Rechtsprechungstätigkeit

A | Der Gerichtshof im Jahr 2024
B | Das Gericht im Jahr 2024
C | Rechtsprechung im Jahr 2024

 
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A | Der Gerichtshof im Jahr 2024

Der Gerichtshof kann vor allem mit Vorabentscheidungsersuchen befasst werden. Hat ein nationales Gericht Zweifel hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit einer Unionvorschrift, setzt es das bei ihm anhängige Verfahren aus und ruft den Gerichtshof an. Nach dieser Klärung durch den Gerichtshof kann das nationale Gericht über den ihm vorliegenden Rechtsstreit befinden. Für Rechtssachen, in denen eine besonders rasche Antwort geboten ist (wenn es z. B. um Asyl, Grenzkontrollen oder Kindesentführungen geht), ist ein Eilvorabentscheidungsverfahren vorgesehen.

Der Gerichtshof kann ferner mit Klagen befasst werden, die auf die Nichtigerklärung eines Rechtsakts der Union (Nichtigkeitsklage) oder auf die Feststellung, dass ein Mitgliedstaat gegen das Unionsrecht verstoßen hat (Vertragsverletzungsklage), gerichtet sind. Kommt der Mitgliedstaat dem Urteil, mit dem die Vertragsverletzung festgestellt wurde, nicht nach, kann eine zweite Klage wegen „doppelter Vertragsverletzung“ dazu führen, dass der Gerichtshof eine finanzielle Sanktion gegen den Mitgliedstaat verhängt.

Darüber hinaus können Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts eingelegt werden. Der Gerichtshof kann diese Entscheidungen des Gerichts aufheben.

Schließlich kann der Gerichtshof um ein Gutachten ersucht werden zur Prüfung der Vereinbarkeit einer Übereinkunft, die die Union mit einem Drittstaat oder einer internationalen Organisation schließen will, mit den Verträgen (eingereicht von einem Mitgliedstaat oder einem europäischen Organ).

Tätigkeit und Entwicklung des Gerichtshofs

Koen Lenaerts

Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Union

Das vergangene Jahr war geprägt von der Verabschiedung und der Umsetzung der Reform des Gerichtssystems der Europäischen Union durch die Verordnung 2024/2019 des Europäischen Parlaments und des Rates, mit der auf Ersuchen des Gerichtshofs die Last der Rechtsstreitigkeiten zwischen den beiden Unionsgerichten ausgeglichen werden soll, indem die durch die Verordnung 2015/2422 des Europäischen Parlaments und des Rates im Jahr 2015 geregelte Verdoppelung der Zahl der Richter des Gerichts genutzt wird. Der Gerichtshof sollte so in der Lage sein, seine Aufgabe der Auslegung des Unionsrechts weiterhin innerhalb einer angemessenen Frist zu erfüllen, obwohl er einen erheblichen Anstieg der bei ihm anhängig gemachten Rechtsstreitigkeiten sowie eine erhöhte Zahl komplexer und sensibler Rechtssachen, die insbesondere Fragen verfassungsrechtlicher Art oder Grundrechte betreffen, verzeichnet. Im Jahr 2024 wurden mehr als 900 neue Rechtssachen beim Gerichtshof anhängig gemacht, eine Zahl, die nahe an die Rekordzahl aus dem Jahr 2019 herankommt und den in den letzten Jahren beobachteten Aufwärtstrend bestätigt, wodurch die Notwendigkeit der Reform unterstrichen wird.

In der Praxis bedeutet diese Reform vor allem eine teilweise Übertragung der Zuständigkeit für Vorabentscheidungen vom Gerichtshof auf das Gericht. Diese zum 1. Oktober 2024 wirksam gewordene Übertragung betrifft sechs besondere Sachgebiete, nämlich das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, die Verbrauchsteuern, den Zollkodex, die zolltarifliche Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur, Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Flug- und Fahrgäste im Fall der Nichtbeförderung, bei Verspätung oder bei Annullierung von Transportleistungen und das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten.

Der Gerichtshof bleibt jedoch für Vorabentscheidungsersuchen zuständig, die zwar in eines oder mehrere der besonderen Sachgebiete fallen, aber gleichzeitig auch andere Sachgebiete betreffen oder eigenständige Fragen der Auslegung des Primärrechts (einschließlich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union), des Völkerrechts oder der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts aufwerfen.

Durch die Reform ist eine erhebliche Verringerung der Arbeitsbelastung des Gerichtshofs in Vorabentscheidungsverfahren zu erwarten, was durch die ersten Schätzungen für die letzten drei Monate des vergangenen Jahres bestätigt wird.

Ein weiterer Teil der Reform zielt darauf ab, die Wirksamkeit des Rechtsmittelverfahrens gegen Entscheidungen des Gerichts zu wahren. Damit sich der Gerichtshof auf Rechtsmittel konzentrieren kann, die wichtige Rechtsfragen aufwerfen, erstreckt sich die vorherige Zulassung von Rechtsmitteln seit dem 1. September 2024 auch auf Entscheidungen des Gerichts, die Entscheidungen von sechs weiteren unabhängigen Beschwerdekammern von Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union betreffen, die zu den vier ursprünglich von der vorherigen Zulassung betroffenen Beschwerdekammern hinzugekommen sind. Das Zulassungsverfahren wurde im Übrigen auf Rechtsstreitigkeiten über die Erfüllung von Verträgen, die eine Schiedsklausel enthalten, ausgeweitet.

Schließlich soll mit der Reform die Transparenz des Vorabentscheidungsverfahrens erhöht und somit ein besseres Verständnis der Entscheidungen des Gerichtshofs oder des Gerichts ermöglicht werden. Künftig werden die in den Vorabentscheidungsverfahren eingereichten schriftlichen Erklärungen nämlich innerhalb einer angemessenen Frist nach Erledigung der Rechtssache auf der Website des Gerichtshofs veröffentlicht, sofern der betreffende Verfasser dem nicht widerspricht.

Neben der Änderung der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union hatte die Umsetzung der Reform auch eine Änderung der Verfahrensordnung des Gerichtshofs und der Verfahrensordnung des Gerichts zur Folge, insbesondere zur Ausgestaltung der Erstbehandlung von Vorabentscheidungsersuchen, die alle bei einer einzigen Anlaufstelle einzureichen sind, und des Verfahrens für dem Gericht vom Gerichtshof übermittelte Ersuchen. Die Verfahrensordnung des Gerichtshofs enthält darüber hinaus weitere Neuerungen, die den Lehren aus der Gesundheitskrise und der technologischen Entwicklung Rechnung tragen, insbesondere in Bezug auf die Möglichkeit für die Parteien oder ihre Vertreter, unter bestimmten rechtlichen und technischen Voraussetzungen per Videokonferenz zu verhandeln, den Schutz personenbezogener Daten bei der Bearbeitung von Rechtssachen, die Einreichung und Zustellung von Verfahrensschriftstücken über die Anwendung e‑Curia sowie die Übertragung bestimmter öffentlicher Sitzungen im Internet.

Die Empfehlungen an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen sowie die Praktischen Anweisungen für die Parteien wurden entsprechend angepasst.

Im Juni 2024 wurde das Organ durch den Tod des Richters Ilešič (Slowenien), der seit 2004 Richter am Gerichtshof war, in Trauer versetzt.

Darüber hinaus hat es im Januar 2024 Richter Safjan (Polen) verabschiedet und im Oktober eine bedeutende teilweise Neubesetzung erfahren, mit dem Ausscheiden von acht Mitgliedern, nämlich des Vizepräsidenten Bay Larsen (Dänemark), des Richters Bonichot (Frankreich), der Richterin Prechal (Niederlande), des Richters Xuereb (Malta), der Richterin Rossi (Italien), des Richters Wahl (Schweden) sowie der Generalanwälte Pikamäe (Estland) und Collins (Irland), und dem Amtsantritt von neun neuen Mitgliedern, nämlich des Richters Smulders (Niederlande), des Generalanwalts Spielmann (Luxemburg), der Richter Condinanzi (Italien) und Schalin (Schweden), des Generalanwalts Biondi (Italien), der Richter Gervasoni (Frankreich) und Fenger (Dänemark), der Richterin Frendo (Malta) und des Generalanwalts Norkus (Litauen).

Statistisch gesehen gab es sowohl eine Vielzahl von beim Gerichtshof anhängig gemachten Rechtssachen (920 neue Rechtssachen, d. h. fast 100 mehr als in jedem der letzten drei Jahre) als auch von erledigten Rechtssachen (863 Rechtssachen, d. h. 80 mehr als im Vorjahr), wobei der Anstieg bei den Erledigungen größtenteils auf die Engpässe zurückzuführen ist, die mit einer teilweisen Neubesetzung des Gerichtshofs einhergehen. Die Zahl der am 31. Dezember 2024 anhängigen Rechtssachen belief sich somit auf 1 206. Die durchschnittliche Verfahrensdauer lag unter Berücksichtigung aller Verfahrensarten im Jahr 2024 bei 17,7 Monaten.

920
neue Rechtssachen
573
Vorabentscheidungsverfahren, davon
6
Eilvorabentscheidungsverfahren
Mitgliedstaaten, aus denen die meisten Ersuchen stammen:
Italien
98
Deutschland
66
Polen
47
Österreich
39
Bulgarien
38
53
Klagen, davon
39
Vertragsverletzungsklagen und
3
Klagen wegen „doppelter Vertragsverletzung“
277
Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts
15
Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
1
Ersuchen um ein Gutachten
Eine Partei, die außerstande ist, die Verfahrenskosten zu bestreiten, kann Prozesskostenhilfe beantragen.
863
erledigte Rechtssachen
580
Vorabentscheidungsverfahren, davon
5
Eilvorabentscheidungsverfahren
53
Klagen, davon
26
festgestellte Vertragsverletzungen gegen
16
Mitgliedstaaten
1
Urteil wegen „doppelter Vertragsverletzung“
213
Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts, davon
48,
die zur Aufhebung der Entscheidung des Gerichts geführt haben
Durchschnittliche Verfahrensdauer:
17,7 Monate
Durchschnittliche Dauer der
Eilvorabentscheidungsverfahren:
3,3 Monate
1 206
anhängige Rechtssachen am 31. Dezember 2024
Wichtigste behandelte Sachgebiete:
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
141
Staatliche Beihilfen und Wettbewerb
137
Wirtschafts- und Währungspolitik
103
Angleichung von Rechtsvorschriften
85
Verbraucherschutz
63
Umwelt
62
Steuerwesen
61
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
57
Sozialpolitik
48
Geistiges Eigentum
45

Die Mitglieder des Gerichtshofs

Der Gerichtshof besteht aus 27 Richtern und elf Generalanwälten.

Die Richter und Generalanwälte werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten nach Anhörung eines Ausschusses, der die Aufgabe hat, eine Stellungnahme zur Eignung der vorgeschlagenen Bewerber für die Ausübung der fraglichen Ämter abzugeben, im gegenseitigen Einvernehmen ernannt. Ihre Amtszeit beträgt sechs Jahre; Wiederernennung ist zulässig.

Sie sind unter Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder sonst hervorragend befähigt sind.

Sie üben ihr Amt in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit aus.

Sie wählen aus ihrer Mitte den Präsidenten und den Vizepräsidenten. Die Richter und Generalanwälte ernennen den Kanzler für eine Amtszeit von sechs Jahren.

Die Generalanwälte haben die Aufgabe, in den Rechtssachen, an denen sie mitwirken, in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit ein Rechtsgutachten vorzulegen, das als „Schlussanträge“ bezeichnet wird. Dieses Gutachten ist unverbindlich, legt aber einen zusätzlichen Standpunkt zum Gegenstand der Rechtssache dar. Mit der teilweisen Neubesetzung des Gerichtshofs im Oktober 2024 traten neun neue Mitglieder ihr Amt an: Richter Smulders (Niederlande), Generalanwalt Spielmann (Luxemburg), Richter Condinanzi (Italien), Richter Schalin (Schweden), Generalanwalt Biondi (Italien), Richter Gervasoni (Frankreich), Richter Fenger (Dänemark), Richterin Frendo (Malta) und Generalanwalt Norkus (Litauen).

Mit der teilweisen Neubesetzung des Gerichtshofs im Oktober 2024 traten neun neue Mitglieder ihr Amt an: Richter Smulders (Niederlande), Generalanwalt Spielmann (Luxemburg), Richter Condinanzi (Italien), Richter Schalin (Schweden), Generalanwalt Biondi (Italien), Richter Gervasoni (Frankreich), Richter Fenger (Dänemark), Richterin Frendo (Malta) und Generalanwalt Norkus (Litauen).

In memoriam

Der slowenische Richter Marko Ilešič ist im Juni 2024 während seiner Amtszeit verstorben. Mit dem Beitritt Sloweniens zur Europäischen Union im Jahr 2004 wurde er als erster Angehöriger dieses Staates zum Richter am Gerichtshof ernannt. Herr Ilešič, der sowohl beruflich als auch privat für seine juristischen und geistigen Fähigkeiten, seine umfangreichen Sprachkenntnisse sowie für seine Menschlichkeit respektiert und bewundert wurde, hat einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung und Förderung des Unionsrechts sowie zur Verbreitung der slowenischen Kultur geleistet.

