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Vorbemerkung

Zusammensetzung

Zuständigkeiten

Verfahren

Der Gerichtshof in der Rechtsordnung der Europäischen Union

Vorbemerkung

Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 hat die Europäische Union Rechtspersönlichkeit erlangt und die zuvor der Europäischen Gemeinschaft eingeräumten Zuständigkeiten übernommen. Das Gemeinschaftsrecht ist daher zum Unionsrecht geworden, das auch alle Bestimmungen umfasst, die in der Vergangenheit aufgrund des Vertrags über die Europäische Union in seiner Fassung vor dem Vertrag von Lissabon ergangen sind. In der nachfolgenden Darstellung wird gleichwohl der Begriff „Gemeinschaftsrecht" verwendet, wenn auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Bezug genommen wird.

Neben der Europäischen Union besteht die Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) fort. Da die Zuständigkeiten des Gerichtshofs im Bereich von Euratom grundsätzlich mit seinen Zuständigkeiten im Rahmen der Europäischen Union übereinstimmen - und zur besseren Lesbarkeit der Darstellung -, erstreckt sich jede Bezugnahme auf das Unionsrecht auch auf das Euratom-Recht.

 

Zusammensetzung

vignette-cjce   Der Gerichtshof besteht aus 27 Richtern und 11 Generalanwälten. Die Richter und Generalanwälte werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten nach Anhörung eines Ausschusses, der die Aufgabe hat, eine Stellungnahme zur Eignung der vorgeschlagenen Bewerber für die Ausübung der fraglichen Ämter abzugeben, im gegenseitigen Einvernehmen ernannt. Ihre Amtszeit beträgt sechs Jahre; Wiederernennung ist zulässig. Sie sind unter Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder sonst hervorragend befähigt sind.


Die Richter des Gerichtshofs wählen aus ihrer Mitte für die Dauer von drei Jahren den Präsidenten und den Vizepräsidenten; Wiederwahl ist zulässig. Der Präsident leitet die rechtsprechende Tätigkeit des Gerichtshofs und führt in den größeren Spruchkörpern den Vorsitz in den Sitzungen und bei den Beratungen. Der Vizepräsident steht dem Präsidenten bei der Erfüllung seiner Aufgaben zur Seite und vertritt ihn, wenn er verhindert ist.

Die Generalanwälte unterstützen den Gerichtshof. Sie stellen in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit ein Rechtsgutachten, die „Schlussanträge", in den Rechtssachen, die ihnen zugewiesen sind.

Der Kanzler ist der Generalsekretär des Gerichtshofs; er leitet dessen Dienststellen unter der Aufsicht des Präsidenten.

Der Gerichtshof kann als Plenum, als Große Kammer mit fünfzehn Richtern oder als Kammer mit drei oder mit fünf Richtern tagen.

Als Plenum tagt er in besonderen, in der Satzung des Gerichtshofs vorgesehenen Fällen (u. a. Amtsenthebung des Europäischen Bürgerbeauftragten oder eines Mitglieds der Europäischen Kommission, das seine Amtspflichten verletzt hat) und wenn er zu der Auffassung gelangt, dass eine Rechtssache von außergewöhnlicher Bedeutung ist.

Er tagt als Große Kammer, wenn ein Mitgliedstaat oder ein Organ als Partei des Verfahrens dies beantragt, sowie in besonders komplexen oder bedeutsamen Rechtssachen.
In den übrigen Rechtssachen entscheiden Kammern mit drei oder fünf Richtern. Die Präsidenten der Kammern mit fünf Richtern werden für drei Jahre gewählt, die Präsidenten der Kammern mit drei Richtern für ein Jahr.

 

Zuständigkeiten

Zur Erfüllung seiner Aufgabe wurde der Gerichtshof mit genau definierten Zuständigkeiten ausgestattet, die er im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens und verschiedener Klagearten wahrnimmt.

