Rechtsprechungstätigkeit

A | Der Gerichtshof im Jahr 2022
B | Das Gericht im Jahr 2022
C | Rechtsprechung im Jahr 2022

 
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A | Der Gerichtshof im Jahr 2022

Der Gerichtshof kann vor allem befasst werden mit

  • Vorabentscheidungsersuchen
    Hat ein nationales Gericht Zweifel hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit einer Unionvorschrift, setzt es das bei ihm anhängige Verfahren aus und ruft den Gerichtshof an. Nach dieser Klärung durch den Gerichtshof kann das nationale Gericht über den ihm vorliegenden Rechtsstreit befinden. Für Rechtssachen, in denen eine besonders rasche Antwort geboten ist (wenn es z. B. um Asyl, Grenzkontrollen oder Kindesentführungen geht), ist ein Eilvorabentscheidungsverfahren („PPU“) vorgesehen;
  • Klagen, die gerichtet sind auf
    • Nichtigerklärung eines Rechtsakts der Union (Nichtigkeitsklage), oder
    • Feststellung, dass ein Mitgliedstaat gegen das Unionsrecht verstoßen hat (Vertragsverletzungsklage). Kommt der Mitgliedstaat dem Urteil, mit dem die Vertragsverletzung festgestellt wurde, nicht nach, kann eine zweite Klage wegen „doppelter Vertragsverletzung“ dazu führen, dass der Gerichtshof eine finanzielle Sanktion gegen den Mitgliedstaat verhängt;
  • Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts, auf die hin der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts aufheben kann;
  • Ersuchen um ein Gutachten über die Vereinbarkeit einer Übereinkunft, die die Union mit einem Drittstaat oder einer internationalen Organisation schließen will, mit den Verträgen (eingereicht von einem Mitgliedstaat oder einem europäischen Organ).

Tätigkeit und Entwicklung des Gerichtshofs

Die Zusammensetzung des Gerichtshofs blieb im Jahr 2022 ebenso unverändert wie seine Satzung und die Verfahrensordnung, die seine Tätigkeit regeln.

Nach zwei Jahren, die durch die Coronakrise geprägt waren, konnte das Personal 2022 wieder in die Räumlichkeiten des Gerichtshofs und dieser zu seiner normalen Arbeitsweise zurückkehren, insbesondere was die Durchführung von mündlichen Verhandlungen betraf. Die durch die Gesundheitsschutzmaßnahmen der beiden vorangegangenen Jahre bedingten technologischen Entwicklungen wurden allerdings genutzt, um einige wichtige Projekte zu verwirklichen, mit denen die europäische Justiz den Bürgern nahegebracht werden soll.

So bietet der Gerichtshof seit dem 26. April 2022 ein Streaming-System für mündliche Verhandlungen an, mit dem – nach dem Vorbild des 2021 lancierten Projekts der Fernbesuche – seine Dimension als „Bürgergerichtshof“, der für die breite Öffentlichkeit besser zugänglich ist, ausgebaut werden soll. Die Übertragungen sind so konzipiert, dass die Verhandlungen unter denselben Bedingungen verfolgt werden können, als wäre man physisch in Luxemburg im Gerichtssaal anwesend. In den Verhandlungen wird simultan in die Sprachen verdolmetscht, die für den ordnungsgemäßen Ablauf der Verhandlung erforderlich sind.

Statistisch gesehen war auch 2022 ein Jahr intensiver Tätigkeit. 806 neue Rechtssachen wurden beim Gerichtshof anhängig gemacht. Wie in den Vorjahren handelt es sich dabei in erster Linie um Vorabentscheidungsersuchen (546 Rechtssachen) und Rechtsmittel (209 Rechtssachen), die damit gut 93 % der 2022 insgesamt anhängig gemachten Rechtssachen ausmachen. Thematisch sind so vielfältige und sensible Bereiche wie die Wahrung der Grundwerte der Europäischen Union, der Schutz personenbezogener Daten, der Verbraucher- und der Umweltschutz, aber auch Steuern, Wettbewerb und staatliche Beihilfen betroffen. Darüber hinaus sind mehrere Rechtssachen anhängig gemacht worden, die mit der Gesundheitskrise oder dem Krieg in der Ukraine zu tun haben.

808 Rechtssachen sind von den verschiedenen Spruchkörpern des Gerichtshofs erledigt worden. Eine hohe Zahl (78) wurde von der Großen Kammer entschieden, und zwei Rechtssachen, in denen es um den Zusammenhang zwischen der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Ausführung des Haushaltsplans der Union ging, wurden vom Plenum entschieden (Rechtssachen C‑156/21, Polen/Parlament und Rat, und C‑157/21, Polen/Parlament und Rat).

Da insbesondere über Rechtsmittel häufig in Form von Beschlüssen entschieden wurde, hält sich die Gesamtverfahrensdauer (16,4 Monate) ungefähr auf dem Niveau des Vorjahrs (16,6 Monate). Bei den Vorabentscheidungssachen ist allerdings wegen der zunehmenden Komplexität der dem Gerichtshof unterbreiteten Fragen ein Anstieg der Verfahrensdauer zu verzeichnen (17,3 Monate gegenüber 16,7 Monaten im Jahr 2021).

Am 31. Dezember 2022 waren beim Gerichtshof 1 111 Rechtssachen anhängig, d. h. nur zwei weniger als am 31. Dezember 2021 (1 113 Rechtssachen).

In Anbetracht dieser Statistiken und des Umstands, dass das Gericht seit Juli 2022 aufgrund des Abschlusses der 2015 beschlossenen Reform des Gerichtssystems der Union über 54 Richter (zwei je Mitgliedstaaten) verfügt, hat der Gerichtshof dem Unionsgesetzgeber einen Antrag zur Änderung der Satzung übermittelt, der zwei Ziele hat. Zum einen soll erreicht werden, dass der Gerichtshof sich seine Fähigkeit bewahrt, Entscheidungen von hoher Qualität binnen angemessener Frist zu erlassen, und zum anderen, dass er sich auf seine zentralen Aufgaben als Verfassungsgericht und oberstes Gericht der Union konzentrieren kann.

Erstens zielt der Änderungsantrag darauf ab, dem Gericht die Zuständigkeit für Vorabentscheidungssachen in fünf klar abgegrenzten Sachgebieten zu übertragen, und zwar solchen, in denen selten Grundsatzfragen aufgeworfen werden, für die es einen umfangreichen Grundstock an Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt und die außerdem zu einer hinreichend großen Zahl von Vorlagen führen, damit sich die geplante Übertragung auch tatsächlich auf die Arbeitsbelastung des Gerichtshofs auswirkt: das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, die Verbrauchsteuern, den Zollkodex und die zolltarifliche Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur, Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fahr- und Fluggäste sowie das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten.

Die Zuständigkeit des Gerichts für die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen bestünde vorbehaltlich der Möglichkeit für das Gericht, die Rechtssache an den Gerichtshof zu verweisen, wenn es der Auffassung ist, dass die Rechtssache eine Grundsatzentscheidung erfordert, die die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts berühren könnte. Der Gerichtshof hätte auch die Möglichkeit, die Entscheidung des Gerichts ausnahmsweise zu überprüfen, wenn die ernste Gefahr besteht, dass die Einheit oder Kohärenz des Unionsrechts berührt wird.

Zweitens zielt der Änderungsantrag vor dem Hintergrund einer steigenden Zahl von Rechtsmitteln gegen die Entscheidungen des Gerichts auf eine Ausweitung des am 1. Mai 2019 in Kraft getretenen Mechanismus der vorherigen Zulassung der Rechtsmittel (Art. 58a der Satzung) ab, damit die Effizienz des Rechtsmittelverfahrens gewahrt wird und der Gerichtshof sich auf die Rechtsmittel konzentrieren kann, die wichtige Rechtsfragen aufwerfen.

Diese Ausweitung würde Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts erfassen, die sich auf Entscheidungen der unabhängigen Beschwerdekammern bestimmter Einrichtungen der Union beziehen, die beim Inkrafttreten von Art. 58a der Satzung darin nicht genannt waren (z. B. die Eisenbahnagentur der Europäischen Union, die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden, die Europäische Bankenaufsichtsbehörde, die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde und die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung).

Koen Lenaerts

Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Union

806 neue Rechtssachen

546 Vorabentscheidungsverfahren, davon 5 Eilvorentscheidungsverfahren

Mitgliedstaaten, aus denen die meisten Ersuchen stammen:

Deutschland 98

Italien 63

Bulgarien 43

Spanien 41

Polen 39

37 Klagen, davon 35 Vertragsverletzungsklagen und 2 Klagen wegen „doppelter Vertragsverletzung“

209 Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts

6 Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

Eine Partei, die außerstande ist, die Verfahrenskosten zu bestreiten, kann Prozesskostenhilfe beantragen.

808 erledigte Rechtssachen

546 Vorabentscheidungsverfahren, davon 7 Eilvorabentscheidungsverfahren

36 Klagen, davon 17 festgestellte Vertragsverletzungen gegen 12 Mitgliedstaaten

196 Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts, davon 38 die zur Aufhebung der Entscheidung des Gerichts geführt haben

1 Gutachten

Durchschnittliche Verfahrensdauer: 16,4 Monate

Durchschnittliche Dauer der Eilvorabentscheidungsverfahren: 4,5 Monate

1 111 anhängige Rechtssachen am 31. Dezember 2022

Wichtigste behandelte Sachgebiete

Angleichung von Rechtsvorschriften 89

Geistiges Eigentum 33

Institutionelles Recht 38

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 132

Sozialpolitik 73

Staatliche Beihilfen 58

Steuerwesen 80

Umwelt 46

Verbraucherschutz 77

Verkehr 49

Die Mitglieder des Gerichtshofs

Der Gerichtshof besteht aus 27 Richtern und elf Generalanwälten.

Die Richter und Generalanwälte werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten nach Anhörung eines Ausschusses, der die Aufgabe hat, eine Stellungnahme zur Eignung der vorgeschlagenen Bewerber für die Ausübung der fraglichen Ämter abzugeben, im gegenseitigen Einvernehmen ernannt. Ihre Amtszeit beträgt sechs Jahre; Wiederernennung ist zulässig.

Sie sind unter Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder sonst hervorragend befähigt sind.

Die Richter üben ihr Amt in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit aus.

Sie wählen aus ihrer Mitte den Präsidenten und den Vizepräsidenten. Die Richter und Generalanwälte ernennen den Kanzler für eine Amtszeit von sechs Jahren.

Die Generalanwälte legen in den ihnen zugewiesenen Rechtssachen in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit ein Rechtsgutachten vor, das „Schlussanträge“ genannt wird. Dieses Gutachten ist nicht verbindlich, bietet aber eine ergänzende Betrachtung des Gegenstands des Rechtsstreits.

2022 wurde kein neues Mitglied des Gerichtshofs ernannt.

K. Lenaerts

Präsident

L. Bay Larsen

Vizepräsident

A. Arabadjiev

Präsident der Ersten Kammer

A. Prechal

Präsidentin der Zweiten Kammer

K. Jürimäe

Präsidentin der Dritten Kammer

C. Lycourgos

Präsident der Vierten Kammer

E. Regan

Präsident der Fünften Kammer

M. Szpunar

Erster Generalanwalt

M. Safjan

Präsident der Achten Kammer

P. G. Xuereb

Präsident der Sechsten Kammer

L. S. Rossi

Präsidentin der Neunten Kammer

D. Gratsias

Präsident der Zehnten Kammer

M. L. Arastey Sahún

Präsidentin der Siebten Kammer

J. Kokott

Generalanwältin

M. Ilešič

Richter

J.-C. Bonichot

Richter

T. von Danwitz

Richter

S. Rodin

Richter

F. Biltgen

Richter

M. Campos Sánchez-Bordona

Generalanwalt

N. J. Cardoso da Silva Piçarra

Richter

G. Pitruzzella

Generalanwalt

I. Jarukaitis

Richter

P. Pikamäe

Generalanwalt

A. Kumin

Richter

N. Jääskinen

Richter

N. Wahl

Richter

J. Richard de la Tour

Generalanwalt

A. Rantos

Generalanwalt

I. Ziemele

Richterin

J. Passer

Richter

A. M. Collins

Generalanwalt

M. Gavalec

Richter

N. Emiliou

Generalanwalt

Z. Csehi

Richter

O. Spineanu-Matei

Richterin

T. Ćapeta

Generalanwältin

L. Medina

Generalanwältin

A. Calot Escobar

Kanzler

Protokollarische Reihenfolge ab dem 07.10.2022

B | Das Gericht im Jahr 2022

Das Gericht entscheidet im ersten Rechtszug über Klagen von natürlichen oder juristischen Personen, wenn sie individuell und unmittelbar betroffen sind (Einzelpersonen, Gesellschaften, Vereinigungen etc.), und Mitgliedstaaten gegen Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union sowie über Klagen auf Ersatz eines von den Organen oder ihren Bediensteten verursachten Schadens.

Eine große Zahl der Streitsachen ist wirtschaftlicher Natur: geistiges Eigentum (Marken, Muster und Modelle der Europäischen Union), Wettbewerb, staatliche Beihilfen sowie Banken- und Finanzaufsicht.

Das Gericht ist auch für die Entscheidung über die dienstrechtlichen Streitigkeiten zwischen der Europäischen Union und ihren Bediensteten zuständig.

Gegen die Entscheidungen des Gerichts kann beim Gerichtshof ein Rechtsmittel eingelegt werden, das auf Rechtsfragen beschränkt ist. In Rechtssachen, die bereits zweifach geprüft worden sind (durch eine unabhängige Beschwerdekammer, dann durch das Gericht), lässt der Gerichtshof das Rechtsmittel nur dann zu, wenn damit eine für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage aufgeworfen wird.