K. Lenaerts

Präsident

T. von Danwitz

Vizepräsident

F. Biltgen

Präsident der Ersten Kammer

K. Jürimäe

Präsidentin der Zweiten Kammer

C. Lycourgos

Präsident der Dritten Kammer

I. Jarukaitis

Präsident der Vierten Kammer

M. L. Arastey Sahún

Präsidentin der Fünften Kammer

M. Szpunar

Erster Generalanwalt

S. Rodin

Präsident der Achten Kammer

A. Kumin

Präsident der Sechsten Kammer

N. Jääskinen

Präsident der Neunten Kammer

D. Gratsias

Präsident der Zehnten Kammer

M. Gavalec

Präsident der Siebten Kammer

J. Kokott

Generalanwältin

A. Arabadjiev

Richter

M. Campos Sánchez-Bordona

Generalanwalt

E. Regan

Richter

N. J. Cardoso da Silva Piçarra

Richter

J. Richard de la Tour

Generalanwalt

A. Rantos

Generalanwalt

I. Ziemele

Richterin

J. Passer

Richter

N. Emiliou

Generalanwalt

Z. Csehi

Richter

O. Spineanu-Matei

Richterin

T. Ćapeta

Generalanwältin

L. Medina

Generalanwältin

B. Smulders

Richter

D. Spielmann

Generalanwalt

M. Condinanzi

Richter

F. Schalin

Richter

A. Biondi

Generalanwalt

S. Gervasoni

Richter

N. Fenger

Richter

R. Frendo

Richterin

R. Norkus

Generalanwalt

A. Calot Escobar

Kanzler

Protokollarische Rangfolge ab dem 9.10.2024

B | Das Gericht im Jahr 2024

Das Gericht entscheidet im ersten Rechtszug über Klagen von natürlichen oder juristischen Personen (Einzelpersonen, Gesellschaften, Vereinigungen etc.), wenn sie individuell und unmittelbar betroffen sind, und der Mitgliedstaaten gegen Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union sowie über Klagen auf Ersatz eines von den Organen oder ihren Bediensteten verursachten Schadens.

Gegen die Entscheidungen des Gerichts kann beim Gerichtshof ein Rechtsmittel eingelegt werden, das auf Rechtsfragen beschränkt ist. In Rechtssachen, die bereits zweifach geprüft worden sind (durch eine unabhängige Beschwerdekammer, dann durch das Gericht), lässt der Gerichtshof das Rechtsmittel nur dann zu, wenn damit eine für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage aufgeworfen wird.

Seit dem 1. Oktober 2024 ist das Gericht auch für vom Gerichtshof übermittelte Vorabentscheidungsersuchen zuständig, die ausschließlich in eines oder mehrere der folgenden sechs besonderen Sachgebiete fallen: gemeinsames Mehrwertsteuersystem, Verbrauchsteuern, Zollkodex, zolltarifliche Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur, Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Flug- und Fahrgäste im Fall der Nichtbeförderung, bei Verspätung oder bei Annullierung von Transportleistungen, System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten.

Eine große Zahl der Streitsachen vor dem Gericht ist wirtschaftlicher Natur: geistiges Eigentum (Marken und Geschmacksmuster der Europäischen Union), Wettbewerb, staatliche Beihilfen sowie Banken- und Finanzaufsicht. Das Gericht ist auch für die Entscheidung über die dienstrechtlichen Streitigkeiten zwischen der Europäischen Union und ihren Bediensteten zuständig.

Tätigkeit und Entwicklung des Gerichts

Marc van der Woude

Präsident des Gerichts der Europäischen Union

Für das Gericht war 2024 ein besonders wichtiges Jahr, gekennzeichnet durch das Inkrafttreten der Verordnung 2024/2019, mit der das Gerichtssystem der Europäischen Union reformiert wurde. Die teilweise Übertragung der Zuständigkeit für Vorabentscheidungen vom Gerichtshof auf das Gericht ist damit am 1. Oktober 2024 wirksam geworden.

Nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Gericht nunmehr für Vorabentscheidungsersuchen zuständig, die ausschließlich in eines oder mehrere der folgenden sechs besonderen Sachgebiete fallen: gemeinsames Mehrwertsteuersystem, Verbrauchsteuern, Zollkodex, zolltarifliche Einreihung von Waren, Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Flug- und Fahrgäste im Fall der Nichtbeförderung, bei Verspätung oder bei Annullierung von Transportleistungen, System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten (neuer Art. 50b der Satzung). Vom 1. Oktober bis zum 31. Dezember 2024 waren 19 Vorabentscheidungsersuchen Gegenstand einer Übertragung.

Intern musste das Gericht seine Struktur neu organisieren, um die zehn Richter der Kammer für die Behandlung von Vorabentscheidungsersuchen sowie den Vizepräsidenten des Gerichts Papasavvas zum Präsidenten dieser Kammer zu ernennen. Um eine optimale Bearbeitung von Vorabentscheidungsersuchen zu gewährleisten, hat das Gericht auch drei Richter ernannt, die die Funktion eines Generalanwalts wahrnehmen sollen. Außerdem sieht seine Verfahrensordnung nunmehr die Möglichkeit vor, u. a. in bestimmten Vorabentscheidungsverfahren als Mittlere Kammer mit neun Richtern zu entscheiden.

Ebenso wurde zum 1. September 2024 die vorherige Zulassung von Rechtsmitteln gegen Entscheidungen des Gerichts, die eine Entscheidung einer unabhängigen Beschwerdekammer von einer Einrichtung oder sonstigen Stelle der Union betreffen, ausgeweitet (neuer Art. 58a der Satzung des Gerichtshofs, ebenfalls eingefügt durch die Verordnung 2024/2019). Dieser Teil der Reform erhöht auch die Verantwortung des Gerichts für die Gewährleistung der Kohärenz und Einheitlichkeit des Rechts in den betreffenden Rechtsgebieten.

Die Reform fiel mit dem Ausscheiden von fünf Mitgliedern des Gerichts am 7. Oktober 2024 zusammen, die zu Richtern am Gerichtshof ernannt wurden. So verließen das Gericht namentlich Richter Gervasoni, die Kammerpräsidenten Spielmann und Schalin, Richterin Frendo und Richter Norkus. Das Gericht dankt ihnen für ihren langfristigen und bedeutenden Beitrag zu seiner Rechtsprechung. Am selben Tag wurden Richter Cassagnabère und Meyer als neue Mitglieder des Gerichts vereidigt.

Die einschneidende Umstrukturierung und das Ausscheiden von Mitgliedern haben jedoch die Rechtsprechungstätigkeit des Gerichts nicht verlangsamt, angesichts der 922 erledigten Rechtssachen im Jahr 2024. Mit dem Eingang von nur 786 neuen Rechtssachen ist die Zahl der anhängigen Rechtssachen damit zurückgegangen. Die durchschnittliche Verfahrensdauer von 18,5 Monaten zeugt von einer effizienten Rechtssachenbearbeitung, wobei das Gericht in der Lage ist, noch schneller zu reagieren, wenn die Besonderheiten der Rechtssache dies erfordern. So hat es sein erstes Urteil im Bereich der digitalen Märkte innerhalb von 8,2 Monaten erlassen (Urteil T‑1077/23, Bytedance/Kommission).

2024 wurden 20,2 % der Rechtssachen von erweiterten Spruchkörpern erledigt. Das Gericht verfolgt zudem den Ansatz weiter, Rechtssachen von besonderer Bedeutung u. a. für die Rechtsstaatlichkeit als Große Kammer mit 15 Richtern zu entscheiden (siehe Kapitel „Rückblick auf bedeutende Urteile des Jahres“). In dieser besonderen Besetzung des Gerichts sind die Entscheidungen in den Rechtssachen Ordre néerlandais des avocats du barreau de Bruxelles u. a./Rat, Medel u. a./Rat, Fridman u. a./Rat sowie Timchenko und Timchenko/Rat ergangen.

In Anbetracht seiner neuen Zuständigkeit für Vorabentscheidungen und der neuen Verantwortung, die sich aus der Ausweitung der vorherigen Zulassung von Rechtsmitteln ergibt, hat sich das Gericht mit sämtlichen für eine effiziente und proaktive Bearbeitung der bei ihm anhängigen Rechtssachen erforderlichen Instrumente ausgestattet und sich dabei auf den nächsten Dreijahreszeitraum, der im Oktober 2025 beginnt, vorbereitet.

786
neue Rechtssachen
667
Klagen, davon
Geistiges und gewerbliches Eigentum
268
Öffentlicher Dienst der Europäischen Union
76
Staatliche Beihilfen und Wettbewerb
33
7
von den Mitgliedstaaten erhobene Klagen
30
Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
19
Vorlagen zur Vorabentscheidung
Eine Partei, die außerstande ist, die Verfahrenskosten zu bestreiten, kann Prozesskostenhilfe beantragen.

Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung

Savvas Papasavvas

Vizepräsident des Gerichts

Das Jahr 2024 markiert die Rückkehr der Großen Kammer, der besonderen Besetzung des Gerichts, die bisher nur selten und sporadisch angerufen wurde. Die Große Kammer, die aus 15 Richtern besteht, wird mit den bedeutendsten Rechtssachen sowie mit Rechtssachen befasst, die eine rechtliche Schwierigkeit oder besondere Umstände aufweisen (Art. 28 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts). In dieser Besetzung sind im vergangenen Jahr in mehreren zusammengefassten Rechtssachen sechs Entscheidungen ergangen, und zwar im Zusammenhang mit den Angriffen Russlands auf die Ukraine und mit der Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität im Rahmen des Aufbauplans NextGenerationEU.

In seinen Urteilen vom 11. September 2024, Fridman u. a./Rat sowie Timchenko und Timchenko/Rat (T‑635/22 und T‑644/22), hat das Gericht bestätigt, dass der Rat zum einen zuständig ist, Pflichten zur Meldung von Geldern und zur Zusammenarbeit mit den zuständigen nationalen Behörden durch von restriktiven Maßnahmen betroffene Personen zu erlassen, und zum anderen dazu, die Nichteinhaltung dieser Pflichten einer Umgehung der Maßnahmen des Einfrierens von Geldern gleichzustellen.

Des Weiteren hat das Gericht in seinen Urteilen vom 2. Oktober 2024, Ordre néerlandais des avocats du barreau de Bruxelles u. a./Rat, Ordre des avocats à la cour de Paris und Couturier/Rat sowie ACE/Rat (T‑797/22, T‑798/22 und T‑828/22), die Rechtmäßigkeit des Verbots bestätigt, unmittelbar oder mittelbar Dienstleistungen im Bereich Rechtsberatung für die Regierung Russlands und für in Russland niedergelassene juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen zu erbringen (Verordnung [EU] Nr. 833/2014 des Rates über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren). In den Rechtssachen geht es um die Frage, ob ein Grundrecht auf Zugang zu einem Anwalt besteht, das sich insbesondere auf Situationen erstreckt, die keinen Bezug zu einem Gerichtsverfahren aufweisen. Das Gericht hat die Klage abgewiesen, sich aber u. a. darum bemüht, die Tragweite des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) und des Rechts auf Wahrung des Berufsgeheimnisses (Art. 7) zu präzisieren.

Schließlich hat das Gericht mit Beschluss vom 4. Juni 2024, Medel u. a./Rat (T‑530/22 bis T‑533/22), die Anträge auf Nichtigerklärung des Durchführungsbeschlusses zurückgewiesen, mit dem der Rat die Bewertung des Aufbau- und Resilienzplans Polens billigte und Etappenziele und Zielwerte festlegte, die dieser Mitgliedstaat erreichen muss, damit die ihm im angefochtenen Beschluss gewährten Mittel freigegeben werden können. Nach Auffassung der Großen Kammer waren die Kläger, vier repräsentative internationale Richtervereinigungen, deren Mitglieder in der Regel nationale, auch polnische, Berufsverbände sind, nicht klagebefugt.

Diese neue Dynamik der Großen Kammer wird 2025 mit Sicherheit fortgesetzt, da derzeit weitere Rechtssachen anhängig sind, die in dieser Besetzung entschieden werden. Begleitet werden wird dies voraussichtlich von Verweisen an die Mittlere Kammer, die mit der Verordnung (EU, Euratom) 2024/2019 zur Ergänzung des dem Gericht zur Verfügung stehenden Arsenals an besonderen Besetzungen eingerichtet wurde.

922
erledigte Rechtssachen
832
Klagen, davon
Geistiges und gewerbliches Eigentum
276
Staatliche Beihilfen und Wettbewerb
98
Öffentlicher Dienst der Europäischen Union
76
1
Vorlage zur Vorabentscheidung
Durchschnittliche Verfahrensdauer:
18,5 Monate
Anteil der mit Rechtsmitteln beim Gerichtshof
angefochtenen Entscheidungen:
35 %
1 705
anhängige Rechtssachen (am 31. Dezember 2024)
Wichtigste behandelte Sachgebiete:
Institutionelles Recht
552
Geistiges und gewerbliches Eigentum
322
Wirtschafts- und Währungspolitik
167
Staatliche Beihilfen und Wettbewerb
153
Öffentlicher Dienst der EU
112
Restriktive Maßnahmen
91
Zugang zu Dokumenten
41
Landwirtschaft
30
Öffentliche Aufträge
29
Öffentliche Gesundheit
24

Die Mitglieder des Gerichts

Das Gericht besteht aus zwei Richtern je Mitgliedstaat.