Die einzelnen Verfahrensarten

  • Vorabentscheidungsersuchen

Der Gerichtshof arbeitet mit allen Gerichten der Mitgliedstaaten zusammen; diese sind die für die Anwendung des Unionsrechts zuständigen Gerichte. Um eine tatsächliche und einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen und divergierende Auslegungen zu verhindern, können (und müssen mitunter) nationale Gerichte sich an den Gerichtshof wenden und ihn um eine Auslegung des Unionsrechts bitten, um etwa die Vereinbarkeit ihrer nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht prüfen zu können. Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens kann auch die Prüfung der Gültigkeit eines Rechtsakts der Union sein.
Der Gerichtshof antwortet nicht durch ein bloßes Gutachten, sondern durch Urteil oder mit Gründen versehenen Beschluss. Das nationale Gericht, an das das Urteil oder der Beschluss gerichtet ist, ist bei der Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit an die Auslegung des Gerichtshofs gebunden. In gleicher Weise bindet das Urteil des Gerichtshofs andere nationale Gerichte, die mit dem gleichen Problem befasst werden.
Das Vorabentscheidungsersuchen bietet ferner jedem Unionsbürger die Möglichkeit, den genauen Inhalt der ihn betreffenden Normen des Unionsrechts feststellen zu lassen. Zwar können nur nationale Gerichte den Gerichtshof mit einem solchen Ersuchen befassen, doch können an dem Verfahren vor dem Gerichtshof alle Beteiligten des Ausgangsverfahrens, die Mitgliedstaaten und die Unionsorgane teilnehmen. Verschiedene tragende Grundsätze des Unionsrechts sind auf diese Weise aufgrund von Vorabentscheidungsersuchen - zum Teil erstinstanzlicher Gerichte - vom Gerichtshof aufgestellt worden.

  • Klage wegen Vertragsverletzung

In diesem Verfahren prüft der Gerichtshof, ob die Mitgliedstaaten ihren unionsrechtlichen Verpflichtungen nachgekommen sind. Der Anrufung des Gerichtshofs geht ein von der Kommission eingeleitetes Vorverfahren voraus, das dem Mitgliedstaat Gelegenheit gibt, sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern. Führt dieses Vorverfahren nicht zur Abstellung der Vertragsverletzung durch den Mitgliedstaat, so kann beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage erhoben werden.
Diese Klage kann von der Kommission - dies ist in der Praxis der häufigste Fall - oder von einem Mitgliedstaat erhoben werden. Stellt der Gerichtshof die Vertragsverletzung fest, so ist der betreffende Staat verpflichtet, sie unverzüglich abzustellen. Stellt der Gerichtshof nach einer erneuten Anrufung durch die Kommission fest, dass der betreffende Mitgliedstaat seinem Urteil nicht nachgekommen ist, so kann er ihm die Zahlung eines Pauschalbetrags und/oder Zwangsgelds auferlegen. Wurden der Kommission Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie nicht mitgeteilt, so kann der Gerichtshof jedoch auf Vorschlag der Kommission dem betreffenden Mitgliedstaat schon im ersten Vertragsverletzungsurteil eine finanzielle Sanktion auferlegen.

  • Nichtigkeitsklage

Mit der Nichtigkeitsklage beantragt der Kläger die Nichtigerklärung einer Handlung eines Organs, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union (insbesondere einer Verordnung, Richtlinie oder Entscheidung). Dem Gerichtshof vorbehalten sind die Klagen, die von einem Mitgliedstaat gegen das Europäische Parlament und/oder den Rat erhoben werden (ausgenommen Handlungen des Rates betreffend staatliche Beihilfen, Dumping und Durchführungsbefugnisse), sowie Klagen eines Unionsorgans gegen ein anderes. Für sonstige Nichtigkeitsklagen, insbesondere Klagen von Einzelpersonen, ist im ersten Rechtszug das Gericht zuständig.

