A | Die Tätigkeit des Unionsorgans im Jahr 2022
Am 4. Dezember 1952 leisteten die ersten Mitglieder des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ihren Amtseid in einer der vier Amtssprachen der EGKS.
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Alfredo Calot Escobar
Kanzler des Gerichtshofs
Der Kanzler des Gerichtshofs, Generalsekretär des Unionsorgans, leitet die Verwaltungsdienststellen unter Aufsicht des Präsidenten.
Am 4. Dezember 1952 leisteten die ersten Mitglieder des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ihren Amtseid in einer der vier Amtssprachen der EGKS. Neun Mitglieder – sieben Richter und zwei Generalanwälte –, die die Rechtskulturen der einzelnen Mitgliedstaaten repräsentierten, um einen fruchtbaren Dialog der Rechtstraditionen zu ermöglichen, eine Kanzlei, die für den ordentlichen Geschäftsgang sorgt, ein Sprachendienst, der den Zugang zur europäischen Justiz ohne Sprachbarriere gewährleistet, und eine Verwaltung, die die ordnungsgemäße Verwendung der öffentlichen Mittel im Dienst des Rechtsprechungsorgans der EGKS sicherstellt: So sah, in groben Zügen, der Gerichtshof nach seiner Errichtung aus.
70 Jahre später kann der Gerichtshof mit Stolz auf seinen Weg zurückblicken, weil es ihm gelungen ist, mit der Zeit zu gehen, ohne seine Grundwerte aufzugeben.
Mehr denn je stellt die Unterstützung der Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs, der seit seiner Errichtung über 43 000 Entscheidungen erlassen hat, für alle seine Dienststellen die Richtschnur dar.
Insoweit war 2022 ein wichtiges Jahr, da die Weichen für ein Schlüsselprojekt des Gerichtshofs gestellt wurden, nämlich die Einrichtung eines integrierten Systems zur Bearbeitung der Rechtssachen, das es den beiden Gerichten langfristig ermöglichen wird, von der Anhängigmachung einer Rechtssache bis zur Verbreitung der Entscheidung in einem völlig digitalisierten, gesicherten und integrierten Workflow zu arbeiten. Dieses Projekt, das ganz auf die zügige Durchführung der Verfahren und eine Justiz von hoher Qualität ausgerichtet ist, wird im Jahr 2024 nach mehreren Jahren intensiver Zusammenarbeit zwischen den Gerichten, den Kanzleien und den Dienststellen umgesetzt werden. Es stellt eine wichtige Etappe im Prozess der Digitalisierung der Rechtsprechungstätigkeit dar, der vor einigen Jahren mit der Einführung von e-Curia begonnen hat, und bestätigt erneut, dass der Schlüssel für Effizienz und Fortschritt in der zügigen Umsetzung der technologischen Entwicklung liegt.
Daneben gibt es weitere strategische Ziele, die den Arbeitsplan des Gerichtshofs leiten. In diesem Rahmen wurden 2022 wichtige Projekte angestoßen, von denen einige zweifelsohne an die Leitprinzipien anknüpfen, die das Handeln des Gerichtshofs seit seiner Errichtung bestimmen.
Zu diesen Prinzipien gehört seit sieben Jahrzehnten die Suche nach Mitarbeitern aus allen Mitgliedstaaten, die die höchsten Anforderungen an Kompetenz und Professionalität erfüllen. Mehrsprachig, hochqualifiziert und dem Aufbau eines Europas der Justiz verschrieben, stehen sie im Zentrum des Projekts der Valorisierung und Bindung von Talenten, das der Gerichtshof umsetzt. Insoweit hat dieser 2022 eine umfassende Initiative der Verbesserung der Zugänglichkeit und der Inklusion lanciert, die die Einstellung, Integration und Entfaltung von Kollegen mit Behinderung fördern soll, damit jeder seine Fähigkeiten bestmöglich entwickeln kann. Diese Initiative, an der sich der ganze Gerichtshof beteiligt, soll auch sicherstellen, dass der Gerichtshof der Europäischen Union allen Rechtsuchenden, an den Verfahren beteiligten Akteuren und Besuchern physisch oder virtuell zugänglich ist.