Zu Richtern sind Personen auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und über die Befähigung zur Ausübung hoher richterlicher Tätigkeiten verfügen. Sie werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen nach Anhörung eines Ausschusses, der die Aufgabe hat, eine Stellungnahme zur Eignung der vorgeschlagenen Bewerber abzugeben, im gegenseitigen Einvernehmen ernannt. Ihre Amtszeit beträgt sechs Jahre; Wiederernennung ist zulässig. Die Richter wählen aus ihrer Mitte den Präsidenten und den Vizepräsidenten für die Dauer von drei Jahren. Sie ernennen den Kanzler für eine Amtszeit von sechs Jahren.

Sie üben ihr Amt in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit aus.

Im Zusammenhang mit der teilweisen Übertragung der Zuständigkeit für Vorabentscheidungen vom Gerichtshof auf das Gericht zum 1. Oktober 2024 hat das Gericht Richter Martín y Pérez de Nanclares und Richterin Brkan zu Richtern gewählt, die das Amt eines Generalanwalts für die Bearbeitung von Vorabentscheidungsersuchen ausüben, sowie Richter Gâlea als Vertreter im Fall einer Verhinderung.

Im Oktober 2024 traten die Richter Cassagnabère (Frankreich) und Meyer (Luxemburg) als Nachfolger der Richter Gervasoni und Spielmann, die beide am Gerichtshof ernannt wurden, ihr Amt am Gericht an.

M. van der Woude

Präsident

S. Papasavvas

Vizepräsident

A. Marcoulli

Präsidentin der Zweiten Kammer

R. da Silva Passos

Präsident der Vierten Kammer

J. Svenningsen

Präsident der Fünften Kammer

M. J. Costeira

Präsidentin der Sechsten Kammer

K. Kowalik-Bańczyk

Präsidentin der Siebten Kammer

A. Kornezov

Präsident der Achten Kammer

L. Truchot

Präsident der Neunten Kammer

O. Porchia

Präsidentin der Zehnten Kammer

R. Mastroianni

Präsident der Ersten Kammer

P. Škvařilová-Pelzl

Präsidentin der Dritten Kammer

M. Jaeger

Richter

H. Kanninen

Richter

J. Schwarcz

Richter

M. Kancheva

Richterin

E. Buttigieg

Richter

V. Tomljenović

Richterin

L. Madise

Richter

N. Półtorak

Richterin

I. Reine

Richterin

P. Nihoul

Richter

U. Öberg

Richter

C. Mac Eochaidh

Richter

G. De Baere

Richter

T. Pynnä

Richterin

J. Laitenberger

Richter

J. Martín y Pérez de Nanclares

Richter

G. Hesse

Richter

M. Sampol Pucurull

Richter

M. Stancu

Richterin

I. Nõmm

Richter

G. Steinfatt

Richterin

T. Perišin

Richterin

D. Petrlík

Richter

M. Brkan

Richterin

P. Zilgalvis

Richter

K. Kecsmár

Richter

I. Gâlea

Richter

I. Dimitrakopoulos

Richter

D. Kukovec

Richter

S. Kingston

Richterin

T. Tóth

Richter

B. Ricziová

Richterin

E. Tichy-Fisslberger

Richterin

W. Valasidis

Richter

S. Verschuur

Richter

S. L. Kalėda

Richter

L. Spangsberg Grønfeldt

Richterin

H. Cassagnabère

Richter

R. Meyer

Richter

V. Di Bucci

Kanzler

Protokollarische Rangfolge ab dem 9.10.2024

C | Rechtsprechung im Jahr 2024

Fokus

Mobilitätspaket 2020: fairer Wettbewerb und Verbesserung der Arbeitsbedingungen für einen sichereren, nachhaltigeren und faireren Straßenverkehrssektor

Urteil Litauen u. a./Parlament und Rat vom 4. Oktober 2024 (C‑541/20 bis C‑555/20)

Mobilitätspaket 2020

Im Jahr 2020 verabschiedete die Europäische Union ein Reformpaket für den Straßenverkehrssektor, um zwei wesentliche Ziele zu erreichen:

1. Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Kraftfahrer:

  • – durch das Verbot, die wöchentliche Ruhezeit im Fahrzeug zu verbringen;

    – durch die Gewährleistung einer regelmäßigen Rückkehr zum Wohnort oder zur Betriebsstätte (alle drei oder vier Wochen), um dort ihre Ruhezeit zu verbringen;

    – durch die Vorverlegung des Zeitpunkts des Inkrafttretens der Verpflichtung zum Einbau intelligenter Fahrtenschreiber der zweiten Generation.

2. Schaffung eines fairen Wettbewerbs:

  • – durch die Verpflichtung zur Rückkehr der Fahrzeuge zu einer der Betriebsstätten im Niederlassungsmitgliedstaat des Verkehrsunternehmens alle acht Wochen;

    – durch die Einführung einer Wartezeit von vier Tagen nach einem Kabotagezyklus in einem Aufnahmemitgliedstaat (in der gebietsfremde Kraftverkehrsunternehmen nicht berechtigt sind, Kabotagebeförderungen mit demselben Fahrzeug in dem betreffenden Mitgliedstaat durchzuführen);

    – durch die Einstufung der Kraftfahrer als „entsandte Arbeitnehmer“ in bestimmten Fällen, so dass ihnen die im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Arbeits- und Entgeltbedingungen zugutekommen.

Kabotage ist eine Beförderung, die innerhalb eines Mitgliedstaats von einem nicht in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Verkehrsunternehmer durchgeführt wird. Sie ist zulässig, solange sie nicht so erfolgt, dass dadurch eine dauerhafte Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat entsteht.

Der intelligente Fahrtenschreiber der zweiten Generation ist ein elektronisches Gerät, das die Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten der Kraftfahrer aufzeichnet. Er trägt zur Gewährleistung der Straßenverkehrssicherheit, der Einhaltung der Arbeitsbedingungen für Fahrer und der Verhinderung von Betrug bei.

Das Mobilitätspaket besteht aus drei Rechtsakten zur rechtlichen Regelung des Straßenverkehrs. Diese ehrgeizige Reform löste lebhafte Diskussionen aus, die zu einer Reihe von Klagen führten. So haben sieben Mitgliedstaaten – Litauen, Bulgarien, Rumänien, Zypern, Ungarn, Malta und Polen – beim Gerichtshof 15 Nichtigkeitsklagen gegen bestimmte Vorschriften des Mobilitätspakets erhoben.

Dessen Gültigkeit ist mit dem Urteil des Gerichtshofs weitgehend bestätigt worden.

Der Gerichtshof hat zwar anerkannt, dass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Kraftfahrer zu einem Anstieg der Kosten zulasten der Verkehrsunternehmen führen kann, dabei hat er jedoch ausgeführt, dass diese Vorschriften, die unterschiedslos in der gesamten Union gelten, keine Verkehrsunternehmen mit Sitz in „an der Peripherie der Union“ gelegenen Mitgliedstaaten diskriminieren. Etwaige stärkere Auswirkungen dieser Vorschriften auf bestimmte Unternehmen hängen von deren wirtschaftlichen Entscheidung ab, ihre Dienstleistungen an Empfänger zu erbringen, die in von ihrem Niederlassungsmitgliedstaat weit entfernten Mitgliedstaaten ansässig sind.

Bei der Einstufung als „entsandte Arbeitnehmer“ (durch die den Kraftfahrern die Mindestarbeits- und Mindestentgeltbedingungen des Aufnahmemitgliedstaats anstelle der möglicherweise ungünstigeren Bedingungen des Niederlassungsstaats des Verkehrsunternehmers zugutekommen können) handelt es sich um eine Maßnahme zur Gewährleistung fairer Arbeitsbedingungen und zur Bekämpfung unlauterer Wettbewerbspraktiken. Diese Entwicklung ist zwar für die Beschäftigten von Vorteil, führte jedoch zu Diskussionen unter den Mitgliedstaaten, von denen einige, insbesondere diejenigen mit niedrigen Lohnkosten, einen Anstieg der Kosten für ihre Unternehmen und die administrative Komplexität der neuen Vorschriften befürchteten. Der Gerichtshof hat diese vom Unionsgesetzgeber getroffene Maßnahme, die darauf abzielt, einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen in Rede stehenden Interessen zu erreichen, bestätigt.

Was die Verpflichtung betrifft, eine Wartezeit von vier Tagen nach einem Kabotagezyklus in einem Aufnahmemitgliedstaat einzuhalten, so soll dies die örtlichen Unternehmen schützen und unlauteren Wettbewerb verhindern, indem vermieden wird, dass durch wiederholte Kabotagebeförderungen de facto eine dauerhafte Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat entsteht. Einige Mitgliedstaaten beanstandeten diese Verpflichtung, da sie die Flexibilität der Unternehmen einschränke, indem sie diese zwinge, ihre Routen anzupassen, um Zeiten der Untätigkeit, die zu Einkommensverlusten führten, zu vermeiden. Der Gerichtshof hat dieses Vorbringen mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass während dieser Wartezeit lediglich Kabotagebeförderungen im Aufnahmemitgliedstaat verboten sind, was die Durchführung anderer grenzüberschreitender Beförderungen oder von Kabotagebeförderungen in anderen Mitgliedstaaten nicht unterbindet.

Der Gerichtshof hat jedoch die Verpflichtung, wonach Fahrzeuge alle acht Wochen zur Betriebsstätte des Verkehrsunternehmens zurückkehren müssen, für nichtig erklärt. Das Parlament und der Rat hatten nicht dargetan, dass sie über ausreichende Informationen verfügten, um die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme und ihre sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen zu beurteilen.

Fokus

Urteil Herbaria Kräuterparadies II (C‑240/23)

Die deutsche Gesellschaft Herbaria stellt das Getränk „Blutquick“ her, das als Nahrungsergänzungsmittel vermarktet wird. Das Getränk enthält Zutaten, die aus biologischer Produktion stammen; ihm werden aber auch nicht pflanzliche Vitamine und Eisengluconat zugesetzt. Auf der Verpackung befinden sich das Logo der Union für ökologische/biologische Produktion sowie ein Verweis auf „kontrolliert biologischen Anbau“.

Im Januar 2012 hatten die deutschen Behörden Herbaria den geschützten Hinweis auf den ökologischen Landbau untersagt, da gemäß Unionsrecht verarbeiteten Produkten, die die Bezeichnung „ökologisch/biologisch“ führten, Vitamine und Mineralstoffe nur zugesetzt werden dürften, wenn ihre Verwendung gesetzlich vorgeschrieben sei.

Der Gerichtshof, der im Rahmen einer ersten Rechtssache um Vorabentscheidung ersucht worden war (Rechtssache C‑137/13), hatte entschieden, dass die Verwendung dieser Stoffe nur dann als gesetzlich vorgeschrieben angesehen wird, wenn eine Vorschrift des Unionsrechts oder eine mit ihm im Einklang stehende nationale Vorschrift unmittelbar vorschreibt, dass sie einem Nahrungsmittel hinzuzufügen sind, damit es in Verkehr gebracht werden kann. Da der vorliegende Zusatz von Vitaminen und Eisengluconat zu „Blutquick“ diese Anforderung nicht erfüllte, wies das deutsche Gericht, das sich an den Gerichtshof gewandt hatte, die Klage von Herbaria ab.

Die Rechtssache wurde sodann vor das deutsche Bundesverwaltungsgericht gebracht, vor dem Herbaria die Untersagung der Anbringung des Logos der Europäischen Union für ökologische/biologische Produktion nicht mehr in Abrede stellte, sondern eine Ungleichbehandlung ihres Erzeugnisses gegenüber einem gleichartigen, aus den Vereinigten Staaten eingeführten Erzeugnis geltend machte.

Die Vereinigten Staaten sind nämlich im europäischen Recht als Drittland anerkannt, dessen Produktions- und Kontrollvorschriften denen der Europäischen Union gleichwertig sind. Nach Ansicht von Herbaria dürfen aus den Vereinigten Staaten stammende Erzeugnisse, die den dortigen Produktionsvorschriften entsprechen, folglich in der Union als ökologische/biologische Erzeugnisse vermarktet werden. Dies führe zu einer Ungleichbehandlung, da amerikanische Konkurrenzprodukte das Logo der Union für ökologische/biologische Produktion tragen dürften, ohne die in der Union geltenden Vorschriften für ökologische/biologische Produktion einzuhalten.

Das deutsche Bundesverwaltungsgericht hat den Gerichtshof hierzu befragt.

In seinem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass <>das EU-Bio-Logo nur für Erzeugnisse verwendet werden darf, die sämtlichen Vorgaben der Verordnung über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen entsprechen. Dieses Logo darf daher nicht für Erzeugnisse verwendet werden, die in einem Drittland nach Vorschriften hergestellt wurden, die den im Unionsrecht vorgesehenen Vorschriften lediglich gleichwertig sind. Diese Untersagung erstreckt sich auch auf die Verwendung von Bezeichnungen mit Bezug auf die ökologische/biologische Produktion.