  • Untätigkeitsklage

Mit dieser Klage kann die Rechtmäßigkeit der Untätigkeit eines Organs, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union überprüft werden. Sie kann jedoch erst erhoben werden, nachdem die betreffende Stelle zum Tätigwerden aufgefordert wurde. Wird festgestellt, dass die Unterlassung rechtswidrig war, obliegt es der fraglichen Stelle, die Untätigkeit durch geeignete Maßnahmen zu beenden. Die Zuständigkeit für Untätigkeitsklagen ist zwischen dem Gerichtshof und dem Gericht nach denselben Kriterien aufgeteilt wie bei Nichtigkeitsklagen.

  • Rechtsmittel

Beim Gerichtshof können auf Rechtsfragen beschränkte Rechtsmittel gegen Urteile und Beschlüsse des Gerichts eingelegt werden. Ist das Rechtsmittel zulässig und begründet, hebt der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts auf. Ist die Rechtssache zur Entscheidung reif, kann der Gerichtshof den Rechtsstreit selbst entscheiden. Andernfalls muss er die Rechtssache an das Gericht zurückverweisen, das an die Rechtsmittelentscheidung des Gerichtshofs gebunden ist.

 

Verfahren

Das Verfahren umfasst in allen Rechtssachen eine schriftliche und gegebenenfalls auch eine mündliche Phase mit öffentlicher Verhandlung. Zu unterscheiden ist jedoch zwischen dem Verfahren in Vorabentscheidungssachen und dem Verfahren in Klagesachen (Klagen und Rechtsmittel).

Anrufung des Gerichtshofs und schriftliches Verfahren

  • Vorlagen zur Vorabentscheidung

Ein nationales Gericht legt dem Gerichtshof - in der Regel in Form einer richterlichen Entscheidung gemäß dem innerstaatlichen Verfahrensrecht - Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit einer Bestimmung des Unionsrechts vor. Das Vorabentscheidungsersuchen wird zunächst vom Übersetzungsdienst des Gerichtshofs in alle anderen Amtssprachen der Union übersetzt und anschließend vom Kanzler den Parteien des Ausgangsverfahrens sowie den Mitgliedstaaten und den Unionsorganen zugestellt. Der Kanzler lässt eine Mitteilung im Amtsblatt veröffentlichen, in der u. a. die Parteien des Ausgangsverfahrens genannt werden und der Inhalt der Fragen wiedergegeben wird. Die Parteien, die Mitgliedstaaten und die Organe können binnen zwei Monaten schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof einreichen.

  • Klagen und Rechtsmittel

Die Anrufung des Gerichtshofs erfolgt durch eine an seine Kanzlei zu richtende Klageschrift. Der Kanzler lässt eine Mitteilung über die Klage einschließlich der Klageanträge und -gründe im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichen. Die Klageschrift wird den übrigen Parteien zugestellt, die binnen zwei Monaten eine Klage- oder Rechtsmittelbeantwortung einzureichen haben. Daran können sich gegebenenfalls eine Erwiderung des Klägers und eine Gegenerwiderung des Beklagten anschließen. Die Fristen für die Einreichung dieser Schriftstücke sind einzuhalten.

Bei beiden Verfahrensarten werden zur weiteren Behandlung der Rechtssache vom Präsidenten bzw. vom Ersten Generalanwalt ein Berichterstatter und ein Generalanwalt bestimmt.

Vorbereitende Maßnahmen

In allen Verfahren können die Beteiligten nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens binnen drei Wochen mitteilen, ob sie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wünschen. Der Gerichtshof entscheidet auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts, ob die Rechtssache eine Beweisaufnahme erfordert, welchem Spruchkörper die Rechtssache zugewiesen wird und ob eine mündliche Verhandlung stattfindet, deren Termin der Präsident bestimmt.

Mündliche Verhandlung und Schlussanträge des Generalanwalts

Ist beschlossen worden, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, tragen die Parteien ihre Ausführungen in öffentlicher Sitzung dem Spruchkörper und dem Generalanwalt vor. Die Richter und der Generalanwalt können den Parteien die Fragen stellen, die sie für zweckdienlich erachten. Einige Wochen später, wiederum in öffentlicher Sitzung, trägt der Generalanwalt dem Gerichtshof seine Schlussanträge vor. Darin geht er insbesondere auf die rechtlichen Aspekte des Rechtsstreits ein und schlägt dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit die Entscheidung vor, die seiner Meinung nach in dem Rechtsstreit ergehen sollte. Damit ist die mündliche Phase des Verfahrens abgeschlossen. Wirft eine Rechtssache keine neuen Rechtsfragen auf, so kann der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts beschließen, ohne Schlussanträge zu entscheiden.

