichung vorgestellt wird. Auf den während der Pandemie gewonnenen Erfahrungen aufbauend hat der Gerichtshof außerdem ein Fernbesuchsprogramm langfristig verankert, bei dem Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe aus den Mitgliedstaaten die Gebäude des Gerichtshofs besichtigen, Vorträge von dessen Mitgliedern hören und sich mit diesen live austauschen können, und zwar in ihrer Sprache und ohne ihr Klassenzimmer zu verlassen. Diese spannende Initiative, an der bereits mehrere Hundert Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Mitgliedstaaten teilgenommen haben, bietet so jungen Menschen, die bisher durch Entfernung, Kosten oder sonstige Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Reise davon abgehalten wurden, sich zum Gerichtshof zu begeben, neue Möglichkeiten, den Gerichtshof zu besuchen und die Rolle des Rechtsprechungsorgans der Union besser zu verstehen.

Die Liste der 2022 durchgeführten Projekte erscheint wie jedes Jahr ebenso lang wie vielfältig, so dass sich die Aufzählung fortsetzen ließe. Es sind jedoch nicht die Jahresergebnisse, die die Kultur und die Werte einer Organisation am besten abbilden, sondern vielmehr deren Fähigkeit, in dem unsicheren Kontext, in dem sich Europa derzeit befindet, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen.

Insoweit ist der Gerichtshof seiner Rolle vollauf gerecht geworden, als er den Obersten Gerichtshof der Ukraine empfing, um den Aufbau einer Justiz des Friedens und des Fortschritts zu fördern, und als er ausnahmsweise seinen Großen Sitzungssaal geöffnet hat, um mit einem Theaterstück den Richter zu gedenken, die ihr Leben gegeben haben, um den Rechtsstaat zu schützen, der auch in seiner Rechtsprechung unermüdlich angemahnt wird, aber auch dadurch, dass er alle verfügbaren Technologien nutzt, um mit denjenigen in Kontakt zu treten, die weit entfernt leben, und im Bestreben nach Gleichheit und Inklusion alles dafür tut, dass jeder beim Gerichtshof seinen Platz findet und sich entfalten kann.

2022 wurden beim Gerichtshof wie auch bei Heizung und Beleuchtung gespart, um den Energieverbrauch zu senken, aber das Feuer, das uns in unserer Mission antreibt, hat nie heißer und heller gebrannt!

Alfredo Calot Escobar

Kanzler des Gerichtshofs

B | Wichtigste Ereignisse des Jahres

70 Jahre Gerichtshof der Europäischen Union: Rückblick auf ein Jubiläumsjahr

„Eine bürgernahe Justiz“

Das Unionsorgan hat das ganze Jahr 2022 lang seinen 70. Jahrestag gefeiert, und zwar unter dem Motto „Eine bürgernahe Justiz“. Die Feierlichkeiten waren Anlass, auf die Zeit zurückzublicken, die vergangen ist, seit die Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1952 den Grundstein für das europäische Einigungswerk legten. In diesen 70 Jahren hatte das Rechtsprechungsorgan zahlreiche Herausforderungen zu bewältigen. Das Aufeinanderfolgen der Verträge, die Errichtung des Gerichts im Jahr 1989, die Übertragung neuer Zuständigkeiten, die aufeinanderfolgenden Erweiterungen, aber auch der Brexit, die schrittweise Erhöhung der Zahl der Amtssprachen und der Generalanwälte, die Verdoppelung der Zahl der Richter des Gerichts … All diese Ereignisse haben diese Jahre geprägt und den Gerichtshof bei der Erfüllung seines Auftrags, die Wahrung des Unionsrechts sowie dessen einheitliche Auslegung und Anwendung sicherzustellen, begleitet. Bevor wir den Blick in die Zukunft richten, wollen wir noch einmal die wichtigsten Ereignisse dieses besonderen Jahres Revue passieren lassen.

Zu Beginn des Jahres enthüllte der Präsident das Logo des 70. Jahrestags, das erstmals den Gerichtshof schmückt. Als Symbol des Jahrestags erscheint es auf allen Veröffentlichungen dieses Jahres. Es wurde auf einem der Türme angebracht, so dass es vom Zentrum der Stadt Luxemburg aus sichtbar war und die Aufmerksamkeit der Bürger erregen konnte. Am Tag der offenen Tür konnten die Bürger Postkarten mit diesem Logo in die ganze Union versenden, um ihre Angehörigen über ihre Teilnahme an dieser festlichen Veranstaltung zu informieren.