Es wäre dem fairen Wettbewerb auf dem Binnenmarkt abträglich, wenn dieses Logo und diese Bezeichnungen sowohl für in der Union oder in Drittländern im Einklang mit den europäischen Vorschriften für ökologische/biologische Produktion hergestellte Erzeugnisse als auch für Erzeugnisse verwendet werden dürften, die in Drittländern nach Standards hergestellt wurden, die diesen Vorschriften lediglich gleichwertig sind. Darüber hinaus könnte dies die Verbraucher irreführen, wobei der Sinn und Zweck des Logos gerade darin besteht, die Verbraucher klar und eindeutig darüber zu informieren, dass das Erzeugnis voll und ganz den Vorgaben der Verordnung entspricht.

Dagegen darf das Logo des Drittlands für ökologische/biologische Produktion auch dann für in diesem Land hergestellte Erzeugnisse verwendet werden, wenn es Bezeichnungen mit Bezug auf die ökologische/biologische Produktion enthält.

EU-Bio-Logo

Mit dem EU-Bio-Logo erhalten in der EU biologisch erzeugte Produkte ein einheitliches Erkennungszeichen. Dies erleichtert Verbrauchern die Auswahl von Bio-Produkten, und Landwirte können sie besser in allen Mitgliedstaaten vermarkten.

Das Bio-Logo dürfen nur Produkte tragen, für die eine zugelassene Stelle bescheinigt hat, dass sie biologisch erzeugt wurden, wodurch die Erfüllung strenger Bedingungen für Herstellung, Verarbeitung, Transport und Lagerung gewährleistet wird. Zulässig ist das Logo nur auf Produkten, die zu mindestens 95 % aus Bio-Zutaten bestehen und zusätzlich strenge Vorgaben für die verbleibenden 5 % erfüllen. Derselbe Inhaltsstoff darf nicht gleichzeitig als Bio-Zutat und Nicht‑Bio-Zutat vorhanden sein.

Verordnung 2018/848

Die Verordnung 2018/848 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen ist darauf ausgerichtet, einen fairen Wettbewerb, das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts in diesem Sektor und das Vertrauen der Verbraucher in als ökologisch/biologisch gekennzeichnete Erzeugnisse zu gewährleisten.

Sie sieht allgemeine und spezifische Produktionsvorschriften vor. Im Bereich der Kennzeichnung schreibt sie die Einhaltung der Vorschriften betreffend die Information der Verbraucher vor, um insbesondere etwaige Unklarheiten oder Irreführungen zu vermeiden. Sie legt zudem spezifische Vorschriften für die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und Umstellungserzeugnissen fest, um sowohl das Interesse der Unternehmer an einer korrekten Kennzeichnung ihrer Erzeugnisse und an einem fairen Wettbewerb als auch das Interesse der Verbraucher zu schützen.

Weitere Urteile des Gerichtshofs zu ökologischen/biologischen Erzeugnissen

Urteil vom 12. Oktober 2017, Kamin und Grill Shop (C‑289/16)

Nach der Verordnung Nr. 834/2007 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen müssen Unternehmer, die ökologische/biologische Erzeugnisse vertreiben, ihr Unternehmen einem Kontrollsystem unterstellen. Unternehmer, die Erzeugnisse direkt an Endverbraucher oder ‑nutzer verkaufen, können unter bestimmten Voraussetzungen von dieser Verpflichtung befreit werden. Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Verkauf unter gleichzeitiger Anwesenheit des Unternehmers oder seines Verkaufspersonals und des Endverbrauchers zu erfolgen hat. Folglich kommen Unternehmer, die die Erzeugnisse online vertreiben, nicht für diese Befreiung in Frage.

Urteil vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs (C‑497/17)

Die Verordnung Nr. 834/2007 gestattet keine Anbringung des EU-Bio-Logos auf Erzeugnissen, die von Tieren stammen, die ohne vorherige Betäubung einer rituellen Schlachtung unterzogen wurden, die unter den von der Verordnung Nr. 1099/2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung festgelegten Bedingungen durchgeführt wurde.

Urteil vom 29. April 2021, Natumi (C‑815/19)

Die Verordnung Nr. 889/2008 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 834/2007 steht der Verwendung eines aus den gereinigten, getrockneten und gemahlenen Sedimenten der Alge Lithothamnium calcareum gewonnenen Pulvers als nicht ökologische/nicht biologische Zutat landwirtschaftlichen Ursprungs bei der Verarbeitung ökologischer/biologischer Lebensmittel (wie ökologischen/biologischen Reis- und Sojagetränken) zu deren Anreicherung mit Calcium entgegen.

Fokus

Zugang der Öffentlichkeit zu Verträgen über den Kauf von Covid‑19‑Impfstoffen

Urteile Auken u. a./Kommission sowie Courtois u. a./Kommission (T‑689/21 und T‑761/21)

Im Juni 2020 begann die Europäische Union mit der strategischen Beschaffung von Covid-19‑Impfstoffen. In diesem Zusammenhang unterzeichnete die Kommission eine Vereinbarung mit den 27 Mitgliedstaaten, die sie ermächtigte, in deren Namen Abnahmegarantien mit Herstellern zu schließen.

Da der frühzeitige Einsatz von Impfungen im Interesse der öffentlichen Gesundheit lag, wurde die Frist für die Entwicklung der Impfstoffe für Pharmaunternehmen verkürzt. Um das von diesen Unternehmen getragene Risiko auszugleichen, nahmen die Kommission und die Mitgliedstaaten in ihre Impfstrategie den Grundsatz der Risikoteilung zwischen Herstellern und Mitgliedstaaten auf, wodurch die Haftung des Herstellers für unerwünschte Wirkungen seines Produkts vermindert wurde.

Die veröffentlichten Fassungen der Verträge waren teilweise geschwärzt, Angaben zu finanziellen Risiken, Schenkungen oder Weiterverkäufen sowie Erklärungen über das Nichtvorliegen eines Interessenkonflikts unkenntlich gemacht.

Im Jahr 2021 beanstandeten Bürger und Europaabgeordnete die teilweise Verweigerung des Zugangs zu bestimmten Dokumenten im Zusammenhang mit den Verträgen über den Kauf von Impfstoffen aus dem Jahr 2020 durch die Europäische Kommission. Die Anträge auf Zugang betrafen Klauseln über die Entschädigung von Pharmaunternehmen. Nach diesen Klauseln waren die Unternehmen verpflichtet, Geschädigte im Fall eines vorsätzlichen Verschuldens oder eines grob fahrlässigen Fehlverhaltens bei der Herstellung zu entschädigen, während in den anderen Fällen die Haftung bei den Mitgliedstaaten lag.

Die Bürger und Europaabgeordneten forderten ferner Zugang zu den von den Mitgliedern des Verhandlungsteams für den Kauf von Impfstoffen unterzeichneten Erklärungen über das Nichtvorliegen eines Interessenkonflikts. Sie wollten aufklären, wie die Verhandlungen geführt worden waren, insbesondere über einen Vertrag vom Mai 2021 über den Kauf von 1,8 Milliarden zusätzlicher Impfstoffdosen für 35 Mrd. Euro.

Die Kommission hatte nur teilweisen Zugang zu diesen Dokumenten gewährt und geschwärzte Fassungen veröffentlicht, unter Berufung auf das Geschäftsgeheimnis und den Schutz der Privatsphäre.

Das mit zwei Klagen gegen die Entscheidungen der Kommission befasste Gericht hat diese teilweise für nichtig erklärt.

Zum Antrag auf einen weiter gehenden Zugang zu den Entschädigungsklauseln hat das Gericht festgestellt, dass der Grund für deren Aufnahme in die Verträge, nämlich das von den Pharmaunternehmen getragene Risiko im Zusammenhang mit der Verkürzung der Frist für die Entwicklung der Impfstoffe auszugleichen, von den Mitgliedstaaten gebilligt wurde und öffentlich bekannt war. Die Kommission hat nicht dargetan, inwiefern ein weiter gehender Zugang zu diesen Klauseln, zu bestimmten in den Verträgen enthaltenen Definitionen (wie die der Begriffe „vorsätzliches Verschulden“ und „alle möglichen und zumutbaren Anstrengungen“) sowie zu den Vertragsbestimmungen über die Schenkung und den Weiterverkauf von Impfstoffen die geschäftlichen Interessen der fraglichen Pharmaunternehmen konkret beeinträchtigen würde.

In Bezug auf den Antrag auf Offenlegung der Identität der Mitglieder des Verhandlungsteams in den Erklärungen über das Nichtvorliegen eines Interessenkonflikts hat das Gericht bestätigt, dass er einen im öffentlichen Interesse liegenden Zweck verfolgt. Nur durch die Offenlegung dieser Identität lässt sich nämlich überprüfen, ob bei den Mitgliedern des Verhandlungsteams kein Interessenkonflikt bestand. Diese Transparenz der Vertragsverhandlungen stärkt das Vertrauen der Unionsbürger in die Impfstrategie der Kommission und trägt dazu bei, die Verbreitung falscher Informationen zu bekämpfen. Das Gericht hat daher entschieden, dass die Kommission die bestehenden Interessen im Zusammenhang mit dem Nichtvorliegen von Interessenkonflikten und der Gefahr einer Beeinträchtigung der Privatsphäre nicht ordnungsgemäß gegeneinander abgewogen hat.

Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten: ein zentraler Bestandteil der Transparenz

Mit der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates soll der Öffentlichkeit ein Recht auf größtmöglichen Zugang zu Dokumenten des Parlaments, des Rates und der Kommission gewährt werden. Sie zielt darauf ab, die Transparenz, Legitimität und Verantwortung der Organe zu stärken.

Dieses Recht gilt jedoch nicht absolut. Es gibt Einschränkungen zum Schutz bestimmter öffentlicher oder privater Interessen, wie der öffentlichen Sicherheit, der Vertraulichkeit interner Beratungen sowie der Rechtsberatung, der finanziellen, wirtschaftlichen oder geschäftlichen Interessen und dem Schutz personenbezogener Daten.

Die Organe müssen die Transparenz und den Schutz dieser Interessen miteinander in Einklang bringen, indem sie in jedem Einzelfall prüfen, ob die Offenlegung eines der Interessen beeinträchtigen könnte. Eine Offenlegung kann im Ergebnis verlangt werden, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse nachgewiesen wird.

Wird der Zugang verweigert, kann der Antragsteller bei dem betreffenden Organ eine Überprüfung beantragen und – im Fall einer erneuten Ablehnung – den Europäischen Bürgerbeauftragten anrufen oder Klage beim Gericht der Europäischen Union erheben.

Einige durch das Gericht und den Gerichtshof gefestigte Grundsätze

Im Urteil De Capitani/Parlament (T‑540/15) hat das Gericht festgestellt, dass die Unionsorgane den Zugang zu bestimmten Dokumenten des Gesetzgebungsverfahrens nur in hinreichend begründeten Fällen verweigern dürfen.

Das Organ oder die Einrichtung, das bzw. die den Zugang verweigert, muss dartun, inwiefern der Zugang das durch eine der Ausnahmen in der Verordnung Nr. 1049/2001 geschützte Interesse „konkret, tatsächlich und bei verständiger Betrachtung absehbar“ beeinträchtigen würde. Wie der Gerichtshof im Urteil ClientEarth/Kommission (C‑57/16 P) entschieden hat, reicht eine hypothetische oder vage Beeinträchtigung nicht aus, um eine solche Verweigerung zu rechtfertigen.

Die Frage des Zugangs zu Schriftsätzen, die von einem Mitgliedstaat oder einem Organ im Rahmen von Gerichtsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union eingereicht wurden, ist in mehreren bedeutsamen Urteilen behandelt worden. In der Rechtssache Kommission/Breyer (C‑213/15 P) hat der Gerichtshof ausgeführt, dass Schriftsätze eines Mitgliedstaats, die sich im Besitz der Kommission befinden, in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1049/2001 fallen. Die Vertraulichkeit dieser Schriftsätze muss zwar während der Dauer des Gerichtsverfahrens gewahrt werden, nach Abschluss des Verfahrens kann die Kommission den Zugang zu ihnen aber nicht ohne weiteren Grund verweigern.

Diese allgemeine Vermutung der Nichtverbreitung während des Gerichtsverfahrens hatte der Gerichtshof bereits in den Urteilen Schweden u. a./API und Kommission (C‑514/07 P, C‑528/07 P und C‑532/07 P) für von einem Unionsorgan eingereichte Schriftsätze aufgestellt. Nach Abschluss des Verfahrens muss jedoch jeder Antrag im Einzelfall geprüft werden, um festzustellen, ob die in der Verordnung vorgesehenen Ausnahmen Anwendung finden.

Fokus

Restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen

Urteile Mazepin/Rat vom 20. März 2024 (T‑743/22), Fridman u. a./Rat und Timchenko und Timchenko/Rat vom 11. September 2024 (T‑635/22 und T‑644/22), NSD/Rat vom 11. September 2024 (T‑494/22)

Restriktive Maßnahmen oder „Sanktionen“ sind ein zentrales Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Sie können in Form von Einfrieren von Vermögenswerten, Reiseverboten oder Wirtschaftssanktionen erfolgen. Ihr Ziel besteht darin, die grundlegenden Werte, die wesentlichen Interessen und die Sicherheit der Union zu wahren, indem Druck auf die betroffenen Personen oder Organisationen, einschließlich der Regierungen von Drittländern, ausgeübt wird, um eine Änderung in ihrer Politik oder ihrem Handeln zu bewirken.