Tätigkeit und Entwicklung des Gerichts

Im Jahr 2022 kehrte der Krieg auf unseren Kontinent zurück. Dieses furchtbare Ereignis muss für alle Europäer Anlass sein, sich bewusst zu machen, dass der Frieden niemals als selbstverständlich betrachtet werden darf, sondern dass wir uns alle ständig dafür einsetzen müssen. Dazu leistet der Gerichtshof der Europäischen Union einen wichtigen Beitrag. Denn die Aufgabe des Gerichtshofs und des Gerichts besteht darin, sicherzustellen, dass die Rechtsstaatlichkeit gewahrt und die Menschenwürde geschützt wird. In der Union werden Konflikte nicht mit Drohungen und Waffen gelöst, sondern durch Gespräche und das Recht. Vor diesem Hintergrund ist das Gericht u. a. aufgerufen, bisweilen binnen sehr kurzer Fristen über die Rechtmäßigkeit restriktiver Maßnahmen zu entscheiden, die die Union gegenüber Personen und Einrichtungen im Zusammenhang mit den von der Russischen Föderation seit Februar 2022 geführten Angriffen erlassen hat. Das Urteil der Großen Kammer des Gerichts in der Rechtssache RT France/Rat konnte im beschleunigten Verfahren nur fünf Monate nach Klageerhebung ergehen. Bis heute wurden 70 Rechtssachen anhängig gemacht, die restriktive Maßnahmen im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt betreffen. Es gereicht unserer Union zur Ehre, dass solche Maßnahmen nicht durch Willkür gekennzeichnet, sondern Gegenstand einer Kontrolle durch unabhängige und unparteiische Richter sind.

Mehr denn je spiegeln die beim Gericht anhängig gemachten Rechtssachen die großen gesellschaftlichen Herausforderungen wider, mit denen unser Kontinent konfrontiert ist. Neben den restriktiven Maßnahmen, die nicht nur die Aggression gegen die Ukraine betreffen, sind es insbesondere die wettbewerbsrechtliche Regulierung der mächtigen Internetunternehmen und der Rahmen für staatliche Beihilfen, vor allem im Bereich Steuern und in den Sektoren Energie und Umwelt, die hier in Rede stehen. Es geht aber auch um das Banken- und Finanzrecht, den Schutz personenbezogener Daten, die gemeinsame Handelspolitik oder die Regulierung der Energiemärkte. Angesichts der jüngsten legislativen Entwicklungen und des von immer größeren Spannungen geprägten internationalen Kontexts könnte es sein, dass die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane in Zukunft eine noch größere Rolle spielen wird.

Eines ist jedoch klar: Das Gericht ist sich seiner Verantwortung vollauf bewusst, und es verfügt über die insoweit erforderlichen Ressourcen. Im vergangenen Jahr hat es acht neue Mitglieder aufgenommen, wodurch die mit der Verordnung 2015/2422 eingeleitete Reform abgeschlossen wird. Das Gericht verfügt mit seinen nunmehr 54 Mitgliedern endlich über zwei Richter je Mitgliedstaat. Mit Blick auf den neuen Dreijahreszeitraum, der im September 2022 begonnen hat, hat es aber auch eingehendere Überlegungen zu seiner Organisation und seinen Arbeitsmethoden angestellt und dabei den Schwerpunkt auf die Vertiefung der gerichtlichen Kontrolle, die Begleitung der Parteien während des gesamten Verfahrens und die Verfahrensdauer (durchschnittlich 16,2 Monate im Jahr 2022) gelegt. Das so verstärkte und neuorganisierte Gericht hat sich das Ziel gesteckt, Entscheidungen von hoher Qualität zu erlassen, die für den Rechtsuchenden verständlich sind und innerhalb von Fristen ergehen, die den heutigen Erwartungen entsprechen.

Das Gerichtssystem der Union muss sich kontinuierlich an die Herausforderungen unserer Zeit anpassen. Der Gerichtshof hat daher im November 2022 einen Legislativantrag gestellt, der u. a. darauf abzielt, die besonderen Sachgebiete zu bestimmen, in denen das Gericht für die Entscheidung über von mitgliedstaatlichen Gerichten vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen zuständig sein könnte (Art. 256 AEUV). Das Gericht steht bereit, um den Gerichtshof, der eine steigende Arbeitsbelastung zu bewältigen hat, zu unterstützen. Es war eng in die Überlegungen eingebunden, die zu dieser Initiative geführt haben, und bereitet seine Umsetzung vor.

Marc van der Woude

Präsident des Gerichts

904 neue Rechtssachen

858 erledigte Rechtssachen

760 Klagen, davon

1 474 anhängige Rechtssachen (am 31. Dezember 2022)

Wichtigste behandelte Sachgebiete:

Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung

Beim Gericht wie auch anderswo jagt eine Nachricht die andere. Während die durch die Covid-19-Pandemie ausgelösten Streitigkeiten das Gericht weiterhin auf neues Terrain führen, wie das Urteil Roos u. a./Parlament vom 27. April 2022 (T‑710/21, T‑722/21 und T‑723/21) zeigt, in dem erstmals die Rechtmäßigkeit bestimmter Beschränkungen geprüft wurde, die die Organe der Europäischen Union zum Schutz der Gesundheit ihres Personals festgelegt hatten, entstand mit dem militärischen Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ein neuer Streitherd. In seinem Urteil RT France/Rat vom 27. Juli 2022 (T‑125/22), hat das Gericht (Große Kammer) – erstmals im beschleunigten Verfahren – über die Rechtmäßigkeit restriktiver Maßnahmen des Rates befunden, mit denen die Verbreitung audiovisueller Inhalte verboten wurde.

Das aktuelle Geschehen, so drängend es auch sein mag, sollte jedoch nicht von den zahlreichen Fortentwicklungen ablenken, die es auf klassischeren Gebieten der Rechtsprechung des Gerichts gegeben hat.

So hat sich das Gericht, was das institutionelle Recht angeht, im Urteil Verelst/Rat vom 12. Januar 2022 (T‑647/20) erstmals mit der Frage der Rechtmäßigkeit des Durchführungsbeschlusses 2020/1117 zur Ernennung der Europäischen Staatsanwälte der Europäischen Staatsanwaltschaft beschäftigt, der gemäß der Verordnung 2017/1939 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung dieser Staatsanwaltschaft erlassen wurde. Im Zuge seiner Prüfung ist es zu dem Schluss gelangt, dass der Rat bei der Beurteilung und dem Vergleich der Verdienste der Bewerber um das Amt des Europäischen Staatsanwalts eines Mitgliedstaats über ein weites Ermessen verfügt und dass im vorliegenden Fall bei der Auswahl und der Ernennung des erfolgreichen Bewerbers die Grenzen dieses weiten Ermessens eingehalten worden seien. Auf dem Gebiet des öffentlichen Auftragswesens hat das Gericht im Urteil Leonardo/Frontex vom 26. Januar 2022 (T‑849/19) die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage geprüft, die sich gegen eine Auftragsbekanntmachung und deren Anhänge richtete und von einem Unternehmen erhoben worden war, das sich nicht an der durch diese Bekanntmachung organisierten Ausschreibung beteiligt hatte. Das Gericht hat in erweiterter Besetzung entschieden, dass ein Unternehmen, das nachweisen kann, dass seine Teilnahme an einem Ausschreibungsverfahren durch die Vorschriften der Verdingungsunterlagen unmöglich gemacht wurde, ein Interesse daran haben kann, gegen mehrere Dokumente eines Auftrags vorzugehen. Schließlich hat sich das Gericht auf dem Gebiet des Wettbewerbs im Urteil Illumina/Kommission vom 13. Juli 2022 (T‑227/21) erstmals zu der Frage geäußert, ob der in Art. 22 der Verordnung Nr. 139/2004 über die Fusionskontrolle vorgesehene Verweisungsmechanismus auf einen Zusammenschluss anwendbar ist, der in dem Mitgliedstaat, der seine Verweisung beantragt hat, zwar nicht angemeldet zu werden brauchte, der aber den Erwerb eines Unternehmens beinhaltet, dessen Bedeutung für den Wettbewerb sich nicht in seinem Umsatz widerspiegelt. Im vorliegenden Fall hat das Gericht grundsätzlich erlaubt, dass sich die Kommission in einer solchen Situation für zuständig erklären kann.

Savvas S. Papasavvas

Vizepräsident des Gerichts

Die Mitglieder des Gerichts

Das Gericht besteht aus zwei Richtern je Mitgliedstaat.

Zu Richtern sind Personen auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und über die Befähigung zur Ausübung hoher richterlicher Tätigkeiten verfügen. Sie werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen nach Anhörung eines Ausschusses, der die Aufgabe hat, eine Stellungnahme zur Eignung der vorgeschlagenen Bewerber abzugeben, im gegenseitigen Einvernehmen ernannt. Ihre Amtszeit beträgt sechs Jahre; Wiederernennung ist zulässig. Die Richter wählen aus ihrer Mitte den Präsidenten und den Vizepräsidenten für die Dauer von drei Jahren. Sie ernennen den Kanzler für eine Amtszeit von sechs Jahren.

Sie üben ihr Amt in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit aus.

Im Januar 2022 haben Ioannis Dimitrakopoulos (Griechenland), Damjan Kukovec (Slowenien) und Suzanne Kingston (Irland) ihr Amt als Richter am Gericht angetreten.

Im Juli 2022 haben Tihamér Tóth (Ungarn) und Beatrix Ricziová (Slowakei) ihr Amt als Richter am Gericht angetreten.

Im September 2022 haben Elisabeth Tichy-Fisslberger (Österreich), William Valasidis (Griechenland) und Steven Verschuur (Niederlande) ihr Amt als Richter am Gericht angetreten.

M. van der Woude

Präsident

S. Papasavvas

Vizepräsident

D. Spielmann

Präsident der Ersten Kammer

A. Marcoulli

Präsidentin der Zweiten Kammer

F. Schalin

Präsident der Dritten Kammer

R. da Silva Passos

Präsident der Vierten Kammer

J. Svenningsen

Präsident der Fünften Kammer

M. J. Costeira

Präsidentin der Sechsten Kammer

K. Kowalik-Bańczyk

Präsidentin der Siebten Kammer

A. Kornezov

Präsident der Achten Kammer

L. Truchot

Präsident der Neunten Kammer

O. Porchia

Präsidentin der Zehnten Kammer

M. Jaeger

Richter

S. Frimodt Nielsen

Richter

H. Kanninen

Richter

J. Schwarcz

Richter

M. Kancheva

Richterin

E. Buttigieg

Richter

V. Tomljenović

Richterin

S. Gervasoni

Richter

L. Madise

Richter

V. Valančius

Richter

N. Półtorak

Richterin

I. Reine

Richterin

P. Nihoul

Richter

U. Öberg

Richter

C. Mac Eochaidh

Richter

G. De Baere

Richter

R. Frendo

Richterin

T. R. Pynnä

Richterin

J. C. Laitenberger

Richter

R. Mastroianni

Richter

J. Martín y Pérez de Nanclares

Richter

G. Hesse

Richter

M. Sampol Pucurull

Richter

M. Stancu

Richterin

P. Škvařilová-Pelzl

Richterin

I. Nõmm

Richter

G. Steinfatt

Richterin

R. Norkus

Richter

T. Perišin

Richterin

D. Petrlík

Richter

M. Brkan

Richterin

P. Zilgalvis

Richter

K. Kecsmár

Richter

I. Gâlea

Richter

I. Dimitrakopoulos

Richter

D. Kukovec

Richter

S. Kingston

Richterin

T. Tóth

Richter

B. Ricziová

Richterin

E. Tichy- Fisslberger

Richterin

W. Valasidis

Richter

S. Verschuur

Richter

E. Coulon

Kanzler

Protokollarische Reihenfolge ab dem 19.09.2022

C | Rechtsprechung im Jahr 2022

Fokus

Die Verordnung, die die Zahlung von EU-Mitteln an die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit knüpft, ist gültig

Urteile Ungarn/Parlament und Rat und Polen/Parlament und Rat vom 16. Februar 2022 (C‑156/21 und C‑157/21)

Rechtsstaatlichkeit

Sie ist ein Grundwert der Union, der Folgendes umfasst:

  • Grundsatz der Rechtmäßigkeit, der einen transparenten, rechenschaftspflichtigen, demokratischen und pluralistischen Gesetzgebungsprozess voraussetzt;
  • Grundsatz der Rechtssicherheit;
  • Verbot der willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt;
  • Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes (Zugang zu einer unabhängigen und unparteiischen Justiz);
  • Grundsatz der Gewaltenteilung;
  • Grundsatz der Nichtdiskriminierung und der Gleichheit vor dem Gesetz.

Die Union hat eine neue Konditionalitätsregelung erlassen, um ihren Haushalt und ihre finanziellen Interessen vor Beeinträchtigungen zu schützen, die sich aus Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit – eines Grundwerts der Union – ergeben.

Diese mit der Verordnung 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates eingeführte Regelung macht den Erhalt von Mitteln aus dem Unionshaushalt davon abhängig, dass die Mitgliedstaaten die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit einhalten. Gemäß der Verordnung kann der Rat nach einer von der Kommission durchgeführten Untersuchung Maßnahmen – wie etwa die Aussetzung von Zahlungen oder Finanzkorrekturen – ergreifen, um den Haushalt und die finanziellen Interessen der Union zu schützen, wenn sie durch solche Verstöße beeinträchtigt zu werden drohen.

Diese Verordnung wurde von Ungarn und Polen beim Gerichtshof angefochten. Wegen der besonderen Bedeutung der Rechtssachen hat der Gerichtshof als Plenum über die Klagen entschieden.