Das Bestreben, stets für den Bürger ansprechbar zu sein, aber auch die breite Öffentlichkeit besser zu erreichen, liegt schon lange der Kommunikations- und Informationspolitik des Gerichtshofs zugrunde. In diesem Jubiläumsjahr gab es zahlreiche entsprechende Initiativen wie z. B. das Pilotprojekt des Webstreamings von mündlichen Verhandlungen, das in dieser Veröffentlichung vorgestellt wird. Auf den während der Pandemie gewonnenen Erfahrungen aufbauend hat der Gerichtshof außerdem ein Fernbesuchsprogramm langfristig verankert, bei dem Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe aus den Mitgliedstaaten die Gebäude des Gerichtshofs besichtigen, Vorträge von dessen Mitgliedern hören und sich mit diesen live austauschen können, und zwar in ihrer Sprache und ohne ihr Klassenzimmer zu verlassen. Diese spannende Initiative, an der bereits mehrere Hundert Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Mitgliedstaaten teilgenommen haben, bietet so jungen Menschen, die bisher durch Entfernung, Kosten oder sonstige Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Reise davon abgehalten wurden, sich zum Gerichtshof zu begeben, neue Möglichkeiten, den Gerichtshof zu besuchen und die Rolle des Rechtsprechungsorgans der Union besser zu verstehen.
Die Liste der 2022 durchgeführten Projekte erscheint wie jedes Jahr ebenso lang wie vielfältig, so dass sich die Aufzählung fortsetzen ließe. Es sind jedoch nicht die Jahresergebnisse, die die Kultur und die Werte einer Organisation am besten abbilden, sondern vielmehr deren Fähigkeit, in dem unsicheren Kontext, in dem sich Europa derzeit befindet, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen.
Insoweit ist der Gerichtshof seiner Rolle vollauf gerecht geworden, als er den Obersten Gerichtshof der Ukraine empfing, um den Aufbau einer Justiz des Friedens und des Fortschritts zu fördern, und als er ausnahmsweise seinen Großen Sitzungssaal geöffnet hat, um mit einem Theaterstück den Richter zu gedenken, die ihr Leben gegeben haben, um den Rechtsstaat zu schützen, der auch in seiner Rechtsprechung unermüdlich angemahnt wird, aber auch dadurch, dass er alle verfügbaren Technologien nutzt, um mit denjenigen in Kontakt zu treten, die weit entfernt leben, und im Bestreben nach Gleichheit und Inklusion alles dafür tut, dass jeder beim Gerichtshof seinen Platz findet und sich entfalten kann.
2022 wurden beim Gerichtshof wie auch bei Heizung und Beleuchtung gespart, um den Energieverbrauch zu senken, aber das Feuer, das uns in unserer Mission antreibt, hat nie heißer und heller gebrannt!
Alfredo Calot Escobar
Kanzler des Gerichtshofs
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C | Beziehungen zur Öffentlichkeit
Aufgabe Pressereferenten der Direktion Kommunikation, die alle eine juristische Ausbildung haben, ist es, Journalisten aus den Mitgliedstaaten und ihren verschiedenen Korrespondenten die Urteile, Beschlüsse und Schlussanträge, aber auch anhängige Rechtssachen zu erläutern. Sie bereiten für sie Veranstaltungen und Kommunikationsmaterialien vor, die abonniert werden können.
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Im Jahr 2022, das unter dem Motto „Eine bürgernahe Justiz“ stand, wurde der Dialog mit dem juristischen Fachpublikum und der breiten Öffentlichkeit verstärkt. Wie in den vergangenen Jahren sind die Informationstechnologien – im Rahmen des neuen Fernbesuchsprogramms, aber auch der sozialen Medien – ein wichtiges Mittel, um die Tätigkeit des Gerichtshofs insbesondere gegenüber der Zivilgesellschaft transparenter und zugänglicher zu machen. Der 70. Jahrestag des Gerichtshofs bot Gelegenheit, einen der zentralen Werte des Gerichtshofs hervorzuheben: sich in den Dienst der Bürger und einer Union des Rechts zu stellen.
Dank der schrittweisen Aufhebung der durch die Pandemie bedingten Beschränkungen konnten 2022 auch wieder Besucher empfangen werden.