Urteile

Die Richter beraten auf der Grundlage eines vom Berichterstatter erstellten Urteilsentwurfs. Jeder Richter des Spruchkörpers kann Änderungen vorschlagen. Die Entscheidungen des Gerichtshofs werden mit Stimmenmehrheit gefasst; etwaige abweichende Meinungen werden nicht aufgeführt. Das Urteil wird nur von den Richtern unterzeichnet, die an der mündlichen Beratung teilgenommen haben, in der es angenommen worden ist, unbeschadet der Regel, dass der dienstjüngste Richter des Spruchkörpers das Urteil nicht unterzeichnet, wenn der Spruchkörper eine gerade Zahl von Richtern aufweist. Die Urteile werden in öffentlicher Sitzung verkündet. Die Urteile und die Schlussanträge der Generalanwälte sind an dem Tag, an dem sie verkündet bzw. gestellt werden, auf der Website CURIA verfügbar. Sie werden in den meisten Fällen später in der Sammlung der Rechtsprechung veröffentlicht.

Besondere Verfahren

  • Vereinfachtes Verfahren

Stimmt eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage überein, zu der der Gerichtshof sich bereits geäußert hat, oder lässt die Beantwortung der Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel oder kann klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden, so kann der Gerichtshof unter Verweis auf das zu dieser Frage bereits ergangene Urteil oder auf die einschlägige Rechtsprechung nach Anhörung des Generalanwalts durch einen mit Gründen versehenen Beschluss entscheiden.

  • Beschleunigtes Verfahren

Das beschleunigte Verfahren ermöglicht es dem Gerichtshof, in äußerst dringlichen Fällen eine schnelle Entscheidung zu treffen, indem die Fristen so kurz wie möglich gehalten werden und diesen Rechtssachen absoluter Vorrang eingeräumt wird. Wenn eine Partei dies beantragt, entscheidet der Präsident des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts und der anderen Parteien, ob eine besondere Dringlichkeit den Rückgriff auf das beschleunigte Verfahren rechtfertigt. Ein beschleunigtes Verfahren ist auch für Vorabentscheidungsersuchen vorgesehen. In diesem Fall wird der Antrag vom vorlegenden nationalen Gericht gestellt; es muss darin die Umstände anführen, aus denen sich die außerordentliche Dringlichkeit der Entscheidung über die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage ergibt.

  • Eilvorlageverfahren

Dieses Verfahren ermöglicht es dem Gerichtshof, in erheblich verkürzter Zeit die sensibelsten Fragen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (polizeiliche Zusammenarbeit und justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen sowie Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr) zu behandeln. Mit den dem Eilvorlageverfahren unterworfenen Rechtssachen wird eine eigens dazu bestimmte Kammer mit fünf Richtern betraut, und das schriftliche Verfahren wird in der Praxis im Wesentlichen auf elektronischem Wege betrieben und ist - sowohl in Bezug auf seine Dauer als auch in Bezug auf die Zahl der Beteiligten, die schriftliche Erklärungen abgeben können, äußerst verkürzt; die Mehrzahl der Beteiligten wirkt in der obligatorischen mündlichen Phase des Verfahrens mit.

  • Vorläufiger Rechtsschutz

Gegenstand des vorläufigen Rechtsschutzes ist die Aussetzung des Vollzugs von Maßnahmen eines Organs, die außerdem Gegenstand einer Klage sein müssen, oder der Erlass jeder anderen vorläufigen Maßnahme, die erforderlich ist, um den Eintritt eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens einer Partei zu verhindern.

