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DER GERICHTSHOF UND DIE RECHTE VON FLUGGÄSTEN

Seit 1952 sorgt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) dafür, dass das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten beachtet und richtig angewandt wird. Im Lauf der Jahre hat er Urteile erlassen, die die europäische Integration gestärkt und den Bürgern immer weiter reichende Rechte zugesprochen haben. Auf den folgenden Seiten werden einige wichtige Urteile des Gerichtshofs zu den Rechten von Fluggästen dargestellt.

ALLGEMEINE GRUNDSÄTZE

Drei Milliarden Passagiere benutzen jedes Jahr das Flugzeug. Die Union hat 2004 eine Verordnung über die Rechte von Fluggästen erlassen, die einen Flug auf oder zu einem Flughafen in einem Mitgliedstaat antreten (Verordnung Nr. 261/2004). Der Gerichtshof hat diese Verordnung regelmäßig auszulegen, um ihre einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Insbesondere muss er immer wieder die Frage klären: In welchen Fällen und unter welchen Bedingungen muss eine Fluggesellschaft Fluggäste entschädigen?

Während nach der Verordnung von 2004 nur Fluggäste annullierter Flüge, die anderweitig zu ihrem Ziel befördert werden, einen Ausgleichsanspruch haben, wenn sie gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit drei Stunden oder mehr verlieren, erklärte der Gerichtshof im Jahr 2009, dass auch Fluggäste, deren Flug eine Verspätung von drei Stunden oder mehr hat, einen Ausgleichsanspruch haben. Denn es wäre nicht gerechtfertigt, die Fluggäste verspäteter Flüge anders zu behandeln, wenn auch sie ihr Endziel mit einer Verspätung von mindestens drei Stunden erreichen.

Der Gerichtshof erläuterte in diesem Urteil ferner, dass sich die Fluggesellschaften bei Annullierung oder erheblicher Verspätung eines Fluges von ihrer Ausgleichspflicht befreien können, wenn sie nachweisen, dass die Annullierung oder Verspätung auf außergewöhnlichen Umständen beruht, die von ihr tatsächlich nicht zu beherrschen sind und die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären (Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon, C-402/07).

AUSSERGEWÖHNLICHE UMSTÄNDE

Die Fluggesellschaften müssen den Fluggästen keinen Ausgleich leisten, wenn „außergewöhnliche Umstände" vorgelegen haben. Diesen Begriff hatte der Gerichtshof über die Jahre hinweg immer wieder zu präzisieren und konkretisieren.

Der Gerichtshof stellte fest, dass die Kollision eines Treppenfahrzeugs mit einem Flugzeug und unvorhergesehene technische Probleme wie ein Ausfall oder der Austausch eines vorzeitig defekten Teils grundsätzlich keine außergewöhnlichen Umstände sind. Die Fluggesellschaften können somit nicht von ihrer Ausgleichspflicht befreit werden, da solche technischen Probleme unausweichlich mit dem Betrieb von Flugzeugen einhergehen und vom Luftfahrtunternehmen, das die Wartung sicherstellen muss, zu beherrschen sind (Urteil vom 17. September 2015, van der Lans, C-257/14). Bestimmte technische Probleme können allerdings als außergewöhnliche Umstände angesehen werden (z. B. versteckte Fabrikationsfehler, die die Sicherheit von bereits in Betrieb genommenen Maschinen beeinträchtigen, oder aber Schäden an Flugzeugen, die durch einen Sabotageakt oder eine terroristische Handlung verursacht wurden) (Beschluss vom 14. November 2014, Siewert u. a., C-394/14).
Außergewöhnliche Umstände waren nach Auffassung des Gerichtshofs auch die Schließung eines Teils des europäischen Luftraums nach dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull ebenso wie die Kollision eines Flugzeugs mit einem Vogel und die Zeit, die von einem Fachmann, der zur Durchführung der wegen dieser Kollision erforderlichen Sicherheitsüberprüfungen autorisiert war, aufgewendet wurde (Urteil vom 31. Januar 2013, McDonagh, C-12/11; Urteil vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C-315/15).

 

VERSPÄTUNGEN

Wiederholt hatte der Gerichtshof seine Rechtsprechung zu Flügen mit einer Verspätung von mindestens drei Stunden zu präzisieren. Er musste insbesondere erläutern, wie die Verspätung zu berechnen ist und wie sich Anschlussflüge insoweit auswirken.