Am 16. Februar 2022 hat der Gerichtshof die Klagen Ungarns und Polens abgewiesen.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass sich die Union auf Werte gründet, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, darunter die Rechtsstaatlichkeit. Diese gemeinsamen Werte geben der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge und wurden von allen Mitgliedstaaten bei ihrem Beitritt zur Union anerkannt. Die Wahrung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit stellt daher für die Mitgliedstaaten eine Ergebnispflicht dar, die sich unmittelbar aus ihrer Zugehörigkeit zur Union ergibt, und ist eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge ergeben.

Die finanziellen Interessen der Union können durch in einem Mitgliedstaat begangene Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit schwer beeinträchtigt werden. Die Mitgliedstaaten können eine wirtschaftliche Haushaltsführung nur gewährleisten, wenn die Behörden im Einklang mit dem Gesetz handeln, Gesetzesverstöße wirksam verfolgt werden und willkürliche oder unrechtmäßige Entscheidungen von Behörden einer wirksamen Kontrolle durch eine unabhängige und unparteiische Justiz unterliegen. Die Union muss daher in der Lage sein, ihre finanziellen Interessen zu schützen, insbesondere durch Maßnahmen zum Schutz des Unionshaushalts. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die mit der angefochtenen Verordnung eingeführte Regelung unter die Haushaltsvorschriften fällt, in denen insbesondere die Ausführung des Haushaltsplans geregelt ist (Art. 322 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union [AEUV]). Die Verordnung ist damit auf die zutreffende Rechtsgrundlage gestützt.

Der Gerichtshof führt außerdem zu bestimmten Argumenten Ungarns und Polens aus, dass der Konditionalitätsmechanismus nicht das in Art. 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) vorgesehene Verfahren umgeht. Die beiden Verfahren verfolgen unterschiedliche Ziele und haben unterschiedliche Gegenstände. Insbesondere können nach Art. 7 EUV schwerwiegende und anhaltende Verletzungen eines der Grundwerte der Union oder die eindeutige Gefahr einer solchen Verletzung geahndet werden, während die angefochtene Verordnung nur auf Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit anwendbar ist, und auch nur dann, wenn hinreichende Gründe für die Feststellung vorliegen, dass die Verstöße Auswirkungen auf den Haushalt haben.

Der Gerichtshof weist auch das Vorbringen zurück, wonach die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit im Unionsrecht keinen konkreten sachlichen Inhalt hätten. Denn diese Grundsätze sind in seiner Rechtsprechung umfänglich konkretisiert worden und werden somit in der Unionsrechtsordnung präzisiert. Sie gehen auf gemeinsame Werte zurück, die von den Mitgliedstaaten in ihren eigenen Rechtsordnungen anerkannt und angewandt werden. Daher sind die Mitgliedstaaten in der Lage, den Wesensgehalt der einzelnen Grundsätze und die aus ihnen folgenden Erfordernisse hinreichend genau zu bestimmen.

Schließlich setzt die Durchführung des Konditionalitätsmechanismus voraus, dass ein echter Zusammenhang zwischen dem Verstoß gegen einen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und einer Beeinträchtigung bzw. ernsthaft drohenden Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Führung des Unionshaushalts festgestellt wird. Außerdem sind strenge Verfahrenserfordernisse vorgesehen, die die Kommission zu beachten hat. Ungarn und Polen können somit nicht geltend machen, dass der Kommission und dem Rat zu weitreichende Befugnisse eingeräumt worden seien. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die angefochtene Verordnung den Erfordernissen des Grundsatzes der Rechtssicherheit .

Art. 7 EUV

Diese Bestimmung beschreibt das Verfahren, nach dem bei einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten, den Mitgliedstaaten gemeinsamen Werte wie z. B. der Rechtsstaatlichkeit bestimmte Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge auf einen Mitgliedstaat herleiten, ausgesetzt werden können. Ungarn und Polen machten geltend, dass die Konditionalitätsregelung durch die Einführung eines Parallelverfahrens eine rechtswidrige Umgehung der spezifischen Voraussetzungen ermögliche, unter denen ein Mitgliedstaat nach Art. 7 EUV mit einer Sanktion belegt werden könne.

Zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit sind bereits zahlreiche Urteile des Gerichtshofs ergangen, wie beispielsweise:

  • Urteil Associação Sindical dos Juízes Portugueses (Richterliche Unabhängigkeit – Kürzung der Bezüge im nationalen öffentlichen Dienst) vom 27. Februar 2018 (C‑64/16) ;
  • Urteil Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter – Beschränkung des Rechts und der Pflicht der nationalen Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden) vom 15. Juli 2021 (C‑791/19) ;
  • Urteil Repubblika (Unabhängigkeit der Richter eines Mitgliedstaats – Ernennungsverfahren – Befugnisse des Premierministers – Mitwirkung eines Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen) vom 20. April 2021 (C‑896/19).

Grundsatz der Rechtssicherheit

Dieser Grundsatz gebietet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind. Eine Regelung muss es den Betroffenen daher ermöglichen, ihre Rechte und Pflichten eindeutig zu erkennen und sich darauf einzustellen.

Fokus

Urteil Deutsche Umwelthilfe (Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen) vom 8. November 2022 (C‑873/19)

Zum Schutz der Umwelt und zur Verbesserung der Luftqualität verbietet die EU-Verordnung über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen die Verwendung von Vorrichtungen, die auf das System zur Kontrolle der Schadstoffemissionen einwirken, um dessen Wirksamkeit zu verringern („Abschalteinrichtungen“). Von diesem Verbot gibt es jedoch drei Ausnahmen, darunter diejenige, die den Fall betrifft, dass „die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten“.

Die Deutsche Umwelthilfe, eine deutsche Umweltvereinigung, ist der Ansicht, dass das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) gegen das fragliche Verbot verstoßen hat, indem es für bestimmte Fahrzeuge der Marke Volkswagen die Verwendung einer Software genehmigt hat, die die Rückführung von Schadstoffen, insbesondere Stickoxid (NOx), verringert. Mit dieser Software, die ein sogenanntes „Thermofenster“ festlegt, ließ sich die Abgasreinigungsrate an die Außentemperatur anpassen. Die Software hatte daher zur Folge, dass das Abgasrückführungssystem nur dann voll wirksam war, wenn die Umgebungstemperatur über 15 Grad Celsius lag. Im Jahr 2018 hatte die Jahresdurchschnittstemperatur in Deutschland aber nur 10,4 Grad Celsius betragen.

Die Deutsche Umwelthilfe focht die Zulassung vor einem deutschen Gericht an, das sich an den Gerichtshof gewandt hat, um zwei Fragen klären zu lassen.

1. Das deutsche Gericht führt aus, dass die Deutsche Umwelthilfe nach deutschem Recht keine Möglichkeit habe, eine Klage gegen die vom KBA erteilte Zulassung zu erheben, weil die EU-Verordnung, auf die sie sich berufe, nicht dem Individualschutz einzelner Bürger diene. Es fragt den Gerichtshof, ob dies mit dem Übereinkommen von Aarhus und dem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vereinbar ist.

In seinem Urteil vom 8. November 2022 entscheidet der Gerichtshof, dass nach dem Übereinkommen von Aarhus in Verbindung mit der Charta eine Umweltvereinigung, die zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigt ist, nicht die Möglichkeit genommen werden darf, die Einhaltung bestimmter unionsrechtlicher Vorschriften im Bereich des Umweltschutzes von den nationalen Gerichten überprüfen zu lassen. Eine solche Umweltvereinigung muss daher die Zulassung von Abschalteinrichtungen vor Gericht anfechten können.

2. Das deutsche Gericht fragt außerdem, ob die „Notwendigkeit“ des „Thermofensters“, die dessen Verwendung zum Schutz des Motors oder zur Gewährleistung des sicheren Betriebs des Fahrzeugs ausnahmsweise rechtfertigen würde, anhand des aktuellen Standes der Technik im Zeitpunkt der Erteilung der Typgenehmigung zu beurteilen ist oder ob weitere Umstände zu berücksichtigen sind.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass eine Abschalteinrichtung wie ein „Thermofenster“ ausnahmsweise gerechtfertigt sein kann, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Sie muss ausschließlich notwendig sein, um die durch eine Fehlfunktion eines Bauteils des Abgasrückführungssystems verursachten unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall zu vermeiden;
  • die Risiken müssen so schwer wiegen, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb des Fahrzeugs darstellen;
  • zum Zeitpunkt der Zulassung dieser Einrichtung oder des mit ihr ausgestatteten Fahrzeugs besteht keine andere technische Lösung, mit der sich diese Risiken abwenden lassen.

Schließlich ist, selbst wenn diese Notwendigkeit nachgewiesen ist, die Abschalteinrichtung auf jeden Fall zu verbieten, wenn sie so konstruiert ist, dass sie unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres aktiviert ist. Denn in diesem Fall käme die Ausnahme öfter zur Anwendung als das Verbot, was zu einer unverhältnismäßigen Beeinträchtigung des Grundsatzes der Begrenzung der NOx-Emissionen führen würde.

Der Gerichtshof entscheidet regelmäßig in Rechtssachen im Bereich der Umwelt. Als Beispiele aus jüngerer Zeit lassen sich anführen:

  • Urteil „Ville de Paris u. a.“ (Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen – Stickstoffoxidemissionen – Prüfverfahren zur Messung von Emissionen in der Betriebspraxis) vom 13. Januar 2022 (C‑177/19 P u. a.) ;
  • Urteile GSMB Invest, Volkswagen und Porsche Inter Auto und Volkswagen (Dieselfahrzeuge – Stickstoffoxid (NOx)-Emissionen – Verbotene Abschalteinrichtungen – „Thermofenster“) vom 14. Juli 2022 (C‑128/20 u. a.) ;
  • Urteil Kommission/Spanien (Grenzwerte – NO2) vom 22. Dezember 2022 (C‑125/20) ;
  • Urteil Ministre de la Transition écologique und Premier ministre (Haftung des Staates für die Luftverschmutzung) vom 22. Dezember 2022 (C‑61/21).

Fokus

Recht auf Vergessenwerden versus Recht auf Information

Urteil Google (Auslistung eines angeblich unrichtigen Inhalts) vom 8. Dezember 2022 (C‑ 460/20)

Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)

Die DSGVO, die seit 2018 gilt, gibt den Bürgern mehr Kontrolle über ihre personenbezogenen Daten und nimmt diejenigen, in deren Besitz sich die Daten befinden, in die Verantwortung.

Zu den in der DSGVO verankerten Rechten gehören:

  • das Recht auf Information über die Verarbeitung der Daten;
  • das Recht auf Zugang zu den gehaltenen Daten;
  • das Recht auf Berichtigung unrichtiger oder unvollständiger Daten;
  • das Recht auf Löschung von Daten, die auf rechtswidrige Weise verarbeitet wurden oder für die Zwecke ihrer Verarbeitung nicht mehr notwendig sind (besser bekannt als das „Recht auf Vergessenwerden“);
  • das Recht auf Datenübertragbarkeit (Zugriff auf die Daten, die einem für die Verarbeitung Verantwortlichen bereitgestellt wurden).

Der Schutz personenbezogener Daten ist auf Ebene der Europäischen Union in der Datenschutz-Grundverordnung geregelt.

Das Recht auf Schutz personenbezogener Daten ist jedoch kein uneingeschränktes Recht. Es muss gemäß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Zu diesen anderen Grundrechten gehört die Informationsfreiheit.

Im Urteil Google vom 8. Dezember 2022 hat der Gerichtshof auf die Bedeutung dieser Abwägung hingewiesen und sie in Beantwortung einer Frage des deutschen Bundesgerichtshofs zum Recht auf Vergessenwerden vorgenommen.

Der Rechtsstreit betraf zwei Geschäftsführer einer Gruppe von Investmentgesellschaften, die Google aufgefordert hatten, aus den Ergebnissen einer anhand ihrer Namen durchgeführten Suche die Links zu bestimmten Artikeln auszulisten, die das Anlagemodell dieser Gruppe kritisch darstellten. Sie machen geltend, dass diese Artikel unrichtige Behauptungen enthielten. Ferner hatten sie gefordert, dass Fotos von ihnen, die in Gestalt von Vorschaubildern („thumbnails“) ohne Kontext angezeigt werden, in der Übersicht dieser Ergebnisse gelöscht werden.

Google lehnte es ab, dem Folge zu leisten, und wies darauf hin, dass diese Artikel und Fotos in einem beruflichen Kontext stünden und dass nicht klar gewesen sei, ob die in diesen Artikeln enthaltenen Informationen unrichtig seien.

Der mit dem Rechtsstreit befasste Bundesgerichtshof hat den Gerichtshof darum ersucht, die DSGVO im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auszulegen. Denn diese Verordnung sieht ausdrücklich vor, dass das Recht auf Vergessenwerden nicht besteht, wenn die fragliche Verarbeitung der personenbezogenen Daten für die Ausübung des Rechts auf freie Information erforderlich ist.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass das Recht auf Schutz der Privatsphäre und auf Schutz personenbezogener Daten im Allgemeinen gegenüber dem berechtigten Interesse der Internetnutzer an Zugang zu der Information überwiegt. Wie der Ausgleich vorzunehmen ist, hängt aber davon ab, um welche Art von Information es sich handelt und wie sensibel diese für das Privatleben der betroffenen Person ist. Auch auf das Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Information kommt es an. Dieses Interesse kann je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt, variieren.

Allerdings kann das Recht auf freie Meinungsäußerung und Information dann nicht berücksichtigt werden, wenn zumindest ein (nicht unbedeutender) Teil der in dem aufgelisteten Inhalt stehenden Informationen unrichtig ist.