Auf Twitter wurden die Bürger mit einer Informationskampagne auf die Geschichte und die Tätigkeit des Gerichtshofs aufmerksam gemacht. 70 Tweets verschafften unseren 146 000 Followern einen Überblick über den Gerichtshof von 1952 bis heute!

An eine jahrzehntelange Tradition anknüpfend hat Post Luxembourg nach den Briefmarken, die 1973 zur Einweihung des Palais, 1987 zum 35. Jahrestag des Gerichtshofs, 2002 zum 50. und 2012 zum 60. Jahrestag herausgegeben wurden, eine Briefmarke zum 70. Jahre des Unionsorgans herausgegeben. Außerdem ist ein Buch über die Geschichte des Gerichtshofs als Jubiläumsband erschienen, der bei offiziellen Besuchen und protokollarischen Empfängen überreicht wird. Für 2023 ist eine für die breite Öffentlichkeit gedachte Ausgabe vorgesehen.

Als Höhepunkt der Feierlichkeiten hat der Gerichtshof Anfang Dezember anlässlich eines außerordentlichen Richterforums die Präsidenten der Verfassungsgerichte und der obersten Gerichte aller Mitgliedstaaten sowie die Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der Europäischen Freihandelsassoziation empfangen. Diese wichtige jährliche Veranstaltung, die 2022 in einem besonderen Format stattfand, bietet den Richtern und Generalanwälten die Gelegenheit, sich mit Richtern aus allen Mitgliedstaaten auszutauschen, um so den justiziellen Dialog zu fördern. Das Forum, das dem Thema „Eine bürgernahe Justiz“ gewidmet war, begann mit der Vorführung eines Films zum 70. Jahrestag über die Geschichte des Gerichtshofs und seine Rolle beim Aufbau der europäischen Rechtsordnung. In diesem von den Dienststellen des Gerichtshofs gedrehten Film, der auch für die breite Öffentlichkeit zugänglich ist, treten Mitglieder des Gerichtshofs und des Gerichts sowie Vertreter der Wissenschaft auf, außerdem werden zahlreiche Archivbilder verwendet.

In der feierlichen Sitzung vom 6. Dezember hat der Gerichtshof S. K. H. den Erbgroßherzog Guillaume, den Ersten Vizepräsident des Europäischen Parlaments Othmar Karas, den Minister für Gesetzgebung und Präsidenten des Legislativsrats der Regierung der Tschechischen Republik Michal Šalomoun, die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Věra Jourová und die Ministerin für Kultur und der Justiz des Großherzogtums Luxemburg Sam Tanson empfangen.

Erbauer Europas: Der Gerichtshof würdigt die Jugend

Die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag endeten am 6. Dezember mit der Konferenz „Erbauer Europas“, einer besonderen Zusammenkunft zwischen hochrangigen Vertretern der Union und der europäischen Jugend.

„Willkommen in Ihrem Haus, bei Ihrem Gerichtshof!“

Mit diesen Worten wandte sich Präsident Koen Lenaerts an 240 Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe aus zehn Mitgliedstaaten, die im Großen Sitzungssaal anwesend waren oder per Videokonferenz teilnahmen, bevor er die Rolle des Gerichtshofs und die Auswirkungen seiner Entscheidungen auf den Alltag der Bürger erläuterte. Präsident Lenaerts, Othmar Karas und Věra Jourová sprachen über ihren jeweiligen Lebensweg und die Maßnahmen, die sie bei ihrem jeweiligen Unionsorgan ergreifen. Dabei betonten sie ihre unterschiedliche Herkunft, die ein in Vielfalt vereintes Europa widerspiegele: „Ein Mensch mit einer anderen Herkunft, Religion oder Meinung kann genauso Recht haben wie ich“, erklärte Herr Karas. Frau Jourová wies die jungen Leute darauf hin, dass Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht für selbstverständlich genommen werden dürften, und erzählte von ihren ersten prägenden Erinnerungen: dem Einzug der sowjetischen Panzer im Prager Frühling 1968.