Der Gerichtshof stellte im Jahr 2014 fest, dass die tatsächliche Ankunftszeit des Fluges der Zeitpunkt ist, zu dem mindestens eine der Flugzeugtüren geöffnet wird. Denn erst wenn den Fluggästen das Verlassen des Flugzeugs gestattet ist, können sie sich wieder uneingeschränkt betätigen (Urteil vom 4. September 2014, Germanwings, C-452/13). Er hat ferner entschieden, dass in dem Fall, dass die Verspätung eines Fluges sowohl auf außergewöhnlichen Umständen als auch auf anderen Umständen, die der Fluggesellschaft zuzurechnen sind, beruht, die auf den außergewöhnlichen Umstand zurückzuführende Verspätung von der gesamten Verspätungszeit bei Ankunft abzuziehen ist. Beträgt die Verspätungszeit bei Ankunft danach mehr als drei Stunden, haben die Fluggäste einen Ausgleichsanspruch (Urteil vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C-315/15).
2013 stellte der Gerichtshof außerdem fest, dass ein Ausgleich nicht voraussetzt, dass die Verspätung schon beim Abflug bestand. Es genügt vielmehr, dass der Flug am Endziel des Fluggasts mit mindestens drei Stunden Verspätung ankommt, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob die Verspätung auf den ersten oder einen etwaigen Anschlussflug zurückzuführen ist (Urteil vom 26. Februar 2013, Folkerts, C-11/11). 2017 präzisierte der Gerichtshof, dass die Entfernung für den Flug, nach der sich die Höhe des Ausgleichs bestimmt, bei Flügen mit Anschlussflügen nur die direkte Entfernung zwischen Abflug- und letztem Zielort umfasst, d. h. die Luftlinienentfernung ist (Urteil vom 7. September 2017, Bossen u. a., C-559/16).

 

ANNULLIERUNGEN UND NICHTBEFÖRDERUNGEN

Wie bei den Verspätungen lagen dem Gerichtshof Einzelfälle vor, in denen er entscheiden musste, ob der Flug annulliert worden war oder die Fluggesellschaft einem Fluggast zu Unrecht die Beförderung verweigert hatte.

Wenn das Flugzeug nie an seinem Ziel angekommen ist und zum Ausgangsflughafen zurückkehren musste, ohne dass die Fluggäste es erneut nehmen konnten, ist der Flug nach Auffassung des Gerichtshofs als annulliert zu betrachten, und zwar auch dann, wenn die Fluggäste mit einem anderen Flug an ihr Ziel befördert wurden. Da der ursprüngliche Flug als annulliert gilt, haben die Fluggäste in einem solchen Fall einen Ausgleichsanspruch (Urteil vom 13. Oktober 2011, Sousa Rodríguez u. a., C-83/10).
Der Gerichtshof entschied außerdem, dass der Begriff der Nichtbeförderung nicht auf Fälle einer Überbuchung beschränkt ist. Daher rechtfertigen außergewöhnliche Umstände – wie z. B. ein Streik –, die eine Fluggesellschaft veranlassen, Flüge, die auf einen annullierten Flug folgen, umzuorganisieren, es nicht, Fluggästen, die auf diesen späteren Flügen gebucht sind, die Beförderung zu verweigern. Eine Fluggesellschaft, die den Platz eines Fluggastes an eine Person vergibt, deren Flug von einem Streik betroffen war, verweigert diesem Fluggast daher widerrechtlich die Beförderung, so dass dieser einen Ausgleichsanspruch hat (Urteil vom 4. Oktober 2012, Finnair, C-22/11).

 

PFLICHTEN DER FLUGGESELLSCHAFTEN

Nach der Verordnung von 2004 müssen die Fluggesellschaften Fluggästen, deren Flug annulliert oder verspätet ist oder denen zu Unrecht die Beförderung verweigert wurde, Ausgleich leisten. Die Verordnung sieht einen pauschalen Ausgleich von 250 bis 600 Euro je nach Länge des geplanten Fluges vor. Die Fluggesellschaften müssen außerdem Unterstützung leisten (insbesondere Erstattung der Flugscheinkosten oder anderweitige Beförderung zum Endziel) und bestimmte Kosten übernehmen (für Mahlzeiten, Übernachtung und Telekommunikation). Der Gerichtshof hatte bereits mehrfach Gelegenheit, diese Pflichten zu präzisieren.