Wird eine Auslistung gefordert, obliegen dem Betreiber der Suchmaschine bestimmte Verpflichtungen:

  • Er muss prüfen, ob ein Inhalt in der Ergebnisübersicht der über seine Suchmaschine durchgeführten Suche verbleiben kann. Werden mit dem Antrag hinreichende Nachweise vorgelegt, muss der Betreiber dem Antrag nachkommen.
  • Ergibt sich aus dem Antrag nicht offensichtlich, dass die Informationen unrichtig sind, ist der Betreiber nicht zur Löschung verpflichtet. In diesem Fall muss sich der Antragsteller aber an die Datenschutz-Kontrollstelle oder das Gericht wenden können, damit diese die erforderlichen Überprüfungen vornehmen und den Betreiber gegebenenfalls anweisen, die gebotenen Maßnahmen zu ergreifen.
  • Er muss die Internetnutzer darüber informieren, dass es ein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren gibt, um die Frage zu klären, ob ein Inhalt unrichtig ist.
  • Er muss überprüfen, ob die Anzeige der Fotos in Gestalt von Vorschaubildern („thumbnails“) erforderlich ist, um das Recht auf freie Information auszuüben, das den Internetnutzern zusteht, die potenziell Interesse an einem Zugang zu diesen Fotos haben. Die Anzeige von Fotos einer Person ist ein besonders starker Eingriff in deren Privatleben. Dass dieser Zugang zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beiträgt, ist ein entscheidender Gesichtspunkt, der bei der Abwägung mit anderen Grundrechten zu berücksichtigen ist.

Der Schutz personenbezogener Daten ist Gegenstand zahlreicher Rechtssachen vor dem Gerichtshof.

Von den jüngeren Urteilen, die die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien betreffen, sind zu nennen:

  • Urteil Facebook Ireland und Schrems vom 16. Juli 2020 zum Schutzniveau, das bei der Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland zu gewährleisten ist (C‑311/18);
  • Urteile La Quadrature du Net u. a. vom 6. Oktober 2020 zum Verbot einer nationalen Regelung, die eine allgemein und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorschreibt (C‑511/18 u.a.);
  • Urteil Prokuratuur vom 2. März 2021 zum Zugang von Behörden zu Verkehrs- und Standortdaten zum Zwecke der Bekämpfung schwerer Kriminalität (C‑746/18);
  • Urteil Facebook Ireland u. a. vom 15. Juni 2021 zu den Befugnissen der nationalen Aufsichtsbehörden (C‑645/19);
  • Urteil Vyriausioji tarnybinės etikos komisija vom 1. August 2022 zur Transparenz von Erklärungen über private Interessen von Arbeitnehmern und Führungspersonal des öffentlichen Sektors (C‑184/20).

Fokus

Ukrainekrieg: gegen pro-russische Medien verhängtes Sendeverbot und Meinungsäußerungsfreiheit

Urteil RT France/Rat vom 27. Juli 2022 (T‑125/22)

Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes

In Erwartung der endgültigen Entscheidung des Gerichts beantragte RT France am 8. März 2022 beim Präsidenten des Gerichts, die Wirkung des Beschlusses über das Verbot der Sendetätigkeiten sofort auszusetzen. Dieser Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wurde am 30. März 2022 zurückgewiesen. Der Präsident hat insbesondere entschieden, dass RT France nicht nachgewiesen hat, dass das Verbot einen nicht wiedergutzumachenden Schaden verursachen würde. Es lag daher keine besondere Dringlichkeit vor, die diese Aussetzung vor der Verkündung der endgültigen Entscheidung gerechtfertigt hätte.

Am 24. Februar 2022 begann die Russische Föderation einen Aggressionskrieg gegen die Ukraine. Auf diese Verletzung des Völkerrechts reagierte die Europäische Union im Rahmen ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit der Verhängung von Sanktionen gegen die Russische Föderation. Am 1. März 2022 verbot der Rat der Europäischen Union die Sendetätigkeiten bestimmter Medien in der Union oder solcher an die Union gerichteter Tätigkeiten, um russische Propagandaaktionen zu unterbinden.

Das Verbot richtete sich insbesondere gegen RT France, einem aus dem russischen Staatshaushalt finanzierten TV-Sender. Dieser erhob am 8. März 2022 eine Klage beim Gericht der Europäischen Union auf Nichtigerklärung des Beschlusses des Rates

In Anbetracht der Bedeutung und Dringlichkeit der Rechtssache hat das Gericht als Große Kammer (15 Richter) von Amts wegen zum ersten Mal das beschleunigte Verfahren durchgeführt, so dass es in weniger als fünf Monaten entscheiden konnte.

In seinem Urteil vom 27. Juli 2022 weist das Gericht die Klage in vollem Umfang ab. Das Urteil beruht auf drei Haupterwägungen:

  • Der Rat verfügt bei der Festlegung restriktiver Maßnahmen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik über einen großen Spielraum. Er kann ein befristetes Sendeverbot für Inhalte bestimmter aus dem russischen Staatshaushalt finanzierter Medien aussprechen, wenn diese Medien die militärische Aggression Russlands unterstützen. Die einheitliche Umsetzung eines derartigen Verbots lässt sich besser auf Unionsebene als auf nationaler Ebene verwirklichen.
  • Das Sendeverbot, das beschlossen wurde, ohne RT France vorher anzuhören, stellt keine Verletzung der Verteidigungsrechte dar. Der außergewöhnliche Kontext extremer Dringlichkeit – des Beginns eines Krieges an den Grenzen der Union – erforderte eine rasche Reaktion. Die unverzügliche Umsetzung der Maßnahmen, mit denen ein Propagandainstrument zugunsten der militärischen Aggression verboten wird, war unabdingbar, um ihre Wirksamkeit zu gewährleisten.
  • Die Freiheit der Meinungsäußerung gehört zu den tragenden Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft. Sie gilt nicht nur für günstig aufgenommene oder als unschädlich angesehene Ideen, sondern auch für solche, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. Dies ergibt sich aus den Erfordernissen von Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gibt.

Allerdings kann es sich in demokratischen Gesellschaften als nötig erweisen, Ausdrucksformen zu ahnden, mit denen, beruhend auf Intoleranz sowie der Anwendung und Verherrlichung von Gewalt, Hass propagiert, gerechtfertigt oder gefördert wird.

Das gegen RT France ausgesprochene Verbot verfolgt dieses Ziel. Sie soll die öffentliche Ordnung und Sicherheit der Union schützen, die durch die systematische Propagandakampagne Russland bedroht wird, und Druck auf die russischen Behörden ausüben, damit sie den militärischen Angriff beenden. Dieses Verbot ist auch verhältnismäßig, da es im Hinblick auf die verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Es liegen genügend konkrete, genaue und übereinstimmende Indizien dafür vor, dass RT France die von der Russischen Föderation verfolgte destabilisierende und aggressive Politik gegenüber der Ukraine, die letztlich zu einer großangelegten militärischen Offensive führte, aktiv unterstützte. RT France hat nichts vorgelegt, was belegen könnte, dass dieser Sender insgesamt gesehen eine ausgeglichene Berichterstattung über den laufenden Krieg geführt hat, die im Einklang mit den „Pflichten und Verantwortlichkeiten“ audiovisueller Medien stand.

Restriktive Maßnahmen oder Sanktionen

sind Instrumente, über die die EU verfügt, um die Ziele ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu fördern. Dabei geht es insbesondere um die Wahrung der Werte der EU und ihrer grundlegenden Interessen, den Schutz ihrer Sicherheit, die Festigung und Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Grundsätzen des Völkerrechts, die Wahrung des Friedens und die Verhütung von Konflikten sowie die Stärkung der internationalen Sicherheit.

Die Maßnahmen können sich gegen Regierungen von Drittstaaten oder nicht staatliche Einrichtungen (z. B. Unternehmen) und gegen Einzelpersonen (z. B. terroristische Gruppen) richten. In den meisten Fällen beziehen sie sich auf Einzelpersonen oder Einrichtungen und sehen das Einfrieren von Geldern und Reiseverbote für die EU vor.

Beim Gericht ist eine große Anzahl von Rechtssachen anhängig, die restriktive Maßnahmen betreffen. Dabei geht es insbesondere um Sanktionen im Kontext von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen, wegen der Lage in Syrien und Belarus und gegen die Demokratische Republik Kongo.

Fokus

Rekordgeldbuße von 4,125 Mrd. Euro für Google wegen den Herstellern von Android-Mobilgeräten auferlegter Beschränkungen

Urteil Google und Alphabet/Kommission (Google Android) vom 14. September 2022 (T‑604/18)

Google ist ein Unternehmen des Sektors der Informations- und Kommunikationstechnologien, das auf Produkte und Dienstleistungen spezialisiert ist, die mit dem Internet in Zusammenhang stehen. Seine Einkünfte erzielt es im Wesentlichen mit seinem Schlüsselprodukt, der Suchmaschine Google Search. Sein Geschäftsmodell basiert auf dem Zusammenspiel einer Reihe von Produkten und Dienstleistungen, die den Nutzern meist kostenlos angeboten werden, und Online-Werbedienstleistungen, bei denen die bei diesen Nutzern gesammelten Daten verwendet werden. Google bietet ferner das Betriebssystem Android an, mit dem nach Angaben der Europäischen Kommission im Juli 2018 etwa 80 % der in Europa verwendeten intelligenten Mobilgeräte ausgestattet waren.

Die Kommission leitete, nachdem bei ihr verschiedene Beschwerden eingegangen waren, 2015 ein Verfahren gegen Google ein. 2018 verhängte sie eine Geldbuße von 4,343 Mrd. Euro gegen das Unternehmen, weil es Herstellern von Android-Mobilgeräten und Betreibern von Mobilfunknetzen rechtswidrige Beschränkungen auferlegt hatte. Dies bedeutete für die Hersteller von Mobilgeräten, dass sie Die Geldbuße ist die höchste, die jemals in Europa von einer Wettbewerbsbehörde verhängt wurde. Google klagte beim Gericht gegen den Beschluss der Kommission.

  • Google Search und Chrome vorinstallieren mussten, um die Lizenz für die Nutzung von Play Store zu erhalten;
  • keine Geräte verkaufen durften, die mit nicht von Google zugelassenen Versionen von Android ausgestattet sind;
  • keinen konkurrierenden Suchdienst vorinstallieren durften, um einen Teil der Werbeeinnahmen erhalten zu können.

Nach Ansicht der Kommission wurde mit diesen Beschränkungen das Ziel verfolgt, die beherrschende Stellung des Suchdiensts von Google zu festigen und damit seine Einnahmen aus Werbeanzeigen im Zusammenhang mit diesen Suchen zu schützen.

Was ist ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung?

Eine beherrschende Stellung liegt vor, wenn ein Unternehmen über eine wirtschaftliche Machtstellung verfügt, die es in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs zu verhindern und sich seinen Wettbewerbern, seinen Lieferanten und den Endverbrauchern gegenüber unabhängig zu verhalten.

Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verbietet den Unternehmen, ihre beherrschende Stellung zu missbrauchen, um den Wettbewerb einzuschränken oder zu verfälschen, z. B. durch überhöhte Preise, Exklusivverkaufsabsprachen oder Treueprämien, mit denen Anbieter von den Mitbewerbern abgeworben werden sollen.

Die Geldbuße ist die höchste, die jemals in Europa von einer Wettbewerbsbehörde verhängt wurde. Google klagte beim Gericht gegen den Beschluss der Kommission.

In der Rechtssache Google und Alphabet umfassten die Akten über 100 000 Seiten. In der mündlichen Verhandlung waren 72 Anwälte und Vertreter von 13 Beteiligten anwesend (die Klägerin – Google et Alphabet –, die Beklagte – die Europäische Kommission – und elf Streithelfer zur Unterstützung der Klägerin oder der Beklagten). Die mündliche Verhandlung erstreckte sich über fünf Tage.

Die Rechtssache wurde mit dem Urteil Google und Alphabet/Kommission vom 14. September 2022 entschieden. Das Gericht hat den Beschluss weitgehend bestätigt und die Klage im Wesentlichen abgewiesen. Es hat allerdings festgestellt, dass die Kommission nicht hinreichend nachgewiesen hat, dass bestimmte Verhaltensweisen von Google geeignet waren, den Wettbewerb einzuschränken, und dass sie Google die Gelegenheit, in einer Anhörung dazu Stellung zu nehmen, nicht hätte verweigern dürfen. Nach einer Würdigung aller Umstände setzt das Gericht die gegen Google verhängte Geldbuße auf 4,125 Mrd. Euro herab.

Überprüfung des Sachverhalts und der korrekten Anwendung des Rechts durch das Gericht

Die Wettbewerbssachen vor dem Gericht sind oft komplexe Fälle, die die Bearbeitung umfangreicher Akten erfordern. Das Gericht entscheidet in erster Instanz: Es prüft daher nicht nur, ob die Kommission das Recht korrekt angewandt hat, sondern auch, ob der Sachverhalt hinreichend geklärt ist. Die Akten können Beweise und wirtschaftliche Studien beinhalten, die die Auswirkungen der Verhaltensweisen der Unternehmen auf dem Markt belegen oder in Abrede stellen sollen.

Urteil Qualcomm/Kommission vom 15. Juni 2022 (T‑235/18)

In einer anderen Rechtssache, in der es um den Missbrauch einer beherrschenden Stellung ging, hat das Gericht den Beschluss der Kommission, mit der eine Geldbuße von rund 1 Mrd. Euro gegen Qualcomm wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung auf dem Markt für LTE-Chipsätze (elektronische Bauteile von Smartphones und Tablets) verhängt wurde, für nichtig erklärt. Nach Ansicht der Kommission war dieser Missbrauch durch Anreizzahlungen vorsehende Vereinbarungen gekennzeichnet, aufgrund deren Apple seinen Bedarf an LTE-Chipsätzen ausschließlich durch Lieferungen von Qualcomm habe decken müssen. Das Gericht hat festgestellt, dass die Verteidigungsrechte von Qualcomm durch mehrere Verfahrensfehler beeinträchtigt worden waren, insbesondere die fehlende Aufzeichnung mehrerer Unterredungen, die im Lauf der Untersuchung stattgefunden hatten. Außerdem hatte die Kommission bei ihrer Analyse der wettbewerbswidrigen Wirkungen der Vereinbarungen nicht sämtliche relevanten Umstände berücksichtigt, insbesondere die Tatsache, dass Apple über keine technische Alternative zu den LTE-Chipsätzen verfügt habe.