Herr Lenaerts, Herr Karas und Frau Jourová beantworteten dann Fragen der jungen Gäste. Die Vorteile des europäischen Einigungswerks, die Bedeutung des Beitritts der osteuropäischen Länder zur Union, die größten Herausforderungen, die sich der Union stellen, deren Vorgehen bei Verstößen gegen das Unionsrecht und Missachtung ihrer Werte, die an die Union gerichtete Kritik und den wachsenden Euroskeptizismus, Klimaerwärmung und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung: Zu all diesen Themen wollten die jungen Besucher die Meinung ihrer Gesprächspartner hören.

Zum Abschluss erinnerte Präsident Lenaerts an die Erklärung Robert Schumans: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“ Am Ende dieser Veranstaltung zeigten sich die Schülerinnen und Schüler sehr erfreut darüber, dass sie diese Möglichkeit des Austauschs mit den hochrangigen Vertretern der Union hatten.

„Für mich ist es sehr inspirierend, dass wir die Möglichkeit haben, an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen und Fragen an so hochrangige Führungspersönlichkeiten zu stellen!“

„Unsere Schule durfte Fragen an prominente Persönlichkeiten der europäischen Organe stellen: Ich war auf dieser Konferenz nicht nur Beobachter, sondern aktiver Teilnehmer.“

Streaming mündlicher Verhandlungen: ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer bürgernahen Justiz

Um dem Grundsatz der Transparenz und der Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlungen eine moderne Dimension zu geben, bietet der Gerichtshof seit diesem Jahr im Wege eines Pilotversuchs das Streaming öffentlicher Verhandlungen auf der CVRIA-Website an. Mit diesem neuen Dienst soll der Gerichtshof noch bürgernäher werden. Das zum April 2022 eingerichtete System bietet Personen, die aus welchem Grund auch immer (Kosten, Entfernung, mit der Reise verbundene Schwierigkeiten) nicht in der Lage sind, sich nach Luxemburg zu begeben, die Möglichkeit, an den mündlichen Verhandlungen der Großen Kammer des Gerichtshofs unter denselben Bedingungen teilzunehmen wie die vor Ort Anwesenden. Da die Vielsprachigkeit im Zentrum der Arbeitsweise des Unionsorgans steht, können die Bürger der Verhandlung in der Sprache ihrer Wahl folgen, indem sie beim Streaming den entsprechenden Dolmetschkanal wählen.

Um einen ungestörten Ablauf sicherzustellen und technische Probleme zu vermeiden, werden die mündlichen Verhandlungen nicht live übertragen, sondern zeitversetzt. So werden die vormittags stattfindenden Verhandlungen am Nachmittag und die nachmittags stattfindenden Verhandlungen am folgenden Vormittag übertragen. Die Verkündung der Urteile des Gerichtshofs und die Verlesung der Schlussanträge der Generalanwälte werden dagegen live übertragen. Damit der Teilnehmer die Rechtssache besser verstehen kann, wird kurz vor der Übertragung der Verhandlung ein kurzes vielsprachiges Video angeboten, in der ein Pressereferent die Rechtssache erläutert.

Sébastien Servais

Leiter der Sektion Multimedia

„Der Beschluss, das Streaming anzubieten, wurde zwar erst kürzlich gefasst, unsere Sektion bereitet sich jedoch schon seit einigen Jahren darauf vor. Die größte Herausforderung dabei war zunächst einmal technischer Art, weil eine umfangreiche IT-Ausrüstung und eine grundlegende Änderung unserer Konferenzsysteme erforderlich waren, insbesondere um die Vielsprachigkeit zu gewährleisten. Zahlreiche weitere Gesichtspunkte waren zu prüfen: die Nutzung der Bilder während der mündlichen Verhandlungen, verschiedene Fragen zum Ablauf der Verhandlung selbst und der Schutz der personenbezogenen Daten der teilnehmenden Personen. Besonders wurde auf die Qualität der Aufnahmen und die Kameraführung geachtet, um ein hochwertiges Bild auszustrahlen. Der Streamingdienst wird schrittweise ergänzt werden durch neue externe Kommunikationsmittel, die es ermöglichen, die Arbeit des Gerichtshofs sichtbarer zu machen und größtmögliche Transparenz gegenüber dem Bürger herzustellen. Es handelt sich wahrscheinlich nur um einen ersten Schritt, aber der erste Schritt ist zweifellos immer der schwierigste.“