Im Jahr 2011 stellte der Gerichtshof fest, dass die Fluggäste, wenn der in der Verordnung von 2004 vorgesehene pauschale Ausgleich nicht den gesamten materiellen und immateriellen Schaden abdeckt, der ihnen entstanden ist, den Rest von der Fluggesellschaft verlangen können, und zwar in den Grenze des internationalen und des nationalen Rechts. Innerhalb dieser Grenzen müssen die Fluggäste daher einen vollständigen Ersatz ihres Schadens erlangen können (Urteil vom 13. Oktober 2011, Sousa Rodríguez u. a., C-83/10).
Kommt die Fluggesellschaft ihren Unterstützungs- und Betreuungspflichten nicht nach, können die Fluggäste die Erstattung der Beträge verlangen, die sich als notwendig, angemessen und zumutbar erweisen, um das Versäumnis der Fluggesellschaft auszugleichen. Der Gerichtshof stellte außerdem fest, dass das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände die Fluggesellschaften zwar von ihrer Ausgleichspflicht befreit, nicht aber von ihrer Unterstützungs- und Betreuungspflicht (Urteil vom 31. Januar 2013, McDonagh, C-12/11).

GEPÄCK

Hinsichtlich des Gepäcks musste der Gerichtshof z. B. erläutern, bis zu welchem Betrag ein Fluggast Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens verlangen kann, der ihm durch die Zerstörung oder den Verlust seines Gepäcks entstanden ist. Er beschäftigte sich auch mit der Frage, ob Fluggesellschaften den Fluggästen den Preis der Gepäckbeförderung in Rechnung stellen dürfen.

Nach dem Übereinkommen von Montreal von 1999 haftet die Fluggesellschaft bei Zerstörung oder Verlust des Gepäcks nur bis zu einem Betrag von etwa 1300 Euro. Der Gerichtshofstelltefest, dass dieser Betragjede Artvon Schadenabdeckt,
d. h. sowohl den materiellen als auch den immateriellen Schaden. Die Begrenzung des Schadensersatzes bezieht sich nämlich, so der Gerichtshof, auf den gesamten Schaden – gleich welcher Art – des einzelnen Fluggastes (Urteil vom 6. Mai 2010, Walz, C-63/09).
Der Gerichtshof erkannte ferner an, dass der Preis der Gepäckbeförderung zusätzlich zum Preis des Flugscheins in Rechnung gestellt werden darf, wie dies die meisten
„Low-cost"-Fluggesellschaften tun. Kein Zuschlag darf nach Ansicht des Gerichtshofs dagegen für in der Kabine befördertes Gepäck verlangt werden, weil dieses grundsätzlich als unverzichtbarer Bestandteil der Beförderung von Fluggästen anzusehen ist (Urteil vom 18. September 2014, Vueling Airlines, C-487/12).

 

FLUGRESERVIERUNGEN

Der Gerichtshof erläuterte bei mehreren Gelegenheiten, welche Regeln die Verkäufer von Flugreisen einhalten müssen, wenn sie diese auf ihrer Website anbieten.

Im Jahr 2012 erklärte der Gerichtshof, dass die Verkäufer von Flugreisen in den Preis des Flugscheins nicht im Wege der Voreinstellung eine Reiserücktrittsversicherung einschließen dürfen. Eine solche Versicherung bedeutet nämlich fakultative Zusatzkosten, die nach einer Verordnung von 2008 über die Durchführung von Luftverkehrsdiensten auf klare Art und Weise zu Beginn des Buchungsvorgangs mitgeteilt werden müssen; ihre Annahme durch den Kunden muss auf
„Opt-in"-Basis erfolgen (Urteil vom 19. Juli 2012, ebooker.com Deutschland, C-112/11).
Diese Verordnung von 2008 sieht außerdem vor, dass der zu zahlende Endpreis stets auszuweisen ist. Der Gerichtshof schloss daraus, dass dieser Endpreis bei jeder Angabe von Preisen für Flugdienste, einschließlich bei ihrer erstmaligen Angabe, auszuweisen ist. Damit soll insbesondere gewährleistet werden, dass die Kunden die Preise verschiedener Fluggesellschaften für Flugdienste effektiv vergleichen können (Urteil vom 15. Januar 2015, Air Berlin, C-573/13).