Die Handlungen Russlands, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine seit 2014 untergraben, und vor allem sein im Jahr 2022 begonnener Angriffskrieg gegen diesen Staat haben die Sanktionen der Union gegen natürliche und juristische Personen, die die russische Regierung unterstützen, verschärft. Die einschlägigen Beschlüsse des Rates waren Gegenstand von Dutzenden von Rechtssachen vor dem Gericht der Europäischen Union, da sie hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit und ihres Umfangs beanstandet wurden.

Sie veranschaulichen die Suche nach einem Ausgleich zwischen der Härte der verhängten Sanktionen, die für deren Wirksamkeit erforderlich ist, und dem Schutz der Rechte des Einzelnen. Das Gericht hat die weitreichenden Befugnisse der Union, gegen die wirtschaftliche und materielle Unterstützung der russischen Regierung vorzugehen, bestätigt, dabei aber Nachweise und eine stichhaltige Rechtfertigung für die erlassenen Maßnahmen gefordert.

Urteil NSD/Rat (T‑494/22)

Das Gericht hat die gegen die russische Gesellschaft National Settlement Depository (NSD) verhängten Sanktionen bestätigt. Die vom Rat als für das Finanzsystem in Russland wesentlich angesehene Gesellschaft gewährte sowohl der Regierung als auch der Zentralbank Russlands materielle und finanzielle Unterstützung.

Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass NSD als systemrelevantes Finanzinstitut die Mobilisierung erheblicher Ressourcen durch die russische Regierung erleichtert hat, die für Handlungen zur Destabilisierung der Ukraine verwendet wurden. Es hat zudem das Vorbringen von NSD zurückgewiesen, die restriktiven Maßnahmen hätten zum Einfrieren von Geldern von Kunden geführt, die nicht Ziel der Sanktionen gewesen seien, und ausgeführt, dass diese Kunden die nationalen Gerichte anrufen können, um eine Verletzung ihres Eigentumsrechts als Nebeneffekt der gegen NSD getroffenen Maßnahmen geltend zu machen.

Urteil Mazepin/Rat (T‑743/22)

Das Gericht der Europäischen Union hat das Belassen von Herrn Nikita Mazepin, einem ehemaligen Formel-1-Fahrer, auf der Liste der von den Sanktionen erfassten Personen für nichtig erklärt. Seine Aufnahme in diese Liste durch den Rat beruhte auf der Verbindung zu seinem Vater, Herrn Dmitry Mazepin, einem führenden Geschäftsmann, dessen Tätigkeit der russischen Regierung bedeutende Einnahmen verschafft und der Hauptsponsor der Tätigkeit seines Sohnes als Pilot des Rennstalls Haas gewesen sein soll.

Nach Auffassung des Gerichts war die Verbindung zwischen Herrn Dmitry Mazepin und seinem Sohn nicht hinreichend erwiesen, insbesondere da dieser zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses nicht mehr Pilot des fraglichen Rennstalls war. Im Übrigen reicht allein die familiäre Beziehung als solche nicht aus, um gemeinsame Interessen nachzuweisen, die geeignet wären, die Aufrechterhaltung der Sanktionen gegen Herrn Nikita Mazepin zu rechtfertigen.

Urteile Fridman u. a./Rat und Timchenko und Timchenko/Rat (T‑653/22 und T‑644/22)

Das Gericht hat bestätigt, dass die mit einer Sanktion belegten Personen und Organisationen verpflichtet sind, ihre Gelder zu melden und mit den zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten, um die Umgehung des Einfrierens von Geldern durch rechtliche und finanzielle Konstruktionen zu verhindern. Diese vom Rat aufgestellten Verpflichtungen sind erforderlich, um die Wirksamkeit und Einheitlichkeit der Sanktionen in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Das Gericht hat ferner das Vorbringen zurückgewiesen, der Rat habe den Mitgliedstaaten vorbehaltene strafrechtliche Befugnisse ausgeübt, da diese Maßnahmen nicht strafrechtlicher Natur sind und mit ihrem Erlass der gesamte unionsrechtliche Rahmen gewahrt wird.

Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland

Seit März 2014 hat die Union als Reaktion auf die rechtswidrige Annexion der Krim (2014) und den militärischen Angriff auf die Ukraine (2022) schrittweise gezielte restriktive Maßnahmen gegen Russland erlassen.

Diese Maßnahmen zielen darauf ab, die wirtschaftliche Grundlage Russlands zu schwächen, indem ihm bedeutende Technologien und Märkte vorenthalten werden und seine Fähigkeit, Krieg zu führen, erheblich eingeschränkt wird. Die Union hat zudem Sanktionen gegen Belarus, den Iran und Nordkorea verhängt, als Reaktion auf deren Unterstützung Russlands im Krieg gegen die Ukraine.

Mehr als 2 300 Personen und Organisationen (Banken, politische Parteien, Unternehmen, paramilitärische Gruppen) unterliegen diesen Sanktionen. Die Sanktionen umfassen:

  • Verbot der Einreise in die Europäische Union,
  • Einfrieren von Vermögenswerten,
  • Zahlungssperren.

Der Rat schätzt den Wert der in der Union eingefrorenen privaten Vermögenswerte auf 24,9 Mrd. Euro. Das gesperrte Kapital der russischen Zentralbank in der Union beläuft sich auf 210 Mrd. Euro.

Die gemäß Beschlüssen des Rates verhängten restriktiven Maßnahmen werden fortlaufend überprüft. Sie werden verlängert oder gegebenenfalls geändert, wenn der Rat der Auffassung ist, dass die mit diesen Maßnahmen verfolgten Ziele nicht erreicht wurden.

Rückblick auf bedeutende Urteile des Jahres

Grundrechte


Die Europäische Union gewährleistet den Schutz der Grundrechte, insbesondere durch die Charta der Grundrechte, in der die individuellen, staatsbürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der europäischen Bürger aufgeführt sind. Die Achtung der Menschenrechte ist einer der Werte, auf die sich die Union gründet, und eine wesentliche Verpflichtung bei der Durchführung ihrer Politik und Programme.


Die EU-Grundrechtecharta – verbindliche Regeln mit konkreten Folgen

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  • Als Reaktion auf die Intensivierung der russischen Aggression gegen die Ukraine verhängte der Rat der Europäischen Union im Jahr 2022 Sanktionen, um Druck auf Russland auszuüben. Zu diesen Maßnahmen gehört das Verbot, Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung für die russische Regierung und in Russland niedergelassene juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen zu erbringen. Belgische und französische Rechtsanwälte beantragten beim Gericht der Europäischen Union, dieses Verbot für nichtig zu erklären. Ihrer Ansicht nach verletzt es die Grundrechte, die den Zugang zu anwaltlicher Rechtsberatung garantierten. Das Gericht hat auf das Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz hingewiesen, das das Recht einschließt, im Kontext eines gegenwärtigen oder zu erwartenden Rechtsstreits von einem Rechtsanwalt beraten und vertreten zu werden. Es hat jedoch festgestellt, dass das streitige Verbot weder Rechtsberatungsdienstleistungen im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren noch Rechtsberatungen, die für natürliche Personen erbracht werden, erfasst. Es hat die Klagen daher abgewiesen.

    Urteile Ordre néerlandais des avocats du barreau de Bruxelles u. a./Rat, Ordre des avocats à la cour de Paris und Couturier/Rat und ACE/Rat vom 2. Oktober 2024 (T‑797/22, T‑798/22 und T‑828/22)

  • Im Jahr 2006 veröffentlichte die Zeitung Le Monde einen Artikel, der den Fußballverein Real Madrid mit Dopinggerüchten in Verbindung brachte. Le Monde wurde in Spanien wegen Diffamierung verurteilt und wehrte sich im Namen der Pressefreiheit gegen die Vollstreckung dieses Urteils in Frankreich. Der hierzu vom französischen Kassationsgerichtshof angerufene Gerichtshof hat entschieden, dass die gegenseitige Anerkennung von Urteilen eingeschränkt werden kann, wenn sie offensichtlich Grundrechte verletzt. Unverhältnismäßige Sanktionen gegen die Medien wie ein überhöhter Schadensersatzbetrag können die Presse davon abhalten, über Themen von öffentlichem Interesse zu berichten, was mit den demokratischen Werten der Europäischen Union unvereinbar ist.

    Urteil Real Madrid Club de Fútbol vom 4. Oktober 2024 (C‑633/22)

Personenbezogene Daten

Die Europäische Union verfügt über Rechtsvorschriften, die eine solide und kohärente Grundlage für den Schutz personenbezogener Daten bilden. Die Verarbeitung und Speicherung solcher Daten ist nur zulässig, wenn sie den in diesen Rechtsvorschriften vorgesehenen Bedingungen entspricht, d. h., sie muss auf das absolut Notwendige beschränkt sein und darf das Recht auf Privatsphäre nicht unverhältnismäßig einschränken.


Der Gerichtshof in der digitalen Welt

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  • Ein deutscher Staatsbürger wandte sich vor einem deutschen Gericht gegen die Weigerung der Stadt Wiesbaden, ihm einen neuen Personalausweis ohne Erfassung seiner Fingerabdrücke auszustellen. Das deutsche Gericht ersuchte den Gerichtshof um Prüfung der Gültigkeit der europäischen Verordnung, die die Verpflichtung vorsieht, zwei Fingerabdrücke in den Personalausweis aufzunehmen. Der Gerichtshof hat entschieden, dass diese Verpflichtung, die durch die Bekämpfung der Herstellung gefälschter Personalausweise und des Identitätsdiebstahls gerechtfertigt ist, mit den Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten vereinbar ist. Er hat jedoch die auf einer falschen Rechtsgrundlage erlassene Verordnung für ungültig erklärt und ihre Wirkungen bis zum 31. Dezember 2026 aufrechterhalten, um den Erlass einer neuen Verordnung zu ermöglichen. Die Verordnung stützte sich nämlich zu Unrecht auf Art. 21 Abs. 2 AEUV (Freizügigkeit der Bürger) anstelle von Art. 77 Abs. 3 AEUV (Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts), der Einstimmigkeit im Rat verlangt.

    Urteil Landeshauptstadt Wiesbaden vom 21. März 2024 (C‑61/22)

  • Eine Person wurde im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen falscher Zeugenaussage polizeilich registriert. Nachdem sie zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr verurteilt worden war und diese Strafe verbüßt hatte, beantragte sie, aus dem Register gestrichen zu werden. Nach bulgarischem Recht bleiben die personenbezogenen Daten in diesem Register ohne jegliche zeitliche Beschränkung bis zum Tod der Person gespeichert. Das Oberste Verwaltungsgericht Bulgariens fragte den Gerichtshof nach der Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Unionsrecht. Der Gerichtshof hat auf diese Frage geantwortet, dass die allgemeine und unterschiedslose Speicherung biometrischer und genetischer Daten strafrechtlich verurteilter Personen bis zu ihrem Tod gegen das Unionsrecht verstößt. Die nationale Regelung muss den für die Verarbeitung Verantwortlichen verpflichten, regelmäßig zu überprüfen, ob diese Speicherung noch notwendig ist, und es der betroffenen Person ermöglichen, die Löschung ihrer Daten zu beantragen, wenn dies nicht mehr der Fall ist.

    Urteil Direktor na Glavna direktsia „Natsionalna politsia“ pri MVR – Sofia vom 30. Januar 2024 (C‑118/22)

  • In zwei verschiedenen Urteilen hat der Gerichtshof entscheidende Klarstellungen zu den Ermittlungsbefugnissen der Behörden getroffen.

    In einer Rechtssache, die ein französisches Dekret betraf, mit dem Werke, an denen ein Urheberrecht oder ein verwandtes Schutzrecht besteht, vor im Internet begangenen Rechtsverletzungen geschützt werden sollten, hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Mitgliedstaaten Internetzugangsanbietern eine Pflicht zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von IP-Adressen auferlegen können, um es der zuständigen Behörde zu ermöglichen, die Person zu identifizieren, die im Verdacht steht, eine Straftat begangen zu haben. Diese Vorratsspeicherung darf jedoch keine genauen Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Person zulassen. Dafür müssen die Modalitäten der Vorratsspeicherung eine wirksame strikte Trennung der verschiedenen Kategorien auf Vorrat gespeicherter Daten gewährleisten. In atypischen Situationen, in denen die Besonderheiten eines nationalen Verfahrens durch die Verknüpfung der erhobenen Daten und Informationen genaue Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Person ermöglichen können, muss der Zugang der Behörde einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterliegen.

    Urteil Quadrature du Net II vom 30. April 2024 (C‑470/21)

  • In einer österreichischen Rechtssache hatte die Polizei versucht, das Mobiltelefon des Adressaten eines Pakets mit Cannabis zu entsperren. Auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit dieser Ermittlungsmaßnahme im Hinblick auf eine Richtlinie zum Schutz personenbezogener Daten bei deren Verarbeitung durch die Polizei und die Justizbehörden hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten nicht zwingend auf die Bekämpfung schwerer Kriminalität beschränkt ist. Andernfalls würde nämlich die Gefahr der Straflosigkeit von Straftaten im Allgemeinen und damit eine Gefahr für die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der Union bestehen. Ein solcher Zugang, der einen schweren Eingriff in die Rechte der betroffenen Personen auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten darstellt, setzt jedoch eine vorherige Genehmigung eines Gerichts oder einer unabhängigen Behörde voraus und muss verhältnismäßig sein. Außerdem muss der nationale Gesetzgeber die zu berücksichtigenden Gesichtspunkte für einen solchen Zugang, wie z. B. die Art der betreffenden Straftaten, präzise definieren, und der Eigentümer des Telefons muss informiert werden, sobald dies die Ermittlungen nicht mehr beeinträchtigen kann.