Tina Omahen

Dolmetscherin

„Die Dolmetscher waren, nachdem sie sich bereits an große Veränderungen ihrer beruflichen Tätigkeit aufgrund der Coronakrise anpassen mussten, mit einer weiteren Neuheit konfrontiert, nämlich der Synchronisation der kurzen Videos, die vor den im Streaming übertragenen mündlichen Verhandlungen angeboten werden. Anders als beim Dolmetschen muss dabei eine nahezu perfekte Synchronisierung mit dem Sprecher erreicht werden. Wir mussten daher unsere übliche Wiedergabetechnik an diese andersartige Anforderung anpassen, uns aber auch mit neuer Aufnahmetechnik vertraut machen. Für manche Kollegen, die für ihre Vorbereitung hauptsächlich handschriftliche Unterlagen benutzen, war der Umstieg auf die digitale Technik schwierig. Nach einigen Schweißausbrüchen haben wir jetzt aber auch für diese neue Aufgabe eine gute Routine entwickelt.“

Marc-André Gaudissart

Beigeordneter Kanzler des Gerichtshofs

„Die Übertragung von mündlichen Verhandlungen im Internet wurde zwar, insbesondere von Journalisten, Hochschullehrern und Parlamentariern, schon seit mehreren Jahren gefordert, war vom Gerichtshof und vom Gericht aber noch nicht angegangen worden, und zwar nicht nur wegen Fragen im Zusammenhang mit der Organisation und dem Ablauf der mündlichen Verhandlungen, sondern auch aus technischen und sprachlichen Gründen, da die Übertragung einer Verhandlung, in der mehrere Sprachen verwendet werden, ohne Simultanverdolmetschung für die Unionsbürger kaum von Nutzen wäre. Dies war der Stand der Dinge vor der Gesundheitskrise …
Dank der erheblichen Anstrengungen während dieser Zeit, insbesondere um den Parteien, die teilweise erheblichen Mobilitätsbeschränkungen unterlagen, eine Teilnahme an den in Luxemburg stattfindenden mündlichen Verhandlungen zu ermöglichen, hat sich der Gerichtshof mit den technischen Mitteln ausgestattet, die erforderlich sind, um seine mündlichen Verhandlungen im Internet zu übertragen. Diese Möglichkeit besteht derzeit zwar nur bei den Verhandlungen der Großen Kammer des Gerichtshofs, sie stellt jedoch einen großen Schritt hin zu einer größeren Transparenz der Justiz gegenüber den Bürgern dar sowie einen unbestreitbaren Fortschritt für die nationalen Gerichte, die dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts zur Vorabentscheidung vorgelegt haben und nunmehr die Erörterungen ihrer Frage in der mündlichen Verhandlung aus der Ferne mitverfolgen und damit die Tragweite der Antwort des Gerichtshofs besser verstehen können. Dies ist in Zeiten, in denen bisweilen die Werte und gar das Fundament des europäischen Einigungswerks in Frage gestellt werden, ein großer Trumpf.“

Theatervorstellung im Großen Sitzungssaal des Gerichtshofs

Der letzte Sommer – Falcone und Borsellino 30 Jahre später

Zum 30. Jahrestag des Attentats auf die italienischen Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino hat sich der Große Sitzungssaal des Gerichtshofs für die Aufführung des Stücks L’Ultima estate – Falcone e Borsellino trent’anni dopo von Claudio Fava, inszeniert von Chiara Callegari, in Anwesenheit von Präsident Lenaerts und zahlreicher Persönlichkeiten in eine Theaterbühne verwandelt. Claudio Fava ist Journalist und Schriftsteller, war Abgeordneter im italienischen Parlament und Mitglied des Europäischen Parlaments und ist derzeit Vorsitzender der Commissione Antimafia della Regione Sicilia. Sein Werk zeichnet die letzten Monate im Leben der beiden italienischen Richter in den 1990er Jahren nach.