Rückblick auf die wichtigsten Urteile des Jahres

Umwelt



Der Gerichtshof und die Umwelt
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Der Schutz von Fauna und Flora, die Verschmutzung von Luft, Land und Wasser sowie die mit gefährlichen Stoffen verbundenen Risiken sind Herausforderungen, zu deren Bewältigung die Europäische Union durch die Verabschiedung strenger Vorschriften beiträgt, z. B. durch die Festlegung von Grenzwerten für Schadstoffemissionen insbesondere in Ballungsräumen.

  • Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Italien beantragte die Kommission beim Gerichtshof, festzustellen, dass dieser Mitgliedstaat dadurch gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, dass er die Jahresgrenzwerte für Stickstoffdioxid (NO2) in verschiedenen Gebieten – nämlich insbesondere in Turin, Mailand, Bergamo, Brescia, Genua, Florenz, Rom und Catania – systematisch und anhaltend überschritten hat. Mit seinem Urteil hat der Gerichtshof der Klage der Kommission stattgegeben und festgestellt, dass Italien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 2008/50 verstoßen hat, dass es nicht dafür gesorgt hat, dass die systematische und anhaltende Überschreitung der Jahresgrenzwerte für Stickstoffdioxid vermieden wird. Italien hat ferner dadurch gegen seine Verpflichtungen verstoßen, dass es nicht ab dem 11. Juni 2010 Maßnahmen – wie z. B. besser angepasste Luftqualitätspläne oder zusätzlich gezielte Maßnahmen zum Schutz empfindlicher Bevölkerungsgruppen – ergriffen hat, um in den betroffenen Gebieten die Einhaltung der Jahresgrenzwerte für NO2 zu gewährleisten.
    Urteil Kommission/Italien (NO2-Grenzwerte) vom 12. Mai 2022 (C‑573/19)

  • Nachdem im November 2002 der Öltanker Prestige vor der Küste Galiziens (Spanien) gesunken war, kam es an der spanischen und der französischen Küste zu einer Ölpest. Für Spanien war dies die bisher größte Umweltkatastrophe. Im Rahmen einer Rechtssache, in der es um den Ersatz der durch die Ölpest verursachten Schäden ging, hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Urteil eines britischen Gerichts, mit dem ein Schiedsspruch bestätigt wurde, der in einem im Vereinigten Königreich eingeleiteten Schiedsverfahren ergangen war, der Anerkennung eines spanischen Urteils, mit dem ein Versicherer zum Ersatz dieser Schäden verurteilt wurde, nicht entgegenstehen kann. Er hat festgestellt, dass ein Schiedsspruch der Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten nur dann entgegenstehen kann, wenn sein Inhalt auch Gegenstand einer im Einklang mit der Verordnung Nr. 44/2001 ergangenen gerichtlichen Entscheidung hätte sein können. Das britische Urteil konnte nach Ansicht des Gerichtshofs im vorliegenden Fall der Anerkennung des in Spanien auf eine Klage eines Geschädigten gegen den Versicherer auf tatsächlichen Ersatz des ihm entstandenen Schadens ergangenen Urteils nicht entgegenstehen.
    Urteil London Steam-Ship Owners’ Mutual Insurance Association vom 20. Juni 2022 (C‑700/20)

Die Direktion Wissenschaftlicher Dienst und Dokumentation bietet dem juristischen Fachpublikum im Rahmen ihrer Sammlung der Zusammenfassungen eine „Auswahl wichtiger Urteile“ und ein „Monatliches Rechtsprechungsbulletin“ des Gerichtshofs und des Gerichts an.

Energie

In einem Kontext, der vom Krieg in der Ukraine und der Energieabhängigkeit des europäischen Kontinents vom Rest der Welt geprägt ist, sichert die Europäische Union die Energieversorgung und –sicherheit auf ihrem Hoheitsgebiet. Sie trägt dazu bei, das Funktionieren des Energiemarkts zu gewährleisten und den Anstieg der Energiepreise, insbesondere der Gas- und Strompreise, einzudämmen. Sie stellt außerdem die Verbindung der Energienetze der Mitgliedstaaten sicher und fördert die Entwicklung erneuerbarer Energien und die Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Energien. Da die Investitionen der Mitgliedstaaten den Wettbewerb auf dem Energiemarkt beeinträchtigen können, wird ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht dem Gericht zur Prüfung vorgelegt.

  • Österreich focht den Beschluss der Kommission an, mit dem die von Ungarn zugunsten eines Staatsunternehmens gewährte Investitionsbeihilfe für die Entwicklung zweier in Bau befindlicher Kernreaktoren auf dem Gelände des Kernkraftwerks Paks genehmigt wurde. Österreich machte u. a. geltend, dass die Beihilfe unverhältnismäßige Wettbewerbsverzerrungen und Ungleichbehandlungen verursache, die zu einer Verdrängung von Erzeugern erneuerbarer Energie vom Elektrizitätsmarkt führten. Das Gericht hat entschieden, dass die von der Kommission vorgenommene Analyse, anhand deren die Vereinbarkeit der gewährten Beihilfe mit dem Unionsrecht festgestellt wurde, zutreffend und vollständig war. Denn der von den neuen Reaktoren erzeugte Strom wird auf dem Großhandelsmarkt für alle Marktteilnehmer in transparenter Weise verfügbar sein, so dass keine Gefahr besteht, dass der von der Gesellschaft Paks II erzeugte Strom langfristigen Monopolvereinbarungen unterworfen und somit ein Risiko für die Marktliquidität bestehen würde.
    Urteil Österreich/Kommission vom 30. November 2022 (T‑101/18)

  • 2015 begann der ungarische Gasfernleitungsnetzbetreiber (FGSZ) ein Projekt regionaler Zusammenarbeit, um durch die Einfuhr von Schwarzmeergas die Energieunabhängigkeit zu erhöhen. Dabei sollte neue Kapazität insbesondere zwischen Ungarn und Österreich geschaffen werden. 2018 genehmigte die österreichische Regulierungsbehörde den diesen Teil des Projekts betreffenden Vorschlag des österreichischen Gasfernleitungsnetzbetreibers (GCA), während die ungarische Regulierungsbehörde (MEKH) auf Vorschlag von FGSZ eine ablehnende Entscheidung traf. Im August 2019 erklärte sich die Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) in Anbetracht dessen, dass die betreffenden Regulierungsbehörden zu keiner abgestimmten Entscheidung gelangt waren, für zuständig und genehmigte den betreffenden Teil des Projekts, wie er von GCA vorgeschlagen worden war. Dagegen klagten MEKH und FGSZ beim Gericht, das die Bestimmungen der Verordnung 2017/459 über das Verfahren zur Schaffung neuer Kapazität für den Gastransport für nicht anwendbar erklärt hat. Da die ACER somit nicht zuständig war, hat das Gericht ihre Genehmigungsentscheidung für nichtig erklärt.
    Urteil MEKH und FGSZ/ACER vom 16. März 2022 (verbundene Rechtssachen T‑684/19 and T‑704/19)

Verbraucher



Was hat der Gerichtshof für mich getan?
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Der Gerichtshof: Schutz der Rechte der Verbraucher in der Union
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Die Förderung der Rechte der Verbraucher, ihres Wohlstands und ihres Wohlergehens sind grundlegende Werte bei der Entwicklung der Unionspolitiken. Der Gerichtshof überwacht die Anwendung der Verbraucherschutzvorschriften, damit die Gesundheit, die Sicherheit und die wirtschaftlichen und rechtlichen Interessen der Verbraucher unabhängig davon, wo sie in der Union wohnen, sich bewegen oder von wo aus sie ihre Einkäufe tätigen, gewährleistet sind.

  • Nach dem Unionsrecht steht dem Verbraucher, der mit einem Gewerbetreibenden über das Internet oder per Telefon einen Vertrag schließt, grundsätzlich eine Frist von 14 Tagen zu, in der er den Vertrag ohne Angabe von Gründen widerrufen kann. Allerdings ist dieses Widerrufsrecht ausgeschlossen, wenn es um Kultur- oder Sportveranstaltungen geht, damit die Veranstalter nicht auf zurückgegebenen Plätzen sitzenbleiben. Der Gerichtshof hat erläutert, dass dieser Ausschluss auch dann greift, wenn Konzertkarten online bei einem Ticketsystemdienstleister gekauft werden, sofern der Veranstalter des Konzerts das wirtschaftliche Risiko trägt.
    Urteil CTS Eventim vom 31. März 2022 (C‑96/21)

  • Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein Nicht-EU-Luftfartunternehmen (hier United Airlines), das mit den Fluggästen keinen Beförderungsvertrag geschlossen, den Flug aber durchgeführt hat, die Ausgleichsleistung für Fluggäste bei erheblicher Verspätung des Flugs schulden kann. Denn das Luftfahrtunternehmen, das im Rahmen seiner Tätigkeit der Beförderung von Fluggästen die Entscheidung trifft, einen bestimmten Flug durchzuführen, ist das ausführende Luftfahrtunternehmen und wird daher als im Namen des vertraglichen Luftfahrtunternehmens (Lufthansa) handelnd angesehen. Der Gerichtshof hat allerdings darauf hingewiesen, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen (United Airlines), das dem Fluggast eine Ausgleichsleistung zahlen muss, das Recht hat, nach geltendem nationalen Recht bei anderen Personen, auch Dritten, Regress zu nehmen.
    Urteil United Airlines vom 7. April 2022 (C‑561/20)

  • Nach einer mehr als dreistündigen Verspätung ihres Fluges von New York nach Budapest wandten sich Fluggäste an die für die Durchsetzung der Fluggastrechte-Verordnung zuständige ungarische Behörde, um von dem Luftfahrtunternehmen LOT die in der Verordnung vorgesehenen Ausgleichsleistungen zu erlangen. Die Behörde stellte den Verstoß gegen die Verordnung fest und gab LOT auf, jedem betroffenen Fluggast einen Ausgleich in Höhe von 600 Euro zu zahlen. LOT focht diese Entscheidung bei einem ungarischen Gericht an, das sich an den Gerichtshof wandte, um zu klären, ob die Behörde ein Luftfahrtunternehmen verpflichten kann, einen Ausgleich zu zahlen, oder ob dies den nationalen Gerichten vorbehalten ist. Der Gerichtshof entschied, dass die für die Durchsetzung der Verordnung zuständige ungarische Behörde auf individuelle Beschwerden hin ein Luftfahrtunternehmen verpflichten kann, den Fluggästen einen Ausgleich zu leisten, wenn der betreffende Mitgliedstaat ihr die entsprechende Befugnis zugewiesen hat.
    Urteil LOT (Von einer Verwaltungsbehörde auferlegter Ausgleich) vom 29. September 2022 (C‑597/20)

  • In einer Vorabentscheidungssache, die von einem litauischen Gericht anhängig gemacht worden war, hat der Gerichtshof die Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Erzeugnisse, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist und die die Gesundheit oder die Sicherheit der Verbraucher gefährden, ausgelegt. In dieser Sache ging es um verschiedene Arten von schäumenden Badekugeln, die wie Lebensmittel aussehen und für Verbraucher, insbesondere Kinder, die Gefahr einer Vergiftung bergen. Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein Mitgliedstaat unter bestimmten Voraussetzungen den Vertrieb von kosmetischen Mitteln, die wegen ihres Erscheinungsbilds mit Lebensmitteln verwechselt werden und Gefahren für die Gesundheit nach sich ziehen können, einschränken kann. Er hat erläutert, dass das Interesse am Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Verbraucher dem Recht auf Vermarktung bestimmter kosmetischer Mittel vorgehen kann.
    Urteil Get Fresh Cosmetics vom 2. Juni 2022 (C‑122/21)

Gleichbehandlung



Der Gerichtshof: Gewährleistung der Gleichberechtigung und Schutz von Minderheitsrechten
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In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist die Gleichheit vor dem Gesetz für alle Individuen als Menschen, Arbeitnehmer, Bürger oder Parteien in einem Gerichtsverfahren verankert. Vor allem die Richtlinie 2000/78 stellt einen allgemeinen Rahmen für die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sowie für den Schutz vor Diskriminierung aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung bereit. Der Gerichtshof hat mehrere Rechtssachen entschieden, in denen es um unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung ging, und dabei insbesondere auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abgestellt, wonach das mit den fraglichen Vorschriften verfolgte Ziel und der Grundsatz der Gleichbehandlung in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen.