    Urteil Bezirkshauptmannschaft Landeck vom 4. Oktober 2024 (C‑548/21)

Gleichbehandlung und Arbeitsrecht

In der Europäischen Union gibt es fast 200 Millionen Arbeitnehmer. Eine große Zahl von Bürgern profitiert also direkt von den Bestimmungen des europäischen Arbeitsrechts, das Mindeststandards für Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festlegt und damit die von den Mitgliedstaaten verfolgte Politik ergänzt.


Der Gerichtshof: Gewährleistung der Gleichberechtigung und Schutz von Minderheitsrechten

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  • Nachdem ein im öffentlichen Dienst bei der italienischen Gemeinde Copertino beschäftigter Arbeitnehmer aus dem Dienst ausgeschieden war, um in den vorzeitigen Ruhestand einzutreten, verlangte er eine finanzielle Vergütung für seinen nicht genommenen Urlaub. Die italienischen Rechtsvorschriften schließen einen solchen Anspruch für im öffentlichen Dienst beschäftigte Arbeitnehmer jedoch aus. Der Gerichtshof hat auf die Frage nach der Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie bestätigt, dass ein Arbeitnehmer Anspruch auf eine finanzielle Vergütung hat, wenn er vor Ablauf seines Arbeitsverhältnisses nicht seinen gesamten Urlaub genommen hat, auch wenn er das Arbeitsverhältnis auf eigenen Wunsch beendet. Wirtschaftliche Überlegungen wie die Eindämmung öffentlicher Ausgaben können den Ausschluss dieses Anspruchs nicht rechtfertigen. Allerdings kommt eine Ausnahme in Betracht, wenn der Arbeitnehmer seinen Urlaub aus freien Stücken nicht genommen hat, obwohl ihn der Arbeitgeber dazu aufgefordert und über das Risiko des Verlusts des Anspruchs informiert hat.

    Urteil Comune di Copertino vom 18. Januar 2024 (C‑218/22)

  • Ein ehemaliger Berufsfußballspieler mit Wohnsitz in Frankreich wandte sich vor den belgischen Gerichten gegen einige FIFA-Bestimmungen, da diese seine Verpflichtung durch einen belgischen Fußballverein behindert hätten. Diese Bestimmungen, die sich aus dem „FIFA-Reglement bezüglich Status und Transfer von Spielern“ ergeben, erlegen dem Spieler und seinem neuen Verein die Zahlung von Entschädigungen auf, wenn der Spieler seinen Vertrag vorzeitig ohne „triftigen Grund“ auflöst. Sie können zudem sportliche Sanktionen in Form eines Verbots der Verpflichtung neuer Spieler für den neuen Verein nach sich ziehen und verhindern die Ausstellung eines internationalen Freigabescheins, solange eine Streitigkeit über die Auflösung des Vertrags besteht. Der vom Appellationshof Mons angerufene Gerichtshof hat entschieden, dass diese Bestimmungen nicht mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und dem Wettbewerbsrecht der Europäischen Union vereinbar sind.

    Urteil FIFA vom 4. Oktober 2024 (C‑650/20)

Unionsbürgerschaft

Jeder, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, ist automatisch Unionsbürger. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht. Unionsbürger genießen besondere Rechte, die durch die europäischen Verträge garantiert werden.

  • Die Europäische Kommission hat beim Gerichtshof Klage gegen die Tschechische Republik und Polen mit der Begründung erhoben, dass diese Mitgliedstaaten das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei nur den eigenen Staatsangehörigen gewährten. Nach Ansicht der Kommission werden dadurch Unionsbürger mit Wohnsitz in diesen Mitgliedstaaten, die deren Staatsangehörigkeit nicht besitzen, in eine ungünstigere Lage hinsichtlich des passiven Wahlrechts bei Kommunal- und Europawahlen versetzt. Der Gerichtshof hat der Kommission recht gegeben und ist zu dem Schluss gelangt, dass die Tschechische Republik und Polen gegen ihre Verpflichtungen aus den Verträgen verstoßen haben. Die Bürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, müssen nämlich gleichen Zugang zu den Mitteln haben, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats für die wirksame Ausübung des Wahlrechts verfügen, einschließlich der Mitgliedschaft in einer politischen Partei. Diese Ungleichbehandlung kann nicht durch Gründe gerechtfertigt werden, die mit der Achtung der nationalen Identität Polens oder der Tschechischen Republik zusammenhängen.

    Urteile Kommission/Tschechische Republik (C‑808/21) und Kommission/Polen vom 19. November 2024 (C‑814/21)

  • Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein Mitgliedstaat die Anerkennung einer in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig erlangten Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität nicht verweigern darf. Diese Weigerung stellt eine Behinderung der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts in der Union dar. Angesichts der grundlegenden Bedeutung der persönlichen Identität, die den Vornamen und das Geschlecht umfasst, verursacht eine solche Weigerung administrative und private Nachteile, die gegen das Unionsrecht verstoßen.

    Urteil Mirin vom 4. Oktober 2024 (C‑4/23)

Verbraucher

Die europäische Verbraucherschutzpolitik soll die Gesundheit, die Sicherheit sowie die wirtschaftlichen und rechtlichen Interessen der Verbraucher schützen, und zwar unabhängig davon, wo sie in der Union wohnen, sich bewegen oder ihre Einkäufe tätigen.


Der Gerichtshof der Europäischen Union: Schutz der Rechte der Verbraucher in der Union

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  • Eine deutsche Verbraucherzentrale beanstandete vor einem deutschen Gericht die Werbung der Supermarktkette Aldi Süd mit Preisermäßigungen. Die Verbraucherzentrale ist der Ansicht, dass Aldi Süd eine Preisermäßigung nicht auf der Grundlage des Preises unmittelbar vor Angebotsbeginn berechnen dürfe, sondern dies nach dem Unionsrecht auf der Grundlage des niedrigsten Preises der letzten 30 Tage tun müsse. Auf die Frage des deutschen Gerichts hat der Gerichtshof bestätigt, dass eine in der Werbung bekannt gegebene Preisermäßigung auf der Grundlage des niedrigsten Preises der letzten 30 Tage zu berechnen ist. Dadurch werden Händler daran gehindert, den Verbraucher irrezuführen, indem sie den angewandten Preis vor der Bekanntgabe einer Preisermäßigung erhöhen und damit gefälschte Preisermäßigungen ankündigen.

    Urteil Aldi Süd vom 26. September 2024 (C‑330/23)

Umwelt

Die Europäische Union bekennt sich zum Schutz und zur Verbesserung der Umweltqualität sowie zum Schutz der menschlichen Gesundheit. Sie stützt sich dabei auf die Grundsätze der Vorsorge und Vorbeugung sowie auf das Verursacherprinzip.


Der Gerichtshof und die Umwelt

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  • Eine EU-Richtlinie verbietet seit 2019 das Inverkehrbringen von Artikeln aus oxo-abbaubarem Kunststoff, der durch Oxidation zerfällt. Britische Gesellschaften, die einen prooxidativen Zusatzstoff herstellen, der es ihren Angaben zufolge ermöglicht, dass sich der Kunststoff schneller biologisch abbaue als oxo-abbaubarer Kunststoff, erhoben Klage beim Gericht der Europäischen Union. Sie forderten Schadensersatz, da das Verbot des Inverkehrbringens von oxo-abbaubarem Kunststoff auch für Kunststoff gilt, den sie als „oxo-biologisch-abbaubar" einstufen. Das Gericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass der Unionsgesetzgeber keinen offensichtlichen Fehler begangen hat. Denn nach wissenschaftlichen Studien ist der Grad der Bioabbaubarkeit des Kunststoffs, der einen prooxidativen Zusatzstoff enthält, gering oder gar nicht vorhanden. Zudem eignet sich dieser Kunststoff für keine Form der Kompostierung. Schließlich ist sein Recycling problematisch, da die verfügbaren Technologien es nicht ermöglichen, Kunststoffe mit prooxidativen Zusätzen zu erkennen und von herkömmlichen Kunststoffen zu trennen.

    Urteil Symphony Environmental Technologies und Symphony Environmental/Parlament u. a. vom 31. Januar 2024 (T‑745/20)

  • Der Wolf, eine durch das Berner Übereinkommen streng geschützte Art, war Gegenstand von zwei Urteilen des Gerichtshofs, in denen dieser sich mit der Habitatrichtlinie befasst hat. Mehrere Umweltorganisationen bekämpften vor einem Tiroler Gericht in Österreich die vorübergehende Genehmigung zur Tötung eines Wolfs, der etwa 20 Schafe getötet hatte. Der Gerichtshof hat die Gültigkeit des Wolfsjagdverbots in Österreich bestätigt, da sich die Wolfspopulation dort nicht in einem günstigen Erhaltungszustand befindet. Des Weiteren focht eine Vereinigung für die Erhaltung des Iberischen Wolfes in Spanien ein Gesetz der Autonomen Gemeinschaft Kastilien und León an, das den Wolf als Art einstuft, die nördlich des Duero gejagt werden darf (wo er Gegenstand von Verwaltungsmaßnahmen sein kann, während er südlich des Flusses streng geschützt ist). Auf Fragen des spanischen Gerichts hat der Gerichtshof entschieden, dass der Wolf nicht als Art bezeichnet werden darf, die in einer Region gejagt werden darf, wenn sein Erhaltungszustand auf nationaler Ebene ungünstig ist.

    Urteile WWF Österreich u. a. vom 11. Juli 2024 (C‑601/22) und ASCEL vom 29. Juli 2024 (C‑436/22)

  • Das Stahlwerk Ilva in Tarent, Apulien (Süditalien), ist eines der größten Stahlwerke Europas. Seine nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Anwohner wurden 2019 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt. Maßnahmen, um diese Auswirkungen zu verringern, sind seit 2012 vorgesehen, doch die Fristen für ihre Umsetzung wurden immer wieder verlängert. Zahlreiche Einwohner der Region um das Stahlwerk klagten vor einem italienischen Gericht. Der vom Mailänder Gericht angerufene Gerichtshof war der Auffassung, dass wichtige Anforderungen an die Erteilung und Aufrechterhaltung der Betriebsgenehmigung, die in der Richtlinie über Industrieemissionen vorgesehen sind, offenbar nicht erfüllt wurden. Der Betrieb des Stahlwerks muss daher ausgesetzt werden, wenn er schwere und erhebliche Gefahren für die Umwelt und die menschliche Gesundheit mit sich bringt.

    Urteil Ilva u. a. vom 25. Juni 2024 (C‑626/22)

Informationsgesellschaft

Die Europäische Union spielt eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Informationsgesellschaft, um ein günstiges Umfeld für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen und gleichzeitig die Rechte der Verbraucher zu schützen und Rechtssicherheit zu bieten. Sie gewährleistet faire und offene digitale Märkte und beseitigt Hindernisse für grenzüberschreitende Online-Dienste im Binnenmarkt, um deren freien Verkehr sicherzustellen.


Der Gerichtshof in der digitalen Welt

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  • Mit einem italienischen Gesetz wurden außerhalb Italiens niedergelassenen Anbietern von Online-Diensten wie Airbnb, Expedia, Google und Amazon administrative Verpflichtungen mit dem erklärten Ziel auferlegt, für eine wirksame Anwendung des Unionsrechts zu sorgen. Wer solche Dienste anbietet, muss sich u. a. in ein spezielles Register eintragen, Dokumente über seine wirtschaftliche Lage übermitteln und einen finanziellen Beitrag entrichten. Der von einem italienischen Gericht angerufene Gerichtshof hat diese Maßnahmen für nicht mit dem Unionsrecht vereinbar erklärt. Anbieter von Online-Diensten unterliegen in erster Linie dem Rechtsrahmen des Mitgliedstaats ihrer Niederlassung (hier Irland bzw. Luxemburg). Mitgliedstaaten wie Italien, in denen sie ihre Dienste anbieten, sind an den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gebunden und dürfen grundsätzlich keine zusätzlichen Verpflichtungen einführen, die den freien Verkehr solcher Dienstleistungen beschränken könnten.

    Urteile Airbnb Ireland und Amazon Services Europe (verbundene Rechtssachen C‑662/22 und C‑667/22), Expedia (C‑663/22), Google Ireland und Eg Vacation Rentals Ireland (verbundene Rechtssachen C‑664/22 und C‑666/22) sowie Amazon Services Europe (C‑665/22) vom 30. Mai 2024

  • Die Bytedance Ltd ist eine Gesellschaft, die über ihre Tochtergesellschaften die Plattform für das soziale Netzwerk TikTok bereitstellt. Die Kommission hat Bytedance als Torwächter für einen zentralen Plattformdienst gemäß dem Gesetz über digitale Märkte (Digital Market Act) benannt, wodurch Bytedance gezielte rechtliche Verpflichtungen auferlegt werden, die anderen Unternehmen den Wettbewerb mit dem Torwächter ermöglichen und bestimmte unfaire Praktiken verhindern sollen. Das mit der Klage von Bytedance gegen diesen Beschluss befasste Gericht hat darauf hingewiesen, dass der Unionsgesetzgeber das Gesetz über digitale Märkte erlassen hat, um zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beizutragen. Da die in diesem Gesetz vorgesehenen Kriterien, u. a. der globale Marktwert und die Zahl der Nutzer, im vorliegenden Fall erfüllt sind, durfte die Kommission zu Recht davon ausgehen, dass es sich bei Bytedance um einen Torwächter handelt. Die Klage wurde daher abgewiesen.