Ein Büro, zwei Stühle, ein Ordner in einer minimalistischen Inszenierung: Damit wollte die Regisseurin Chiara Callegari vermitteln, wie wichtig es ist, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen und wachsam zu bleiben angesichts der Gefahr, die die Bedrohungen des Rechtsstaats und die grenzüberschreitende Wirtschaftskriminalität auch heute noch darstellen. Die künstlerische Sprache schafft einen Raum, um die Emotionen der Zuschauer zu kanalisieren und die Werte der Justiz in Erinnerung zu rufen. Der Gerichtshof wollte damit auf die Pflicht hinweisen, der Opfer zu gedenken, und diese italienischen Richter würdigen, die sich dem Schutz der Rechtsstaatlichkeit verschrieben hatten.

Chiara Callegari, Simone Luglio und Giovanni Santangelo

„Das Theaterstück L’Ultima Estate – Falcone e Borsellino trent’anni dopo erzählt die einzigartige Geschichte von zwei italienischen Richtern, die sich dem Kampf gegen die Mafia verschrieben haben. Es wurde 2021 in einer Zeit großer Unsicherheit für die Menschheit entwickelt, als die Völker überall auf der Welt gegen eine gemeinsame Bedrohung gekämpft haben. Es war seltsam und schwierig, sich in diesem Kontext der Unsicherheit damit zu beschäftigen, das Leben dieser beiden Männer auf die Bühne zu bringen, die ein grenzenloses Ungeheuer, die Mafia, ganz allein bekämpfen mussten. Diese Persönlichkeiten in einer Umgebung wie dem Gerichtshof der Europäischen Union zu würdigen, war ein Privileg.

Um Geschichten erzählen zu können, benötigt der Schauspieler das Publikum. Beim Gerichtshof haben wir nicht nur viele Zuschauer – vor Ort und über das Streaming – gefunden, sondern auch einen Ort, der seinem Wesen und seiner Aufgabe nach Sprachrohr aller Bürger Europas ist.

Dieser Ort hat unser Stück in einen Zusammenhang eingebettet und die Vorstellung auf ein höheres Niveau gehoben. Die von den Schauspielern gesprochenen Worte bekamen ein anderes Gewicht und eine andere Tiefe. Wir mussten auch damit zurechtkommen, dass wir die ersten waren, die im Gerichtshof, der für einen Tag zum Theatersaal wurde, gespielt haben.

Das Stück wurde vom Präsidenten des Gerichtshofs Koen Lenaerts und von der italienischen Justizministerin Marta Cartabia vorgestellt. Dann erhielten wir das Wort. Vor die Herausforderung gestellt, ein so packendes Stück in diesem hochsymbolischen Gericht aufzuführen, musste man sich sehr bemühen, die Nerven zu bewahren!

‚Der Tag war festgelegt, ein Samstag im Mai …‘, diese Worte hallten in der Stille des Großen Sitzungssaals, und unsere Geschichte vom Schicksal der beiden Diener der Justiz begann.

Es bleiben die Erinnerungen an den herzlichen Empfang, die Hilfsbereitschaft und Kompetenz der Veranstalter und Techniker und die allseitige Begeisterung, die in dieser wundervollen Kathedrale des Unionsrechts herrscht.“

C | Beziehungen zur Öffentlichkeit

Aufgabe Pressereferenten der Direktion Kommunikation, die alle eine juristische Ausbildung haben, ist es, Journalisten aus den Mitgliedstaaten und ihren verschiedenen Korrespondenten die Urteile, Beschlüsse und Schlussanträge, aber auch anhängige Rechtssachen zu erläutern. Sie bereiten für sie Veranstaltungen und Kommunikationsmaterialien vor, die abonniert werden können.

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Im Jahr 2022, das unter dem Motto „Eine bürgernahe Justiz“ stand, wurde der Dialog mit dem juristischen Fachpublikum und der breiten Öffentlichkeit verstärkt. Wie in den vergangenen Jahren sind die Informationstechnologien – im Rahmen des neuen Fernbesuchsprogramms, aber auch der sozialen Medien – ein wichtiges Mittel, um die Tätigkeit des Gerichtshofs insbesondere gegenüber der Zivilgesellschaft transparenter und zugänglicher zu machen. Der 70. Jahrestag des Gerichtshofs bot Gelegenheit, einen der zentralen Werte des Gerichtshofs hervorzuheben: sich in den Dienst der Bürger und einer Union des Rechts zu stellen.

Dank der schrittweisen Aufhebung der durch die Pandemie bedingten Beschränkungen konnten 2022 auch wieder Besucher empfangen werden.