  • In einer von einem spanischen Gericht eingeleiteten Vorabentscheidungssache hat sich der Gerichtshof zur Vereinbarkeit der nationalen Regelung über die Sozialversicherungsleistungen von Hausangestellten mit der Unionsrichtlinie über die Gleichheit im Bereich der sozialen Sicherheit geäußert. Das besondere Sozialversicherungssystem für Hausangestellte in Spanien umfasste keinen Schutz bei Arbeitslosigkeit. Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass es sich bei den Hausangestellten hauptsächlich um Frauen handelt, und daher entschieden, dass die Richtlinie diesem Ausschluss entgegensteht, der weibliche Beschäftigte gegenüber männlichen Beschäftigten in besonderer Weise benachteiligt und damit eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt. Diese Diskriminierung ist auch nicht durch objektive Gründe gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.
    Urteil TGSS (Arbeitslosigkeit von Hausangestellten) vom 24. Februar 2022 (C‑389/20)

  • In einer von einem por tugiesischen Gericht eingeleiteten Vorabentscheidungssache hat sich der Gerichtshof zur Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften über die Berechnung der Abgeltung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub mit der Unionsrichtlinie über Leiharbeit geäußert. Er hat entschieden, dass die in der Spezialregelung für Leiharbeitnehmer vorgesehene Spezialregelung über die Methode zur Berechnung der Abgeltung und des entsprechenden Urlaubsgelds diese Arbeitnehmer hinsichtlich der Zahl der bezahlten Urlaubstage und der Höhe des Urlaubsgelds benachteiligt. Die fragliche Abgeltung muss mindestens der entsprechen, die sie erhalten würden, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz und für die gleiche Beschäftigungsdauer eingestellt worden wären.
    Urteil Luso Temp vom 12. Mai 2022 (C‑426/20)

  • Das französischsprachige Arbeitsgericht von Brüssel befragte den Gerichtshof dazu, ob die Begriffe „Religion oder … Weltanschauung“ in der Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf als zwei Facetten ein und desselben geschützten Merkmals oder aber als zwei verschiedene Merkmale anzusehen sind. Es wollte auch wissen, ob das in der Arbeitsordnung eines Unternehmens vorgesehene Verbot, ein Kopftuch zu tragen, eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion begründet. In dem Rechtsstreit ging es darum, dass die Initiativbewerbung von L. F., einer jungen Frau muslimischen Glaubens, nicht berücksichtigt wurde, weil sie während eines Gesprächs angegeben hatte, dass sie sich weigere, ihr Kopftuch abzunehmen, um der in dieser Arbeitsordnung niedergelegten Neutralitätspolitik nachzukommen.
    In seinem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass Religion und (insbesondere weltanschauliche oder spirituelle) Weltanschauungen einen einzigen Diskriminierungsgrund darstellen. Eine interne Regel eines privaten Unternehmens, mit der am Arbeitsplatz jede Bekundung religiöser, weltanschaulicher oder politischer Überzeugungen verboten wird, begründet jedoch keine unmittelbare Diskriminierung, wenn sie allgemein und unterschiedslos auf alle Arbeitnehmer angewandt wird. Sie kann allerdings eine mittelbare Diskriminierung begründen, wenn sich erweist, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden. Diese mittelbare Diskriminierung kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen durch ein rechtmäßiges Ziel gerechtfertigt sein. Bei der Beurteilung dieser Rechtfertigung kann das vorlegende Gericht im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen denen der Religion oder der Weltanschauung größere Bedeutung beimessen als denen, die sich u. a. aus der unternehmerischen Freiheit ergeben, soweit sich dies aus seinem innerstaatlichen Recht ergibt.
    Urteil S.C.R.L. (Kleidungsstück mit religiösem Bezug) vom 13. Oktober 2022 (C‑344/20)

  • Ein italienisches Gericht befragte den Gerichtshof zur Vereinbarkeit der in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Höchstaltersgrenze von 30 Jahren für die Zulassung zum Auswahlverfahren für Polizeikommissare mit dem Unionsrecht. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass diese Altersgrenze eine Ungleichbehandlung wegen des Alters begründet, es aber den nationalen Gerichten überlassen, zu prüfen, ob diese Ungleichbehandlung durch ein wesentliches und entscheidendes dienstliches Bedürfnis, wie das Erfordernis besonderer körperlicher Fähigkeiten im Zusammenhang mit den von einem Polizeikommissar tatsächlich ausgeübten Aufgaben, gerechtfertigt ist. Es ist auch Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Altersgrenze einen rechtmäßigen Zweck verfolgt und angemessen ist, und dabei zu beurteilen, ob die im Rahmen des Auswahlverfahrens vorgesehene, bei Nichtbestehen zum Ausschluss führende Prüfung der physischen Leistungsfähigkeit eine angemessene und weniger einschränkende Maßnahme darstellt.
    Urteil Ministero dell’Interno (Altersgrenze für die Einstellung von Polizeikommissaren) vom 17. November 2022 (C‑304/21)

  • A wurde 1993 zur Vorsitzenden einer Arbeitnehmerorganisation gewählt. Diese politische Vertrauensstellung wies bestimmte Merkmale auf, die typisch für ein Arbeitsverhältnis waren: A war in Vollzeit beschäftigt, erhielt ein monatliches Gehalt, und das Urlaubsgesetz war auf sie anwendbar. Alle vier Jahre wiedergewählt, hatte sie das Amt der Vorsitzenden bis 2011 inne. Zu diesem Zeitpunkt war sie 63 Jahre alt und hatte die Altersgrenze überschritten, um sich erneut zur Wahl zu stellen, die in diesem Jahr stattfinden sollte. Das mit einer Klage des Ligebehandlingsnævn (Beschwerdeausschuss für Gleichbehandlung), handelnd für A, gegen HK/Danmark und HK/Privat befasste dänische Gericht wandte sich an den Gerichtshof, um zu klären, ob die Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf auf einen solchen Fall anwendbar ist. Der Gerichtshof hat entschieden, dass eine in der Satzung einer Arbeitnehmerorganisation für die Wählbarkeit in das Amt des Vorsitzenden vorgesehene Altersgrenze in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt. Insoweit ist unerheblich, dass es sich um ein politisches Amt handelt oder wie die Einstellung erfolgt (nämlich durch Wahl).
    Urteil HK/Danmark und HK/Privat vom 2. Juni 2022 (C‑587/20)

Familie

Die Europäische Union legt Vorschriften über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit fest, damit die europäischen Bürger und insbesondere Familien bei der Ausübung ihrer Rechte nicht dadurch behindert werden, dass sie in verschiedenen Mitgliedstaaten leben oder im Lauf ihres Lebens von einem Mitgliedstaat in einen anderen umgezogen sind. Die justizielle Zusammenarbeit in der Union in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung ist in der Brüssel-IIa-Verordnung geregelt.

  • In einer Vorabentscheidungssache, in der es um die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes von Schweden nach Russland ging, hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats seine Zuständigkeit, gemäß der „Brüssel-IIa-Verordnung“ über das Sorgerecht für Kinder zu entscheiden, nicht behält, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des betreffenden Kindes im Lauf des Verfahrens rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Drittstaats verlegt worden ist, der Vertragspartei des Haager Übereinkommens von 1996 ist.
    Urteil CC (Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in einen Drittstaat) vom 14. Juli 2022 (C‑572/21)

  • Einer Unionsbürgerin, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, versagten die deutschen Behörden die Zahlung von Familienleistungen für die ersten drei Monate nach Begründung ihres Aufenthalts in Deutschland. Diese Versagung wurde damit begründet, dass sie in dieser Zeit keine „inländischen Einkünfte“ bezogen habe. Da dieses Erfordernis nicht für deutsche Staatsangehörige gilt, die von einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zurückkehren, focht die Unionsbürgerin die Versagung bei einem deutschen Gericht an, das sich an den Gerichtshof wandte. Dieser hat entschieden, dass eine solche Ungleichbehandlung eine nach dem Unionsrecht verbotene Diskriminierung darstellt. Er hat aber auch darauf hingewiesen, dass nach der Unionsregelung – anders als in dem (hier vorliegenden) Fall, in dem die Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat begründet – ein nur vorübergehender Aufenthalt nicht ausreicht, um sich auf diese Gleichbehandlung zu berufen.
    Urteil Familienkasse Niedersachsen-Bremen vom 1. August 2022 (C‑411/20)

  • Im Januar 2019 führte Österreich einen Anpassungsmechanismus für die Berechnung der Pauschalbeträge der Familienbeihilfe und verschiedener Steuervergünstigungen ein, die Erwerbstätigen gewährt werden, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Die Anpassung kann sowohl nach oben als auch nach unten erfolgen und richtet sich nach dem allgemeinen Preisniveau im betreffenden Mitgliedstaat. Die Kommission hielt diesen Anpassungsmechanismus und die daraus resultierende Ungleichbehandlung von Wanderarbeitnehmern gegenüber Inländern für unionsrechtswidrig. Sie erhob daher beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage gegen Österreich. Mit seinem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass dieser Anpassungsmechanismus, der auf den Wohnstaat der Kinder der Arbeitnehmer abstellt, gegen das Unionsrecht verstößt, da er eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit der Wanderarbeitnehmer begründet, die nicht gerechtfertigt ist.
    Urteil Kommission/Österreich vom 16. Juni 2022 (C‑328/20)

Personenbezogene Daten



Der Gerichtshof in der digitalen Welt
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Die Europäische Union verfügt über Rechtsvorschriften, die eine solide und kohärente Grundlage für den Schutz personenbezogener Daten bilden, und zwar unabhängig davon, wie und in welchem Kontext diese Daten erhoben, gespeichert, verarbeitet und übermittelt werden. Der Gerichtshof stellt sicher, dass die Verarbeitung und Speicherung personenbezogener Daten auf das absolut Notwendige beschränkt werden und das Recht auf Privatsphäre nicht unverhältnismäßig einschränken.

  • Proximus, ein Anbieter von Telekommunikationsdiensten in Belgien, bietet auch Teilnehmerverzeichnisse an, die Namen, Adresse und Telefonnummer der Teilnehmer der verschiedenen Anbieter öffentlich zugänglicher Telefondienste beinhalten. Diese Kontaktdaten werden von den Telefondienstanbietern an Proximus übermittelt, es sei denn, der Teilnehmer hat den Wunsch geäußert, nicht in die Verzeichnisse aufgenommen zu werden. Im Zusammenhang mit dem Widerruf der Einwilligung eines Teilnehmers befragte ein belgisches Gericht den Gerichtshof zu den Verpflichtungen von Proximus als den für die Verarbeitung personenbezogener Daten Verantwortlichen. Nach Ansicht des Gerichtshofs muss der Verantwortliche geeignete technische und organisatorische Maßnahmen treffen, um die anderen Verantwortlichen, die ihm diese Daten übermittelt haben bzw. denen er die Daten weitergeleitet hat, über den Widerruf der Einwilligung der betroffenen Person zu informieren. Er ist außerdem verpflichtet, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um Internet-Suchmaschinenanbieter über einen Löschungsantrag der betroffenen Person zu informieren.
    Urteil Proximus (Öffentliche elektronische Telefonverzeichnisse) vom 27. Oktober 2022 (C‑129/21)

  • Der Gerichtshof hat sich erneut zu der Frage geäußert, ob der Staat den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorschreiben darf. Er hat darauf hingewiesen, dass das deutsche Gesetz zwar nur eine Speicherungsfrist von vier Wochen für Standortdaten und von zehn Wochen für Verkehrsdaten vorsieht, die große Zahl der gesammelten Daten aber dennoch die Erstellung eines umfassenden Profils der betroffenen Personen ermöglicht. Dieser schwere Eingriff in das Privatleben ist nur bei einer ernsten und aktuellen Bedrohung der nationalen Sicherheit, insbesondere bei einer terroristischen Bedrohung, zulässig. Liegt eine solche Bedrohung nicht vor, stehen den Sicherheitsbehörden andere Maßnahmen zur Bekämpfung schwerer Kriminalität zur Verfügung, wie z. B. die allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP-Adressen (also einer Identifikationsnummer, die einem mit dem Internet verbundenen Gerät zugewiesen ist), die gezielte Vorratsspeicherung und die umgehende Sicherung („quick freeze“ aufgrund einer Anordnung, die aktuell verarbeiteten und gespeicherten Daten zu sichern).
    Urteil SpaceNet u. a. vom 20. September 2022 (verbundene Rechtssachen C‑793/19 und C‑794/19)

  • Die Ligue des droits humains (Liga für Menschenrechte, LDH) ist ein gemeinnütziger Verein, der im Juli 2017 beim belgischen Verfassungsgerichtshof eine Nichtigkeitsklage gegen das Gesetz vom 25. Dezember 2016 erhob, mit dem die PNR-Richtlinie (über die Verwendung von Fluggastdatensätzen), die API-Richtlinie (über die Verpflichtung von Beförderungsunternehmen, Angaben über die beförderten Personen zu übermitteln) und die Richtlinie 2010/65 (über Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlaufen in und/oder Auslaufen aus Häfen der Mitgliedstaaten) in belgisches Recht umgesetzt wurden. Sie machte geltend, dass dieses Gesetz das im belgischen Recht und im Unionsrecht garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten verletze. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Grundrechte nur gewahrt sind, wenn die in der PNR-Richtlinie vorgesehenen Befugnisse auf das absolut Notwendige beschränkt werden. Liegt keine reale und aktuelle oder vorhersehbare terroristische Bedrohung des Mitgliedstaats vor, steht das Unionsrecht nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die eine Übermittlung und Verarbeitung der PNR-Daten für EU-Flüge und anderweitige Beförderungen innerhalb der Union vorsehen.
    Urteil Ligue des droits humains vom 21. Juni 2022(C‑817/19)

  • Der französische Kassationsgerichtshof befragte den Gerichtshof zum Verhältnis bestimmter Vorschriften der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Marktmissbrauchsrichtlinie und der Marktmissbrauchsverordnung zueinander. Die fraglichen nationalen Rechtsvorschriften verpflichteten die Anbieter von Diensten der elektronischen Kommunikation, präventiv eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der Verkehrsdaten für ein Jahr ab dem Zeitpunkt der Speicherung vorzunehmen, und zwar zur Bekämpfung von Straftaten des Marktmissbrauchs, u. a. von Insidergeschäften. Der Gerichtshof hat entschieden, dass das Unionsrecht eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten zur Bekämpfung von Straftaten des Marktmissbrauchs, insbesondere von Insidergeschäften, nicht zulässt. Die fraglichen nationalen Rechtsvorschriften überschreiten die Grenzen des absolut Notwendigen und können in einer demokratischen Gesellschaft nicht gerechtfertigt sein.
    Urteil VD und SR vom 20. September 2022 (verbundene Rechtssachen C‑339/20 und C‑397/20)

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen beruht auf mehreren Säulen: der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Zivil- und Strafsachen, der polizeilichen Zusammenarbeit, der Kontrolle der Außengrenzen, Asyl und Zuwanderung. Konkreter Ausdruck der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ist insbesondere der Europäische Haftbefehl, eine gerichtliche Entscheidung eines Mitgliedstaats zur Festnahme und Übergabe einer Person, die in einem anderen Mitgliedstaat wegen Strafverfolgungoder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gesucht wird. In Bezug auf das Asylrecht legt das Unionsrecht die Voraussetzungen fest, unter denen Drittstaatsangehörige oder Staatenlose internationalen Schutz genießen (Flüchtlingsrichtlinie). Der Gerichtshof wird immer wieder angerufen, um die Tragweite der geltenden Regeln zu präzisieren.