    Urteil Bytedance/Kommission vom 17. Juli 2024 (T‑1077/23)

Wettbewerb, staatliche Beihilfen und „tax rulings

Die Europäische Union gewährleistet, dass die Regeln, die den freien Wettbewerb schützen, eingehalten werden. Praktiken, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken, sind verboten und können mit Geldbußen geahndet werden.


Das Gericht – stellt sicher, dass die Organe der Europäischen Union das Unionsrecht beachten

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  • Gegenstand des Vorhabens der Festen Fehmarnbeltquerung ist u. a. ein Tunnel unter der Ostsee zwischen Rødby auf der dänischen Insel Lolland und Puttgarden in Deutschland. Mit der Finanzierung, dem Bau und dem Betrieb der festen Querung ist die Femern A/S, eine staatliche dänische Projektgesellschaft, betraut. Nach dem Beschluss der Kommission stellen die von Dänemark gewährten finanziellen Maßnahmen zugunsten der Femern A/S staatliche Beihilfen dar, die jedoch mit dem Binnenmarkt vereinbar sind. Dänemark und die Fährbetreiber Scandlines Danmark und Scandlines Deutschland erhoben beim Gericht der Europäischen Union Klage auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses. Das Gericht hat die Klagen abgewiesen, da der selektive Vorteil, der der Femern A/S gewährt wurde, ihre Stellung auf dem Markt der Verkehrsdienstleistungen gegenüber den anderen auf dem Markt tätigen Unternehmen stärke und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtige. Das Vorhaben der festen Querung ist jedoch von gemeinsamem europäischem Interesse und leistet einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung der verkehrspolitischen Ziele der Union.

    Urteile Scandlines Danmark und Scandlines Deutschland/Kommission, Dänemark/Kommission sowie Scandlines Danmark und Scandlines Deutschland/Kommission vom 28. Februar 2024 (T‑7/19, T‑364/20 und T‑390/20)

  • Qualcomm, einem US-amerikanischen Unternehmen, das Chips für Telefone und Tablets herstellt, wurde von Icera vorgeworfen, Verdrängungspreise zu verwenden. Nvidia legte nach dem Erwerb von Icera zusätzliche Informationen zu diesen Vorwürfen vor. Im Jahr 2019 verhängte die Europäische Kommission gegen Qualcomm eine Geldbuße in Höhe von 242 Mio. Euro wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, da Qualcomm Chips zu Preisen unterhalb seiner Kosten an Huawei und ZTE verkauft haben soll, um Icera, seinen Konkurrenten, zu verdrängen. Das Gericht der Europäischen Union hat die Klagegründe von Qualcomm mit Ausnahme eines die Berechnung der Geldbuße betreffenden Klagegrundes zurückgewiesen. Das Gericht hat entschieden, dass die Kommission ohne Begründung von ihren Leitlinien von 2006 abgewichen ist und hat die Geldbuße auf 238,7 Mio. Euro herabgesetzt.

    Urteil Qualcomm/Kommission vom 18. September 2024 (T‑671/19)

  • Im Jahr 2017 hatte die Europäische Kommission gegen Google eine Geldbuße in Höhe von etwa 2,4 Mrd. Euro verhängt, weil Google seine beherrschende Stellung auf mehreren nationalen Märkten für Online-Suchdienste missbraucht haben soll. Die Kommission stellte fest, dass Google in 13 Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) seinen eigenen Preisvergleichsdienst in seinen Suchergebnissen gegenüber Preisvergleichsdiensten von Konkurrenten bevorzugt habe. Die Ergebnisse von Google wurden nämlich an oberster Stelle platziert und in attraktiven „Boxen“ hervorgehoben, während die Ergebnisse der Konkurrenten in einfachen generischen Links angezeigt wurden, die oft von Algorithmen herabgestuft werden. Das Gericht der Europäischen Union hat diesen Beschluss im Wesentlichen bestätigt und der Gerichtshof das Rechtsmittel von Google und Alphabet zurückgewiesen und damit die Geldbuße bestätigt.

    Urteil Google und Alphabet/Kommission (Google Shopping) vom 10. September 2024 (C‑48/22 P)

  • Google betreibt seit 2003 eine Werbeplattform namens AdSense. Diese Plattform ermöglicht es den Betreibern von Websites, Einnahmen durch die Anzeige von Werbung im Zusammenhang mit Online-Suchen von Nutzern zu erzielen. Um diesen Dienst zu nutzen, mussten einige Website-Betreiber Verträge mit Google unterzeichnen, die Klauseln enthielten, die die Anzeige von Werbung konkurrierender Dienste einschränkten oder untersagten. Im Jahr 2019 verhängte die Europäische Kommission nach Beschwerden mehrerer Unternehmen, darunter Microsoft und Expedia, gegen Google eine Geldbuße in Höhe von 1,49 Mrd. Euro wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung. Das mit einer Klage gegen diesen Beschluss befasste Gericht der Europäischen Union hat entschieden, dass die Kommission bei der Beurteilung der Geltungsdauer der Klauseln sowie des von ihnen erfassten Teils des Marktes Fehler begangen und somit das Vorliegen eines Missbrauchs einer beherrschenden Stellung nicht ordnungsgemäß nachgewiesen hat. Das Gericht hat daher den Beschluss insgesamt für nichtig erklärt.

    Urteil Google AdSense/Kommission vom 18. September 2024 (T‑334/19)

  • Im Jahr 2021 stellte die Kommission fest, dass die Deutsche Bank, die Bank of America, Crédit Agricole und Credit Suisse (nunmehr UBS Group) sich an einem Kartell im Sektor der supranationalen Anleihen, Staatsanleihen und Anleihen öffentlicher Stellen in US-Dollar („SSA Bonds“) beteiligt hatten, indem sie sensible Informationen austauschten und sich über ihre Handelsstrategien verständigten. Sie verhängte Geldbußen gegen die Bank of America (12,6 Mio. Euro), Credit Suisse (11,9 Mio. Euro) und Crédit Agricole (3,9 Mio. Euro), während der Deutschen Bank aufgrund ihrer Zusammenarbeit die Geldbuße erlassen wurde. In seinen Entscheidungen über die Klagen von Crédit Agricole und Credit Suisse hat das Gericht der Europäischen Union die Feststellung einer Zuwiderhandlung durch die Kommission bestätigt und die Höhe der im Jahr 2021 verhängten Geldbußen aufrechterhalten.

    Urteil Crédit agricole und Crédit agricole Corporate and Investment Bank/Kommission und UBS Group und Credit Suisse Securities (Europe)/Kommission vom 6. November 2024 (T‑386/21 und T‑406/21)

  • Im Jahr 2018 teilte Vodafone, eine britische Telekommunikationsgesellschaft, der Europäischen Kommission mit, dass sie beabsichtige, das Telekommunikationsgeschäft von Liberty Global in Deutschland, in der Tschechischen Republik, in Ungarn und in Rumänien zu erwerben. Die Europäische Kommission genehmigte dies im Jahr 2019 unter Bedingungen. Drei deutsche Unternehmen, die die beherrschende Stellung von Vodafone auf bestimmten Märkten befürchteten, erhoben beim Gericht der Europäischen Union Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses der Kommission. Das Gericht hat diese Klagen abgewiesen, da die Kommission zu Recht angenommen hat, dass die an dem Zusammenschluss beteiligten Unternehmen auf den betroffenen Märkten, d. h. den Endkundenmärkten für die Bereitstellung von Fernsehsignalen in Deutschland, keine Wettbewerber sind.

    Urteile NetCologne/Kommission, Deutsche Telekom/Kommission und Tele Columbus/Kommission vom 13. November 2024 (T‑58/20, T‑64/20 und T‑69/20)

  • Direkte Steuern fallen zwar grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, unterliegen aber den Grundregeln der Europäischen Union wie dem Verbot staatlicher Beihilfen. Die Union achtet daher darauf, dass Steuervorbescheide („tax rulings“), mit denen die Mitgliedstaaten Unternehmen eine besondere steuerliche Behandlung gewähren, rechtmäßig sind. Im Jahr 2016 stellte die Europäische Kommission fest, dass einige Unternehmen des Apple-Konzerns von 1991 bis 2014 Steuervergünstigungen erhalten hätten, die eine von Irland gewährte staatliche Beihilfe darstellten. Die Beihilfe betraf die steuerliche Behandlung von durch Tätigkeiten außerhalb der Vereinigten Staaten erwirtschafteten Gewinnen von Apple. Das Gericht der Europäischen Union erklärte den Beschluss der Kommission 2020 für nichtig, weil diese nicht hinreichend nachgewiesen habe, dass den betreffenden Unternehmen ein selektiver Vorteil verschafft worden sei. Der Gerichtshof hat das Urteil des Gerichts auf ein Rechtsmittel hin aufgehoben und endgültig über den Rechtsstreit entschieden, wobei er den Beschluss der Kommission bestätigt hat. Irland hat eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe gewährt, indem es Apple eine von den irischen Vorschriften über die Besteuerung der Gewinne gebietsfremder Gesellschaften abweichende steuerliche Behandlung zukommen ließ. Irland hat diese Beihilfe folglich zurückzufordern.

    Urteil Kommission/Irland u. a. vom 10. September 2024 (C‑465/20 P)

Geistiges Eigentum

Die von der Europäischen Union erlassenen Rechtsvorschriften zum Schutz des geistigen Eigentums (Urheberrecht) und des gewerblichen Eigentums (Markenrecht, Schutz von Geschmacksmustern) verbessern die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, indem sie ein Umfeld fördern, das Kreativität und Innovation begünstigt.


Geistiges Eigentum beim Gericht

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  • Im September 2021 meldete die Gesellschaft Escobar Inc. (Puerto Rico, Vereinigte Staaten) beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) das Wortzeichen Pablo Escobar als Unionsmarke an. Der 1993 verstorbene Kolumbianer Pablo Escobar gilt als Drogenbaron und Drogenterrorist, der das Kartell von Medellín (Kolumbien) gründete. Das EUIPO wies die Anmeldung mit der Begründung zurück, dass die Marke gegen die öffentliche Ordnung und die guten Sitten verstoße. Das mit einer Klage der Gesellschaft Escobar gegen diese Zurückweisung befasste Gericht der Europäischen Union hat die Entscheidung des EUIPO bestätigt und darauf hingewiesen, dass der Name von Pablo Escobar mit Drogenhandel und Drogenterrorismus in Verbindung gebracht wird, so dass die Marke als gegen grundlegende moralische Normen sowie gegen unteilbare und universelle Werte, auf die sich die Union gründet, verstoßend wahrgenommen würde.

    Urteil Escobar/EUIPO (Pablo Escobar) vom 17. April 2024 (T‑255/23)

  • Die Unionsmarke Big Mac wurde 1996 zugunsten der US-amerikanischen Kette McDonald’s eingetragen. Im Jahr 2017 stellte die irische Schnellrestaurantkette Supermac's einen Antrag auf Erklärung des Verfalls der Marke, da sie für bestimmte Waren und Dienstleistungen nicht ernsthaft benutzt worden sei. Das EUIPO gab dem Antrag von Supermac’s nur teilweise statt. Supermac’s rief folglich das Gericht der Europäischen Union an. Dieses hat den McDonald’s von der Marke Big Mac gewährten Schutz weiter eingeschränkt. So hat McDonald’s diese Marke für Speisen aus Geflügelprodukten, für Hühnchensandwiches, für Dienstleistungen im Zusammenhang mit Restaurants und Drive-through-Einrichtungen sowie für die Zubereitung von Speisen zum Mitnehmen verloren. McDonald’s hat keinen Nachweis dafür erbracht, dass die Marke Big Mac während eines ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren für diese Waren und Dienstleistungen in der Union ernsthaft benutzt wurde.

    Urteil Supermac’s/EUIPO – McDonald’s International Property (BIG MAC) vom 5. Juni 2024 (T‑58/23)

  • Am 24. Februar 2022, dem ersten Tag des groß angelegten Einmarschs Russlands in die Ukraine, sprach Roman Gribov, ukrainischer Grenzschützer auf der Schlangeninsel im Schwarzen Meer, einen Schlachtruf gegen russische Schiffe aus: „Русский военный корабль, иди на **й“ (auf Englisch: „Russian warship, go f**k yourself“). Die Administration of the State Border Guard Service of Ukraine meldete beim EUIPO eine aus diesem Schlachtruf und seiner englischen Übersetzung bestehende Marke als Unionsmarke an. Das EUIPO lehnte die Eintragung der Marke ab. Auf Klage der ukrainischen Grenzschutzverwaltung hat das Gericht der Europäischen Union die Entscheidung des EUIPO bestätigt. Dieser Satz, der ein Symbol des von der Ukraine geführten Kampfes gegen die russische Aggression geworden ist, würde nicht als Hinweis auf eine betriebliche Herkunft wahrgenommen.