Nach zwei Jahren, in denen Menschenansammlungen vermieden werden mussten, wurde am 9. Mai, dem Europatag, beim Gerichtshof ein erster Tag der offenen Tür veranstaltet. In diesem Rahmen wurden am Sitz des Gerichtshofs für angemeldete Teilnehmer geführte Besuche in mehreren Sprachen organisiert, bei denen die Tätigkeit des Unionsorgans, darunter die Aufgaben des Gerichtshofs und des Gerichts sowie der Ablauf eines Verfahrens, vorgestellt wurde und der Beratungssaal und der Große Sitzungssaal besichtigt wurden. Parallel dazu baute der Gerichtshof an einem schönen Frühlingstag in der europäischen Kulturhauptstadt 2022 Esch-sur-Alzette seinen Stand auf. Ein Team aus Mitgliedern und Mitarbeitern des Gerichtshofs traf mit Bürgern zusammen, um die Rolle des europäischen Rechtsprechungsorgans zu fördern und zu erläutern. Am 8. Oktober öffnete der Gerichtshof erneut seine Pforten für eine größere Veranstaltung als die im Frühjahr, bei der die Dienststellen des Unionsorgans und zahlreiche Berufe vorgestellt wurden. Insgesamt haben über 2 700 Personen diese einzigartige Gelegenheit genutzt, um den Gerichtshof von innen kennenzulernen.

Im Lauf des Jahres wurden auf der CVRIA-Website 216 Pressemitteilungen veröffentlicht, mit denen Journalisten und Fachleute über die Entscheidungen des Gerichtshofs und des Gerichts zum Zeitpunkt der Verkündung der Entscheidungen informiert werden sollen. Unter Berücksichtigung aller auf der Website verfügbaren Sprachfassungen wurden den Korrespondenten in den Mitgliedstaaten 2 856 Pressemitteilungen übermittelt.

Die Pressereferenten haben an ihre Korrespondenten – hauptsächlich Journalis ten, aber auch Angehörige der Rechtsberufe – 551 Informationsschreiben und 568 „Schnellinfos“ zu Rechtssachen, zu denen es keine Pressemitteilung gab, übermittelt. Darüber hinaus wurden 2022 im Zusammenhang mit Bürgeranfragen über 10 000 E-Mails und knapp 5 000 Telefonanrufe (in der Sprache des jeweiligen Anfragenden) bearbeitet.

Das Unionsorgan hat die sozialen Medien noch stärker genutzt, um die breite Öffentlichkeit über seine beiden Twitter-Konten (auf Französisch und auf Englisch), die insgesamt 146 000 Follower haben, zu informieren. So wurden 2022 mit 1 868 Tweets, die sich hauptsächlich auf die wichtigsten Urteile des Gerichtshofs und des Gerichts sowie die wichtigsten das Organ betreffenden Ereignisse bezogen, doppelt so viele Tweets abgesetzt wie im Vorjahr. Die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag wurden mit einer Twitter-Kampagne begleitet: Die Follower konnten so anhand von 70 speziell aus diesem Anlass geposteten Tweets zu den 70 Jahren des Bestehens des Gerichtshofs mehr über dessen Geschichte erfahren. Über sein Konto bei der Business-Plattform LinkedIn hat der Gerichtshof 313 Nachrichten an seine 178 000 Follower auf diesem Netzwerk verbreitet. In einem Jahr hat der Gerichtshof die Zahl seiner Follower um mehr als ein Drittel erhöht, was zeigt, wie stark er auf dieser Plattform präsent ist.

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Der Gerichtshof verfolgt damit das Ziel der Transparenz, um das Vertrauen der Bürger in das Unionsorgan zu stärken. Dabei ist unerlässlich, dass seine Rolle und seine Rechtsprechungstätigkeit verstanden werden. Dieses Bestreben nach Bürgernähe zeigt sich auch an der Konkretisierung des 2021 begonnenen Projekts Fernbesuche. Nachdem es zunächst mit den Sprachen Französisch, Italienisch, Lettisch und Ungarisch erfolgreich gestartet wurde, kamen weitere Sprachen hinzu. So wurden auch Fernbesuche auf Tschechisch, Griechisch, Polnisch und Rumänisch durchgeführt. Für das Jahr 2023 soll dieses Programm auf weitere Amtssprachen ausgedehnt werden.