Nach zwei Jahren, in denen Menschenansammlungen vermieden werden mussten, wurde am 9. Mai, dem Europatag, beim Gerichtshof ein erster Tag der offenen Tür veranstaltet. In diesem Rahmen wurden am Sitz des Gerichtshofs für angemeldete Teilnehmer geführte Besuche in mehreren Sprachen organisiert, bei denen die Tätigkeit des Unionsorgans, darunter die Aufgaben des Gerichtshofs und des Gerichts sowie der Ablauf eines Verfahrens, vorgestellt wurde und der Beratungssaal und der Große Sitzungssaal besichtigt wurden. Parallel dazu baute der Gerichtshof an einem schönen Frühlingstag in der europäischen Kulturhauptstadt 2022 Esch-sur-Alzette seinen Stand auf. Ein Team aus Mitgliedern und Mitarbeitern des Gerichtshofs traf mit Bürgern zusammen, um die Rolle des europäischen Rechtsprechungsorgans zu fördern und zu erläutern. Am 8. Oktober öffnete der Gerichtshof erneut seine Pforten für eine größere Veranstaltung als die im Frühjahr, bei der die Dienststellen des Unionsorgans und zahlreiche Berufe vorgestellt wurden. Insgesamt haben über 2 700 Personen diese einzigartige Gelegenheit genutzt, um den Gerichtshof von innen kennenzulernen.
Im Lauf des Jahres wurden auf der CVRIA-Website 216 Pressemitteilungen veröffentlicht, mit denen Journalisten und Fachleute über die Entscheidungen des Gerichtshofs und des Gerichts zum Zeitpunkt der Verkündung der Entscheidungen informiert werden sollen. Unter Berücksichtigung aller auf der Website verfügbaren Sprachfassungen wurden den Korrespondenten in den Mitgliedstaaten 2 856 Pressemitteilungen übermittelt.
Die Pressereferenten haben an ihre Korrespondenten – hauptsächlich Journalis ten, aber auch Angehörige der Rechtsberufe – 551 Informationsschreiben und 568 „Schnellinfos“ zu Rechtssachen, zu denen es keine Pressemitteilung gab, übermittelt. Darüber hinaus wurden 2022 im Zusammenhang mit Bürgeranfragen über 10 000 E-Mails und knapp 5 000 Telefonanrufe (in der Sprache des jeweiligen Anfragenden) bearbeitet.
Das Unionsorgan hat die sozialen Medien noch stärker genutzt, um die breite Öffentlichkeit über seine beiden Twitter-Konten (auf Französisch und auf Englisch), die insgesamt 146 000 Follower haben, zu informieren. So wurden 2022 mit 1 868 Tweets, die sich hauptsächlich auf die wichtigsten Urteile des Gerichtshofs und des Gerichts sowie die wichtigsten das Organ betreffenden Ereignisse bezogen, doppelt so viele Tweets abgesetzt wie im Vorjahr. Die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag wurden mit einer Twitter-Kampagne begleitet: Die Follower konnten so anhand von 70 speziell aus diesem Anlass geposteten Tweets zu den 70 Jahren des Bestehens des Gerichtshofs mehr über dessen Geschichte erfahren. Über sein Konto bei der Business-Plattform LinkedIn hat der Gerichtshof 313 Nachrichten an seine 178 000 Follower auf diesem Netzwerk verbreitet. In einem Jahr hat der Gerichtshof die Zahl seiner Follower um mehr als ein Drittel erhöht, was zeigt, wie stark er auf dieser Plattform präsent ist.
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Der Gerichtshof verfolgt damit das Ziel der Transparenz, um das Vertrauen der Bürger in das Unionsorgan zu stärken. Dabei ist unerlässlich, dass seine Rolle und seine Rechtsprechungstätigkeit verstanden werden. Dieses Bestreben nach Bürgernähe zeigt sich auch an der Konkretisierung des 2021 begonnenen Projekts Fernbesuche. Nachdem es zunächst mit den Sprachen Französisch, Italienisch, Lettisch und Ungarisch erfolgreich gestartet wurde, kamen weitere Sprachen hinzu. So wurden auch Fernbesuche auf Tschechisch, Griechisch, Polnisch und Rumänisch durchgeführt. Für das Jahr 2023 soll dieses Programm auf weitere Amtssprachen ausgedehnt werden.