  • Vor dem Hintergrund der Migrationskrise führte Österreich seit Mitte September 2015 an seinen Grenzen zu Ungarn und Slowenien wieder Kontrollen ein. Diese Maßnahme wurde in der Folge mehrfach verlängert. Ein österreichisches Gericht, bei dem ein Bürger diese Kontrollen anfocht, befragte den Gerichtshof zu deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht. Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein Mitgliedstaat im Fall einer ernsthaften Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit Kontrollen an seinen Grenzen zu anderen Mitgliedstaaten wiedereinführen kann, ohne aber eine Gesamthöchstdauer von sechs Monaten zu überschreiten. Nur im Fall einer neuen ernsthaften Bedrohung kann eine erneute Anwendung einer solchen Maßnahme gerechtfertigt sein.
    Urteil Landespolizeidirektion Steiermark u. a. (Höchstdauer von Kontrollen an den Binnengrenzen) vom 26. April 2022 (C‑368/20)

  • Im Juni 2016 stellten die italienischen Justizbehörden einen Europäischen Haftbefehl gegen KL, einen in Frankreich wohnhaften italienischen Staatsangehörigen, zur Vollstreckung einer verhängten Haftstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten aus. Diese Strafe resultiert aus der Kumulierung von vier Strafen, darunter eine für „Verwüstung und Plünderung“. Das Berufungsgericht Angers (Frankreich) lehnte die Übergabe von KL an die italienischen Behörden mit der Begründung ab, dass zwei der dieser Straftat zugrunde liegenden Handlungen in Frankreich keine Straftat darstellten. Die Tatbestandsmerkmale der Straftat „Verwüstung und Plünderung“ seien unterschiedlich in den beiden Mitgliedstaaten: Im italienischen Recht fielen darunter Handlungen mehrfacher, massiver Zerstörung und Sachbeschädigung, die auch den öffentlichen Frieden stören, während nach französischem Recht die Gefährdung des öffentlichen Friedens durch massenhafte Zerstörungen von beweglichen oder unbeweglichen Sachen nicht spezifisch geahndet werde. Der Gerichtshof hat entschieden, dass eine exakte Übereinstimmung der Tatbestandsmerkmale der betreffenden Straftat im Ausstellungs- und im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht erforderlich ist. Die vollstreckende Justizbehörde kann daher die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nicht deshalb ablehnen, weil lediglich ein Teil der Handlungen, die im Ausstellungsmitgliedstaat die betreffende Straftat bilden, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats eine Straftat darstellt.
    Urteil Procureur général près la cour d’appel d’Angers vom 14. Juli 2022 (C‑168/21)

  • Ein russischer Staatsangehöriger, der im Alter von 16 Jahren an einer seltenen Form von Blutkrebs erkrankt ist, befindet sich derzeit in den Niederlanden in Behandlung. Seine medizinische Behandlung besteht u. a. in der Verabreichung von medizinischem Cannabis zur Schmerzbekämpfung, was in Russland nicht erlaubt ist. Das Gericht Den Haag befragte den Gerichtshof, um zu klären, ob das Unionsrecht in einem solchen Fall dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegensteht. Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass das Unionsrecht dem entgegensteht, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Rückkehr dieser Person sie aufgrund der Nichtverfügbarkeit einer angemessenen Versorgung zur Schmerzbekämpfung im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme der durch seine Krankheit verursachten Schmerzen aussetzen würde, was gegen die Menschenwürde verstoßen würde.
    Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis) vom 22. November 2022 (C-69/21) (C‑69/21)

  • 2019 beantragte der damals noch minderjährige I, ein ägyptischer Staatsangehöriger, internationalen Schutz in Griechenland. In seinem Antrag äußerte er den Wunsch einer Zusammenführung mit seinem Onkel S, der ebenfalls ägyptischer Staatsangehöriger sei, sich rechtmäßig in den Niederlanden aufhalte und mit einer Zusammenführung einverstanden sei. Der niederländische Staatssekretär lehnte das von den griechischen Behörden gestellte Aufnahmegesuch mit der Begründung ab, dass die Identität von I und daher das behauptete Verwandtschaftsverhältnis zu S nicht nachgewiesen werden könnten. Er wies den Rechtsbehelf von I und S als offensichtlich unzulässig zurück, weil die Dublin-III-Verordnung für Antragsteller auf internationalen Schutz keine Möglichkeit vorsehe, gegen die Ablehnung eines von den zuständigen nationalen Behörden gestellten Aufnahmegesuchs vorzugehen. Diese Entscheidung wurde beim Gericht Den Haag (Niederlande) angefochten, der sich an den Gerichtshof wandte. Dieser hat geantwortet, dass die Dublin-III-Verordnung in Verbindung mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union es gebietet, einem unbegleiteten Minderjährigen ein Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die das Aufnahmegesuch ablehnende Entscheidung einzuräumen. Dem Verwandten des Minderjährigen steht jedoch kein solches Recht zu.
    Urteil Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Ablehnung des Aufnahmegesuchs eines ägyptischen unbegleiteten Minderjährigen) vom 1. August 2022 (C‑19/21)

Seerettung

Im Zusammenhang mit der Seerettung hat sich die Frage gestellt, wie weit die Befugnisse der Behörden des Hafenmitgliedstaats zur Kontrolle von Schiffen, die unter der Flagge eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union fahren, bezüglich der Sicherheit auf See und der Umwelt reichen.

  • Sea Watch ist eine deutsche humanitäre Organisation, die eine systematische Tätigkeit der Suche und Rettung von Personen im Mittelmeer mit Schiffen durchführt. Nach Rettungseinsätzen im Jahr 2020 wurden zwei ihrer Schiffe von den Hafenbehörden in Palermo und Porto Empedocle (Italien) Überprüfungen unterzogen und festgehalten. Dagegen ging Sea Watch gerichtlich vor. Das italienische Gericht wandte sich an den Gerichtshof, um den Umfang der Kontroll- und Festhaltebefugnisse des Hafenstaats in Bezug auf Schiffe zu klären, die von humanitären Organisationen betrieben werden. Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Hafenstaat diese Schiffe einer Überprüfung unterziehen darf. Festhalten darf er die Schiffe jedoch nur bei offensichtlicher Gefahr für die Sicherheit, die Gesundheit oder die Umwelt, was er nachweisen muss. Der Gerichtshof hat auch auf die Bedeutung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit hingewiesen, wonach die Mitgliedstaaten – darunter derjenige, der die Eigenschaft als Hafenstaat hat, und derjenige, der die Eigenschaft als Flaggenstaat hat – verpflichtet sind, bei der Ausübung ihrer jeweiligen Befugnisse zusammenzuarbeiten und sich abzustimmen.
    Urteil Sea Watch vom 1. August 2022 (verbundene Rechtssache C‑14/21 und C‑15/21)

Zugang zu Dokumenten

Transparenz im öffentlichen Leben ist ein wesentlicher Grundsatz der Union. Daher können die Bürger und juristische Personen in der Union grundsätzlich Zugang zu den Dokumenten der Organe beantragen. In bestimmten Fällen kann dieser Zugang jedoch verweigert werden.

  • Agrofert ist eine tschechische Holdinggesellschaft, die ursprünglich von Andrej Babiš gegründet worden war, der von 2017 bis 2021 Premierminister der Tschechischen Republik war. In einer Entschließung des Europäischen Parlaments wurde festgestellt, dass Herr Babiš auch nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten weiterhin den Agrofert-Konzern kontrolliere. Agrofert hielt diese Behauptung für unzutreffend und wollte wissen, welche Quellen und Informationen dem Parlament zur Verfügung standen. Sie stellte daher einen Antrag auf Zugang zu verschiedenen Dokumenten. In seiner Antwort führte das Parlament aus, dass bestimmte Dokumente öffentlich zugänglich seien, und verweigerte den Zugang zu einem Schreiben der Kommission an den tschechischen Ministerpräsidenten und zu einem Bericht der Kommission. Dagegen klagte Agrofert beim Gericht, das den Beschluss des Parlaments bestätigt hat. Das Gericht hat festgestellt, dass das Rechtsschutzinteresse von Agrofert in Bezug auf die Entscheidung, ihr den Zugang zu diesem Bericht zu verweigern, entfallen ist, weil ihr der Bericht inzwischen übermittelt wurde, und die Klage gegen die Entscheidung, den Zugang zum Schreiben an den tschechischen Ministerpräsidenten zu verweigern, abgewiesen, da die Verbreitung des Schreibens das Ziel der Prüftätigkeiten der Kommission beeinträchtigen konnte.
    Urteil Agrofert/Parlament vom 28. September 2022 (T‑174/21)

Wettbewerb und staatliche Beihilfen

Die Europäische Union wendet Regeln an, um den freien Wettbewerb zu schützen. Praktiken, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken, sind verboten. Konkret verbietet das Unionsrecht bestimmte Vereinbarungen oder den Austausch von Informationen zwischen einem Unternehmen und seinen Wettbewerbern, die einen solchen Zweck oder eine solche Wirkung haben können, sowie die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf einem bestimmten Markt durch ein Unternehmen. Ebenso sind staatliche Beihilfen grundsätzlich verboten, es sei denn, sie sind gerechtfertigt und verfälschen den Wettbewerb nicht auf eine dem Gemeinwohl abträgliche Weise.

  • 2009 hatte die Kommission eine Geldbuße von 1,06 Mrd. Euro gegen Intel Corporation verhängt, weil das Unternehmen zwischen 2002 und 2007 seine beherrschende Stellung auf dem Weltmarkt für Prozessoren missbräuchlich ausgenutzt habe. 2014 bestätigte das Gericht diese Entscheidung. Intel legte dagegen ein Rechtsmittel beim Gerichtshof ein, der 2017 das Urteil wegen eines Rechtsfehlers aufhob. Das Gericht hatte sich zu Unrecht darauf beschränkt, festzustellen, dass die streitigen Rabatte aufgrund ihres Wesens geeignet gewesen seien, den Wettbewerb zu beschränken, ohne zu prüfen, ob sie tatsächlich diese Wirkung hatten. Der Gerichtshof verwies die Sache daher an das Gericht zur erneuten Entscheidung zurück. In seinem Urteil vom 26. Januar 2022 hat das Gericht entschieden, dass die Analyse der Kommission hinsichtlich der Eignung der streitigen Rabatte, den Wettbewerb zu beschränken, unvollständig war, und hat daher die Entscheidung der Kommission teilweise für nichtig erklärt. Zur Auswirkung einer solchen Teilnichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung auf die Höhe der von der Kommission gegen Intel verhängten Geldbuße hat das Gericht festgestellt, dass es nicht in der Lage ist, zu bestimmen, welcher Betrag der Geldbuße allein auf die reinen Beschränkungen entfällt. Deshalb hat es den Artikel der angefochtenen Entscheidung, mit dem gegen Intel wegen der festgestellten Zuwiderhandlung eine Geldbuße in Höhe von 1,06 Mrd. Euro verhängt wird, in vollem Umfang für nichtig erklärt.
    Urteil Intel Corporation/Kommission vom 26. Januar 2022 (T‑286/09 RENV)

  • Mit Beschluss vom 27. September 2017 stellte die Europäische Kommission fest, dass die Scania AB, die Scania CV AB und die Scania Deutschland GmbH, drei Unternehmen der Scania-Gruppe, die Lkw für Langstreckentransporte herstellen und verkaufen, gegen das Wettbewerbsrecht der Union verstoßen hätten. Sie warf ihnen vor, sich von Januar 1997 bis Januar 2011 mit ihren Wettbewerbern an Kartellen auf dem Markt für mittlere und schwere Lkw im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beteiligt zu haben. Der Beschluss wurde nach einem sogenannten hybriden Verfahren erlassen, bei dem das Vergleichsverfahren und das ordentliche Verwaltungsverfahren in Kartellsachen verbunden werden. Das Vergleichsverfahren erlaubt den Beteiligten in Kartellverfahren, ihre Haftung anzuerkennen und im Gegenzug eine Herabsetzung der festgesetzten Geldbuße zu erhalten. Die Unternehmen der Scania-Gruppe hatten sich gegenüber der Kommission bereit erklärt, Vergleichsgespräche aufzunehmen, sich später jedoch aus diesem Verfahren zurückgezogen. Daher erließ die Kommission gegenüber den Unternehmen, die einen Vergleichsantrag gestellt hatten, einen Vergleichsbeschluss und setzte die Untersuchung gegen die Unternehmen der Scania-Gruppe fort, gegen die sie schließlich eine Geldbuße von 880 523 000 Euro festsetzte. Das Gericht hat die Klage der Unternehmen der Gruppe gegen den Beschluss der Kommission in vollem Umfang abgewiesen und damit die von der Kommission verhängte Geldbuße bestätigt.
    Urteil Scania u. a./Kommission vom 2. Februar 2022(T‑799/17)