Nach den starken pandemiebedingten Einschränkungen der letzten beiden Jahre konnten 2022 wieder die herkömmlichen Besuche vor Ort organisiert werden. So haben 9 683 Besucher die Gebäude des Gerichtshofs besichtigt. Andere – etwa 15 % der Besucher – haben sich dagegen für einen virtuellen Besuch entschieden, ein Anteil, der in den kommenden Jahren voraussichtlich erheblich ansteigen wird. Damit wird der Gerichtshof auch für europäische Bürger zugänglich, die weit entfernt von Luxemburg leben. Diese Politik der Öffnung, die zum einen den CO2-Fußabdruck verkleinert und Entfernungen wie Kosten verringert, stellt zum anderen einen Mehrwert dar, wenn es um das Ziel der Transparenz und eines besseren Verständnisses vom Gerichtshof geht.

Fernbesuche sollen Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe im Alter von 15 bis 18 Jahren über die Rolle der Unionsgerichte informieren. Die Auswirkungen der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf ihren Alltag und die Rechtsprechungstätigkeit werden von einem Juristen erläutert. Das Programm umfasst einen geführten virtuellen Besuch der Gebäude, die Vorführung zweier speziell dafür entwickelter Kurzfilme und Treffen mit einem Richter oder einem Generalanwalt, der ihre Fragen beantwortet. Das Programm soll die Jugendlichen und ihre Lehrer für die demokratischen Werte und die aktuellen juristischen Fragestellungen sensibilisieren.

Mr Dimitrios Gratsias,

Richter am Gerichtshof

„Dass man an einem ‚Fernbesuch‘ beim Gerichtshof in griechischer Sprache teilnehmen kann, hat mich bei diesem Projekt von Anfang an begeistert. Allerdings hatte ich zunächst meine Zweifel. Wie soll man mit Schülerinnen und Schülern über den Gerichtshof sprechen, ohne sie mit zu vielen technischen Details zu überfrachten und zugleich die Dinge zu sehr zu vereinfachen? Außerdem fehlt es bei einem Fernbesuch eben gerade an diesem spontanen Austausch, der ein persönliches Zusammentreffen normalerweise auszeichnet. Es hat sich aber gezeigt, dass meine Zweifel unbegründet waren. Zahlreiche Teilnehmer haben uns ihre äußerst interessanten Fragen im Vorhinein übermittelt. Ich habe in meinem Vortrag zunächst die allgemeinen Fragen beantwortet und bin dann auf die konkreten, bisweilen auch persönlichen Fragen eingegangen. So erlebten wir, auch dank der während der Sitzung gestellten Fragen, nicht nur eine lebhafte Diskussion, was bei einem so jungen Publikum nicht überrascht, sondern auch eine Debatte, bei der wir wirklich in die Sache einstiegen und die ein echtes Bild davon vermittelt hat, was die Aufgabe des Gerichtshofs ist und vor welchen Herausforderungen er steht. Eine Erfahrung, die wir wiederholen sollten? Ja, ganz bestimmt!“

Varvara Efkarpidou,

Schülerin der Abschlussklasse des französisch-griechischen Gymnasiums „Jeanne d’Arc“ in Piräus, Griechenland

„Meine Klassenkameraden und ich durften an einem Fernbesuch beim Gerichtshof der Europäischen Union teilnehmen und uns mit seinen Mitgliedern austauschen. Ein solcher geführter Besuch beim Gerichtshof ist eine tolle Möglichkeit für uns in einem Alter, in dem wir uns selbst und unseren beruflichen Weg finden müssen und der Blick in die Zukunft nicht gerade optimistisch ausfällt: soziale und wirtschaftliche Krisen, die zunehmende Besorgnis unserer Eltern, die auch bei uns zu vielen Fragen führt. Das Zusammentreffen mit den Mitgliedern des Gerichtshofs war deshalb eine Gelegenheit, die uns bereichert hat und bei manchen auch der Beginn eines Traums war. Die Antworten auf unsere Fragen und der geführte Besuch insgesamt haben bei uns allen Neugier und Interesse hervorgerufen. Dieser Besuch bleibt uns mit Sicherheit in Erinnerung. Wir bedanken uns bei allen Organisatoren und bei unserer Schule für diese tolle Initiative.“

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