Nach den starken pandemiebedingten Einschränkungen der letzten beiden Jahre konnten 2022 wieder die herkömmlichen Besuche vor Ort organisiert werden. So haben 9 683 Besucher die Gebäude des Gerichtshofs besichtigt. Andere – etwa 15 % der Besucher – haben sich dagegen für einen virtuellen Besuch entschieden, ein Anteil, der in den kommenden Jahren voraussichtlich erheblich ansteigen wird. Damit wird der Gerichtshof auch für europäische Bürger zugänglich, die weit entfernt von Luxemburg leben. Diese Politik der Öffnung, die zum einen den CO2-Fußabdruck verkleinert und Entfernungen wie Kosten verringert, stellt zum anderen einen Mehrwert dar, wenn es um das Ziel der Transparenz und eines besseren Verständnisses vom Gerichtshof geht.
Fernbesuche sollen Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe im Alter von 15 bis 18 Jahren über die Rolle der Unionsgerichte informieren. Die Auswirkungen der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf ihren Alltag und die Rechtsprechungstätigkeit werden von einem Juristen erläutert. Das Programm umfasst einen geführten virtuellen Besuch der Gebäude, die Vorführung zweier speziell dafür entwickelter Kurzfilme und Treffen mit einem Richter oder einem Generalanwalt, der ihre Fragen beantwortet. Das Programm soll die Jugendlichen und ihre Lehrer für die demokratischen Werte und die aktuellen juristischen Fragestellungen sensibilisieren.
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Mr Dimitrios Gratsias,
Richter am Gerichtshof
„Dass man an einem ‚Fernbesuch‘ beim Gerichtshof in griechischer Sprache teilnehmen kann, hat mich bei diesem Projekt von Anfang an begeistert. Allerdings hatte ich zunächst meine Zweifel. Wie soll man mit Schülerinnen und Schülern über den Gerichtshof sprechen, ohne sie mit zu vielen technischen Details zu überfrachten und zugleich die Dinge zu sehr zu vereinfachen? Außerdem fehlt es bei einem Fernbesuch eben gerade an diesem spontanen Austausch, der ein persönliches Zusammentreffen normalerweise auszeichnet. Es hat sich aber gezeigt, dass meine Zweifel unbegründet waren. Zahlreiche Teilnehmer haben uns ihre äußerst interessanten Fragen im Vorhinein übermittelt. Ich habe in meinem Vortrag zunächst die allgemeinen Fragen beantwortet und bin dann auf die konkreten, bisweilen auch persönlichen Fragen eingegangen. So erlebten wir, auch dank der während der Sitzung gestellten Fragen, nicht nur eine lebhafte Diskussion, was bei einem so jungen Publikum nicht überrascht, sondern auch eine Debatte, bei der wir wirklich in die Sache einstiegen und die ein echtes Bild davon vermittelt hat, was die Aufgabe des Gerichtshofs ist und vor welchen Herausforderungen er steht. Eine Erfahrung, die wir wiederholen sollten? Ja, ganz bestimmt!“
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Varvara Efkarpidou,
Schülerin der Abschlussklasse des französisch-griechischen Gymnasiums „Jeanne d’Arc“ in Piräus, Griechenland
„Meine Klassenkameraden und ich durften an einem Fernbesuch beim Gerichtshof der Europäischen Union teilnehmen und uns mit seinen Mitgliedern austauschen. Ein solcher geführter Besuch beim Gerichtshof ist eine tolle Möglichkeit für uns in einem Alter, in dem wir uns selbst und unseren beruflichen Weg finden müssen und der Blick in die Zukunft nicht gerade optimistisch ausfällt: soziale und wirtschaftliche Krisen, die zunehmende Besorgnis unserer Eltern, die auch bei uns zu vielen Fragen führt. Das Zusammentreffen mit den Mitgliedern des Gerichtshofs war deshalb eine Gelegenheit, die uns bereichert hat und bei manchen auch der Beginn eines Traums war. Die Antworten auf unsere Fragen und der geführte Besuch insgesamt haben bei uns allen Neugier und Interesse hervorgerufen. Dieser Besuch bleibt uns mit Sicherheit in Erinnerung. Wir bedanken uns bei allen Organisatoren und bei unserer Schule für diese tolle Initiative.“