    Urteil Administration of the State Border Guard Service of Ukraine/EUIPO (RUSSIAN WARSHIP, GO F**K YOURSELF) vom 13. November 2024 (T‑82/24)

  • Im Jahr 2016 erwirkte die deutsche Gesellschaft Puma beim EUIPO die Eintragung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters für Turnschuhe. Die niederländische Gesellschaft Handelsmaatschappij J. Van Hilst beantragte beim EUIPO, dieses Geschmacksmuster für nichtig zu erklären, da die Sängerin Rihanna als neu ernannte Kreativdirektorin von Puma zwölf Monate vor Einreichung der Anmeldung Fotos auf Instagram veröffentlicht hätte, auf denen sie Schuhe getragen hätte, die ein Geschmacksmuster mit gleichen Merkmalen aufgewiesen hätten. Das EUIPO war der Auffassung, dass das Geschmacksmuster somit vor der Anmeldung offenbart worden sei, was seine Nichtigerklärung rechtfertige. Das Gericht der Europäischen Union hat die Klage von Puma gegen die Entscheidung des EUIPO abgewiesen und bestätigt, dass die Fotos von Rihannas Instagram-Account für den Nachweis einer Offenbarung des älteren Geschmacksmusters ausreichen, da auf ihnen alle seine wesentlichen Merkmale erkennbar sind.

    Urteil Puma/EUIPO – Handelsmaatschappij J. Van Hilst (Schuhe) vom 6. März 2024 (T‑647/22)

Handelspolitik

Die Europäische Union verfügt über die ausschließliche Zuständigkeit für die gemeinsame Handelspolitik, in deren Rahmen sie u. a. internationale Handelsabkommen schließt. Dass die Union auf der Weltbühne mit einer Stimme spricht, verschafft ihr eine starke Position im Bereich des internationalen Handels. Die Handlungen der Union in diesem Bereich müssen jedoch mit dem verfassungsrechtlichen Rahmen der Union im Einklang stehen.

  • 2019 wurden die Handelsabkommen EU‑Marokko im Bereich der Fischerei und landwirtschaftlicher Erzeugnisse auf das Gebiet der Westsahara ausgedehnt, ohne ausdrückliche Zustimmung des Volkes der Westsahara. Der Front Polisario, der von den Vereinten Nationen als bevorzugter Ansprechpartner für Belange des sahrauischen Volkes anerkannt ist, wandte sich vor dem Gericht der Europäischen Union gegen die Beschlüsse des Rates der Europäischen Union, mit denen diese Abkommen genehmigt wurden. Das Gericht hat die Beschlüsse für nichtig erklärt. Der mit einem Rechtsmittel gegen die Urteile des Gerichts befasste Gerichtshof hat festgestellt, dass die Abkommen gegen das Völkerrecht verstoßen, da das sahrauische Volk, das Inhaber des Rechts auf Selbstbestimmung für dieses Gebiet ist, nicht ordnungsgemäß konsultiert wurde. Seine Zustimmung konnte auch nicht vermutet werden, da die Abkommen dem sahrauischen Volk keinen konkreten Vorteil in Form einer angemessenen finanziellen Gegenleistung für die Nutzung der natürlichen Ressourcen der Westsahara und der an sie angrenzenden Gewässer verschaffen.

    Urteile Kommission und Rat/Front Polisario vom 4. Oktober 2024 (verbundene Rechtssachen C‑778/21 P und C‑798/21 P sowie verbundene Rechtssachen C‑779/21 P und C‑799/21 P)

  • Ein französischer Landwirtschaftsverband beanstandete bei der französischen Verwaltung die Etikettierung von in der Westsahara angebauten Melonen und Tomaten. Diese Erzeugnisse wurden in die Europäische Union unter der Angabe von Marokko als Ursprungsland exportiert, was der Landwirtschaftsverband als irreführend und völkerrechtswidrig rügte. Er verlangte eine eindeutige Etikettierung mit Angabe des tatsächlichen Ursprungs. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass die Westsahara ein von Marokko gesondertes Gebiet im Sinne des Unionsrechts ist. Daher müssen die aus diesem Gebiet stammenden Erzeugnisse ihren tatsächlichen Ursprung, d. h. die Westsahara, angeben, um eine transparente Information zu gewährleisten und eine Irreführung der Verbraucher zu vermeiden. Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass Mitgliedstaaten wie Frankreich nicht einseitig Einfuhrverbote für falsch etikettierte Erzeugnisse verhängen dürfen. Für solche Maßnahmen ist ausschließlich die Union im Rahmen ihrer gemeinsamen Handelspolitik zuständig.

    Urteil Confédération paysanne (Melonen und Tomaten aus der Westsahara) vom 4. Oktober 2024 (C‑399/22)

Migration und Asyl

Die Europäische Union hat ein Regelwerk für eine wirksame, humanitäre und sichere europäische Migrationspolitik erlassen. Das gemeinsame europäische Asylsystem legt Mindestnormen fest, die für die Behandlung aller Asylbewerber und die Bearbeitung ihrer Anträge in der ganzen Union gelten.

  • Nach der Anerkennungsrichtlinie sind Personen, die beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registriert sind, von der Anerkennung als Flüchtling in der Europäischen Union ausgeschlossen. Wird jedoch der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt, muss diesen Personen der Flüchtlingsstatus zuerkannt werden. Im Rahmen eines Rechtsstreits, der Staatenlose palästinensischer Herkunft betrifft, rief ein bulgarisches Gericht den Gerichtshof an, um klarzustellen, wann dieser Beistand als nicht länger gewährt anzusehen ist. Der Gerichtshof hat entschieden, dass in Anbetracht der Lage im Gazastreifen der Beistand des UNRWA dann als nicht länger gewährt anzusehen ist, wenn dieses Hilfswerk keine menschenwürdigen Lebensbedingungen und kein Mindestmaß an Sicherheit in dem betreffenden Gebiet mehr gewährleisten kann.

    Urteil Zamestnik-predsedatel na Darzhavna agentsia za bezhantsite (Flüchtlingsstatus – Staatenloser palästinensischer Herkunft) vom 13. Juni 2024 (C‑563/22)

  • Der Gerichtshof hat Ungarn verurteilt, einen Pauschalbetrag von 200 Mio. Euro und ein Zwangsgeld von 1 Mio. Euro für jeden Tag des Verzugs wegen Nichtdurchführung eines im Dezember 2020 ergangenen Asylurteils des Gerichtshofs zu zahlen. Ungarn hat gegen seine Verpflichtungen betreffend den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz, die Inhaftnahme von Antragstellern in Transitzonen und die Abschiebung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger verstoßen. In der bewussten Nichtumsetzung der gemeinsamen Politik der Union liegt ein schwerer Verstoß gegen den Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und die Einheit des Unionsrechts. Diese neue und außergewöhnlich schwere Vertragsverletzung überträgt den anderen Mitgliedstaaten eine ungerechtfertigte Verantwortung für die Aufnahme und die Abwicklung von Asylbewerbern.

    Urteil Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen II) vom 13. Juni 2024 (C‑123/22)

Justizielle Zusammenarbeit

Die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts umfasst Maßnahmen zur Förderung der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Diese Zusammenarbeit beruht auf der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und zielt darauf ab, das nationale Recht zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität zu harmonisieren und dabei den Schutz der Rechte von Opfern, Verdächtigen und Häftlingen in der Union zu gewährleisten.

  • Ein italienisches Gericht verurteilte einen Mann, der seine frühere Partnerin getötet hatte, zur Zahlung einer Entschädigung an die Familienangehörigen des Opfers. Aufgrund der Zahlungsunfähigkeit des Täters gewährte der italienische Staat allerdings nur den Kindern und dem Ehepartner des Opfers eine Entschädigung. Die Eltern, die Schwester und die Kinder des Opfers erhoben daraufhin bei einem italienischen Gericht Klage auf eine „gerechte und angemessene“ Entschädigung. Der Gerichtshof, der zur Auslegung der Richtlinie über die Entschädigung der Opfer von Straftaten befragt wurde, hat entschieden, dass eine nationale Regelung, die bestimmte Familienangehörige automatisch von jeder Entschädigung allein wegen des Vorhandenseins anderer Familienangehöriger ausschließt, keine „gerechte und angemessene Entschädigung“ für indirekte Opfer gewährleistet. Eine solche Regelung muss andere Erwägungen berücksichtigen, wie die materiellen Folgen, die sich für diese Familienangehörigen aus dem Tod der betreffenden Person oder dem Umstand ergeben, dass ihnen Unterhalt gewährt wurde.

    Urteil Burdene vom 7. November 2024 (C‑126/23)

  • Der französischen Polizei gelang es, den EncroChat‑Dienst für verschlüsselte Telekommunikation zu infiltrieren, der weltweit auf Kryptohandys für den illegalen Handel mit Betäubungsmitteln genutzt wurde. Das deutsche Bundeskriminalamt konnte die so gesammelten Daten der EncroChat‑Nutzer in Deutschland auf einem Europol-Server abrufen. Auf von der deutschen Staatsanwaltschaft erlassene Europäische Ermittlungsanordnungen hin genehmigte ein französisches Gericht die Übermittlung dieser Daten und ihre Verwendung in Strafverfahren in Deutschland. Das Landgericht Berlin hatte Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Anordnungen. Der Gerichtshof hat geantwortet, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung unter bestimmten Voraussetzungen von einem Staatsanwalt erlassen werden kann, um die Übermittlung von Beweismitteln zu erwirken, die sich bereits im Besitz eines anderen Mitgliedstaats befinden. Für den Erlass einer solchen Anordnung ist nicht erforderlich, dass er den im Anordnungsstaat geltenden Voraussetzungen für die Erhebung der Beweise unterliegt. Ein Gericht muss aber die Wahrung der Grundrechte der betroffenen Personen später überprüfen können.

    Urteil M. N. (EncroChat) vom 30. April 2024 (C‑670/22)

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

Als wesentliches Instrument der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union werden restriktive Maßnahmen oder „Sanktionen“ als Teil eines ganzheitlichen und umfassenden Ansatzes eingesetzt, zu dem auch ein politischer Dialog gehört. Die Union greift auf sie zurück, um die Werte, die grundlegenden Interessen und die Sicherheit der Union zu schützen, Konflikte zu verhüten und die internationale Sicherheit zu stärken. Die Sanktionen sollen eine Änderung in der Politik oder im Handeln derjenigen bewirken, gegen die sich die Maßnahmen richten, und so die Ziele der GASP befördern.

  • Im Jahr 2008 richtete die Europäische Union die zivile Mission Eulex Kosovo ein, um Untersuchungen durchzuführen zu Verbrechen, die 1999 im Kosovo begangen wurden, sowie zu Personen, die dort zu jener Zeit verschwunden oder getötet wurden. Im folgenden Jahr richtete sie eine Überwachungskommission ein, die mit der Prüfung von Beschwerden wegen durch Eulex Kosovo in Ausübung ihres Mandats begangener Menschenrechtsverletzungen betraut ist. Auf Beschwerden von KS und KD hin, nahe Familienangehörige von Personen, die im Kosovo verschwunden sind bzw. getötet wurden, kam die Überwachungskommission zu dem Ergebnis, dass eine Reihe von Grundrechten verletzt worden war. In der Folge erhoben KS und KD Klage beim Gericht der Europäischen Union auf Ersatz des Schadens, der ihnen im Zusammenhang mit den während der Mission durchgeführten Untersuchungen entstanden sein soll. Das Gericht erklärte sich für offensichtlich unzuständig.

    Im Rechtsmittelverfahren hat der Gerichtshof die Zuständigkeiten der Unionsgerichte im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) präzisiert. Er hat entschieden, dass die Unionsgerichte für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit und die Auslegung von Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der GASP zuständig sind, die nicht unmittelbar mit politischen oder strategischen Entscheidungen in Verbindung stehen (wie z. B. Entscheidungen von Eulex Kosovo über die Auswahl des Personals). Diese enge Auslegung der Beschränkung seiner gerichtlichen Zuständigkeit im Bereich der GASP steht im Einklang mit dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, das auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verankert ist. Der Gerichtshof hat daher den Beschluss des Gerichts teilweise aufgehoben und festgestellt, dass die Unionsgerichte für die Entscheidung über einen Teil der Handlungen bzw. Verhaltensweisen zuständig sind, auf die sich die Kläger mit ihrer Schadensersatzklage beziehen.

    Urteil KS und KD/Rat u. a. vom 10. September 2024 (verbundene Rechtssachen C‑29/22 P und C‑44/22 P)

  • Ebenfalls im Bereich der GASP hat das Gericht der Europäischen Union die Rechtmäßigkeit des vom Rat der Europäischen Union erlassenen Verbots, Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung für die russische Regierung und in Russland niedergelassene juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen zu erbringen, bestätigt (siehe zu diesem Urteil auch die Rubrik „Grundrechte“ und das Kapitel „Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung“).

    Urteil Ordre néerlandais des avocats du barreau de Bruxelles u. a./Rat (T‑797/22, T‑798/22, T‑828/22)

Die Direktion Wissenschaftlicher Dienst und Dokumentation bietet dem juristischen Fachpublikum im Rahmen ihrer Sammlung der Zusammenfassungen eine „Auswahl wichtiger Urteile“ und ein „Monatliches Rechtsprechungsbulletin“ des Gerichtshofs und des Gerichts an.

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