  • Am 4. Mai 2022 hat das Gericht den Beschluss der Kommission bestätigt, mit dem die Rettungsbeihilfe Rumäniens zugunsten der rumänischen Fluggesellschaft TAROM in Höhe von 36 660 000 Euro genehmigt wird. Die Haupttätigkeit von TAROM ist die nationale und internationale Beförderung von Passagieren, Fracht und Post. Die Fluggesellschaft Wizz Air Hungary focht diesen Beschluss beim Gericht an. Dieses hat den Beschluss der Kommission bestätigt, weil die Beihilfe der Vermeidung der sozialen Härten dient, zu denen eine Unterbrechung der Dienste der rumänischen Fluggesellschaft angesichts des schlechten Zustands der rumänischen Straßen- und Schieneninfrastruktur führen könnte.
    Urteil Wizz Air Hungary/Kommission vom 4. Mai 2022 (T‑718/20)

  • Die Regierung der Autonomen Gemeinschaft Valencia gewährte der Fundación Valencia, einer mit dem Fußballverein FC Valencia in Verbindung stehenden Vereinigung, eine Bürgschaft für ein Bankdarlehen in Höhe von 75 Mio. Euro, mit dessen Hilfe sie 70,6 % der Aktien des FC Valencia erwarb. Diese Bürgschaft wurde später auf 6 Mio. Euro aufgestockt. 2016 stellte die Kommission fest, dass es sich um staatliche Beihilfen handele, die mit dem Unionsrecht unvereinbar seien, und ordnete ihre Rückforderung an. Der FC Valencia focht diesen Beschluss der Kommission beim Gericht an, das ihn 2020 für nichtig erklärte (T-732/16). Daraufhin legte die Kommission ein Rechtsmittel beim Gerichtshof gegen das Urteil des Gerichts ein. Der Gerichtshof hat das Rechtsmittel zurückgewiesen und festgestellt, dass das Gericht der Kommission keine übermäßige Beweislast auferlegt und zu Recht lediglich festgestellt hat, dass sie den Anforderungen, die sich mit dem Erlass von Regeln zur Analyse von Bürgschaften der Mitgliedstaaten in Gestalt einer Mitteilung selbst auferlegt hatte, nicht nachgekommen ist.
    Urteil Kommission/Valencia Club de Fútbol vom 10. November 2022 (C‑211/20 P)

Geistiges Eigentum



Geistiges Eigentum beim Gericht der Europäischen Union
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Der Gerichtshof und das Gericht gewährleisten die Auslegung und Anwendung der von der Union erlassenen Vorschriften zum Schutz aller ausschließlichen Rechte an geistigen Schöpfungen. Darüber hinaus verbessert der Schutz des geistigen Eigentums (Urheberrecht) und des gewerblichen Eigentums (Markenrecht, Schutz von Mustern und Modellen, Patentrecht) die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, indem er ein Umfeld fördert, das Kreativität und Innovation begünstigt. Das Unionsrecht schützt auch anerkannte Kenntnisse bezüglich eines Erzeugnisses in einem bestimmten geografischen Gebiet der Union durch geschützte Ursprungsbezeichnungen (g.U.).

  • Die Bezeichnung „Feta“ wurde im Jahr 2002 als geschützte Ursprungsbezeichnung (g.U.) eingetragen. Seitdem darf sie nur für Käse verwendet werden, der seinen Ursprung in einem bestimmten geografischen Gebiet in Griechenland hat und der einschlägigen Produktspezifikation entspricht. Dänemark vertrat die Auffassung, die Verordnung 1151/2012 gelte nur für Erzeugnisse, die in der Union vermarktet würden, nicht aber für Ausfuhren in Drittländer. Es hat daher Erzeugern in seinem Hoheitsgebiet nicht verboten, ihre Erzeugnisse unter der Bezeichnung „Feta“ auszuführen. Die Kommission leitete ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Dänemark ein, weil es gegen seine Verpflichtungen aus dieser Verordnung verstoßen habe. Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Verordnung zur Ausfuhr bestimmte Erzeugnisse nicht von den verbotenen Handlungen, insbesondere den Verletzungen des durch die g.U. geschützten Rechts des geistigen Eigentums, ausnimmt. Er hat daher festgestellt, dass Dänemark dadurch gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, dass es die Verwendung der Bezeichnung „Feta“ für Käse, der zur Ausfuhr in Drittländer bestimmt ist, nicht unterbunden hat.
    Urteil Kommission/Dänemark vom 14. Juli 2022 (C‑159/20)

  • Im Juni 2017 meldete die Regierung des Fürstentums Andorra das folgende Bildzeichen für ein breites Spektrum an Waren und Dienstleistungen als Unionsmarke an:


    Da das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) diese Anmeldung zurückgewiesen hatte, erhob die Regierung des Fürstentums Andorra eine Klage beim Gericht. Damit ein Zeichen als Unionsmarke eingetragen werden kann, darf es nicht beschreibend sein, also nicht bloß die beanspruchten Waren oder Dienstleistungen beschreiben. In seinem Urteil ist das Gericht zu dem Schluss gelangt, dass die Marke Andorra beschreibenden Charakter hat. Sie kann von den maßgeblichen Verkehrskreisen als Hinweis auf die Herkunft der fraglichen Waren und Dienstleistungen wahrgenommen werden. Dabei handelt es sich um ein absolutes Eintragungshindernis, das für sich genommen dazu führt, dass das Zeichen nicht als Unionsmarke eingetragen werden kann.
    Urteil Govern d‘Andorra/EUIPO (Andorra) vom 23. Februar 2022 (T‑806/19)

  • Das Gericht hat drei Klagen der Apple Inc. gegen Entscheidungen des Amts der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) abgewiesen, mit denen das Wortzeichen „THINK DIFFERENT“ für verfallen erklärt worden war. 1997, 1998 und 2005 hatte Apple Inc. die Eintragung des Wortzeichens „THINK DIFFERENT“ als Unionsmarke u. a. für informations- und telekommunikationstechnische Produkte erwirkt. Auf Antrag der Swatch AG, die geltend machte, dass die angegriffenen Marken für die betreffenden Waren innerhalb eines ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren nicht ernsthaft benutzt worden seien, erklärte das EUIPO die Marken für verfallen. Das Gericht hat die Entscheidung des EUIPO bestätigt, da Apple die ernsthafte Benutzung der Marken für die betreffenden Waren in den fünf Jahren vor dem Tag der Einreichung der Anträge auf Verfallserklärung hätte nachweisen müssen, ihr dieser Nachweis aber nicht gelungen ist.
    Urteil Apple/EUIPO – Swatch (Think different) vom 8. Juni 2022 (verbundene Rechtssachen T‑26/21, T‑27/21 und T‑28/21)

  • 2017 stellte das britische Unternehmen Golden Balls beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) einen Antrag, die Marke BALLON D’OR für verfallen zu erklären, da sie für bestimmte Waren und Dienstleistungen nicht hinreichend benutzt worden sei. Die Marke BALLON D’OR war für die französische Gesellschaft Les Éditions P. Amaury, Inhaberin der Rechte am Ballon d‘or (einer Auszeichnung für den besten Fußballspieler des Jahres), eingetragen. 2021 erklärte EUIPO diese Marke für die Mehrzahl der Waren und Dienstleistungen, für die sie eingetragen war, für verfallen. Daraufhin focht Les Éditions P. Amaury diese Entscheidung des EUIPO vor dem Gericht an, das sie aufgehoben hat, soweit darin die fragliche Marke für Unterhaltungsdienstleistungen für verfallen erklärt wurde. Für die Dienstleistungen der Ausstrahlung oder Zusammenstellung von Fernsehprogrammen, der Produktion von Shows oder Filmen und der Veröffentlichung von Büchern, Zeitschriften, Magazinen oder Zeitungen hat das Gericht die Verfallserklärung dagegen bestätigt.
    Urteil Les Éditions P. Amaury/EUIPO – Golden Balls (BALLON D’OR) vom 6. Juli 2022 (T‑478/21)

Steuern

Direkte Steuern wie z. B. die Körperschaftsteuer fallen grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Sie müssen aber die Grundregeln der Europäischen Union wie das Verbot staatlicher Beihilfen beachten. Daher werden Steuervorbescheide („tax rulings“), mit denen einige Mitgliedstaaten multinationalen Unternehmen eine besondere steuerliche Behandlung gewähren, von der Kommission und gegebenenfalls vom Unionsgericht überprüft.

  • Steuervorbescheide sind von der Steuerverwaltung bestimmter Mitgliedstaaten auf Antrag von Unternehmen erteilte verbindliche Auskünfte über die künftige Besteuerung dieser Unternehmen. Fiat Chrysler Finance Europe, ein Unternehmen mit Sitz im Großherzogtum Luxemburg, erhielt von den luxemburgischen Steuerbehörden einen Steuervorbescheid, mit dem eine Methode zur Bestimmung der Vergütung gebilligt wurde, die es als integriertes Unternehmen für den anderen Unternehmen der Fiat/Chrysler-Gruppe erbrachte Dienstleistungen bezog. 2015 stellte die Kommission fest, dass dieser Steuervorbescheid eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Betriebsbeihilfe im Sinne des Unionsrechts darstelle. Fiat Chrysler Finance Europe und Luxemburg erhoben daraufhin Klagen beim Gericht. Dieses bestätigte 2019 den von der Kommission verfolgten Ansatz und wies die Klagen ab. Fiat Chrysler Finance Europe und Irland hielten die Erwägungen des Gerichts zur Frage, wann ein wirtschaftlicher Vorteil vorliegt, in mehrfacher Hinsicht, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der geltenden beihilferechtlichen Vorschriften, für fehlerhaft. Der Gerichtshof hat das Urteil des Gerichts aufgehoben und den Beschluss der Kommission für nichtig erklärt. Nach seiner Ansicht hat die Kommission einen anderen Fremdvergleichsgrundsatz angewandt als den im luxemburgischen Recht festgelegten, obwohl – mangels einer entsprechenden Harmonisierung im Unionsrecht – nur die nationalen Bestimmungen relevant sind, wenn zu prüfen ist, ob bestimmte Transaktionen anhand des Fremdvergleichsgrundsatzes zu untersuchen sind.
    Urteil Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission und Irland/Kommission vom 8. November 2022 (verbundene Rechtssachen C‑885/19 P und C‑898/19 P)

Rechtsstaatlichkeit



Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Union
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Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – verbindliche Regeln mit konkreten Folgen
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Sowohl die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als auch der Vertrag über die Europäische Union verweisen ausdrücklich auf die Rechtsstaatlichkeit als einen der gemeinsamen Werte der EU-Mitgliedstaaten, auf die sich die Union gründet. Der Gerichtshof muss sich immer häufiger, sei es im Zusammenhang mit Vertragsverletzungsklagen der Europäischen Kommission gegen Mitgliedstaaten oder mit Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte, zu der Frage äußern, ob die Mitgliedstaaten die Rechtsstaatlichkeit wahren. Der Gerichtshof hat in solchen Fällen zu prüfen, ob dieser Grundwert auf nationaler Ebene geachtet wird, und zwar insbesondere hinsichtlich der Judikative und insoweit vor allem in Bezug auf das Ernennungsverfahren oder das Disziplinarverfahren für Richter.

  • In Beantwortung einer Vorlagefrage des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) hat der Gerichtshof entschieden, dass der bloße Umstand, dass ein Richter zu einem Zeitpunkt ernannt wurde, zu dem der Mitgliedstaat, dem er angehört, noch keine Demokratie war, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Richters bei der Ausübung seiner späteren richterlichen Funktionen nicht in Frage stellt. Insbesondere sind die Umstände, unter denen es zur erstmaligen Ernennung dieses Richters auf seine Stelle kam, nicht geeignet, bei den Einzelnen berechtigte und ernsthafte Zweifel zu wecken.
    Urteil Getin Noble Bank vom 29. März 2022 (C‑132/20)

Restriktive Maßnahmen und Außenpolitik

Restriktive Maßnahmen oder „Sanktionen“ sind ein wesentliches Instrument der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union. Sie werden als Teil eines ganzheitlichen und umfassenden Ansatzes eingesetzt, zu dem auch ein politischer Dialog gehört. Die Union greift auf sie zurück, um die Werte, die grundlegenden Interessen und die Sicherheit der Union zu schützen sowie Konflikte zu verhüten und die internationale Sicherheit zu stärken. Die Sanktionen sollen eine Änderung in der Politik oder im Handeln derjenigen bewirken, gegen die sich die Maßnahmen richten, und so die Ziele der GASP befördern.

  • Nach schweren Menschenrechtsverletzungen in Libyen erließ der Rat der Europäischen Union im Oktober 2020 restriktive Maßnahmen gegen Yevgeniy Viktorovich Prigozhin, einen russischen Geschäftsmann mit engen Beziehungen zur Wagner-Gruppe, die an Militäroperationen in diesem Staat beteiligt ist. Diese Maßnahmen, die im Juli 2021 verlängert wurden, bestanden im Einfrieren der Gelder von Personen, die an Handlungen beteiligt sind oder Handlungen unterstützen, die den Frieden, die Stabilität oder die Sicherheit in Libyen bedrohen. Herr Prigozhin focht diese Maßnahmen beim Gericht an und beantragte, sie für nichtig zu erklären. Das Gericht hat die Klage abgewiesen. Es hat u. a. festgestellt, dass die vorgelegten Beweise, z. B. Auszüge aus dem Bericht des UN-Generalsekretärs und Presseartikel (mit Fotos und Zeugenaussagen) aus verschiedenen Quellen wie Nachrichtenagenturen oder Medien, die Identifizierung der Wagner-Gruppe ermöglichen sowie präzise und übereinstimmende Informationen über die den Frieden, die Sicherheit und die Stabilität in Libyen bedrohenden Aktivitäten dieser Gruppe enthalten. Ferner enthalten die Akten konkrete, präzise und übereinstimmende Beweise für die engen und vielfältigen Beziehungen von Herrn Prigozhin zur Wagner-Gruppe.
    Urteil Prigozhin/Rat vom 1. Juni 2022 (T‑723/20)

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