Verfahrenskosten

Das Verfahren vor dem Gerichtshof ist kostenfrei. Dagegen werden die Kosten des zum Auftreten vor einem Gericht eines Mitgliedstaats berechtigten Anwalts, durch den sich die Parteien vertreten lassen müssen, nicht vom Gerichtshof getragen. Ist jedoch eine Partei außerstande, die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise zu bestreiten, so kann sie selbst, ohne Vertretung durch einen Anwalt, Prozesskostenhilfe beantragen. Mit dem Antrag sind alle erforderlichen Unterlagen einzureichen, aus denen sich die Erforderlichkeit der Gewährung von Prozesskostenhilfe ergibt.

Sprachenregelung

In Klagesachen ist Verfahrenssprache, also die Sprache, in der das Verfahren durchgeführt wird, grundsätzlich die Sprache, in der die Klageschrift abgefasst ist (eine der 24 Amtssprachen der Europäischen Union). Bei Rechtsmitteln ist die Sprache des angefochtenen Urteils oder Beschlusses des Gerichts Verfahrenssprache. In Vorabentscheidungssachen ist Verfahrenssprache die Sprache des nationalen Gerichts, das den Gerichtshof anruft. In den Sitzungen werden die Verhandlungen je nach Bedarf in verschiedene Amtssprachen der Europäischen Union simultan übersetzt. Die Richter beraten ohne Dolmetscher in einer gemeinsamen Sprache, traditionell dem Französischen.

Schema des Verfahrens

Verfahren vor dem Gerichtshof

Klage- und Rechtsmittelverfahren

 

Vorabentscheidungsverfahren

Schriftliche Phase

Klage- / Rechtsmittelschrift
Zustellung an den Beklagten/ Rechtsmittelgegner durch die Kanzlei
Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union (Reihe C)
[Einstweilige Anordnungen]
[Streithilfe]
Klage- / Rechtsmittelbeantwortung
[Einrede der Unzulässigkeit]
[Erwiderung und Gegenerwiderung]

[Antrag auf Prozesskostenhilfe]
Bestimmung des Berichterstatters und des Generalanwalts

Vorlageentscheidung des nationalen Gerichts
Übersetzung in die anderen Amtssprachen der Europäischen Union
Veröffentlichung der Vorlagefragen im Amtsblatt der Europäischen Union (Reihe C)
Zustellung an die Parteien, die Mitgliedstaaten, die Unionsorgane, die EWR-Staaten und die EFTA-Überwachungsbehörde
Schriftliche Erklärungen der Parteien, Staaten und Organe

Der Berichterstatter erstellt den Vorbericht
Generalversammlung der Richter und der Generalanwälte
Verweisung der Rechtssache an einen Spruchkörper
[Beweisaufnahme]

Mündliche Phase

[Schlussanträge des Generalanwalts]

Beratung der Richter

Urteil

Fakultative Verfahrensschritte stehen in eckigen Klammern.
In Fettdruck bezeichnete Dokumente werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

 

Der Gerichtshof in der Rechtsordnung der Europäischen Union

Zum Aufbau Europas haben die (jetzt 27) Mitgliedstaaten Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und dann einer Europäischen Union geschlossen, deren Organe in bestimmten Bereichen Rechtsvorschriften erlassen.

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist das Rechtsprechungsorgan der Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG). Er besteht aus zwei Gerichten: dem Gerichtshof und dem Gericht. Ihre Hauptaufgabe ist es, die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Union zu überprüfen und eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten.

In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof die Verpflichtung der nationalen Behörden und Gerichte herausgearbeitet, das Unionsrecht in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen umfassend anzuwenden und die Rechte zu schützen, die es den Bürgern verleiht (unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts); dazu haben diese eine dem Unionsrecht entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts außer Anwendung zu lassen, gleichgültig, ob sie zeitlich vor oder nach der Unionsvorschrift liegt (Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht).

Der Gerichtshof hat ferner den Grundsatz der Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Unionsrecht anerkannt, der zum einen ein Element darstellt, das den Schutz der den Einzelnen aus den unionsrechtlichen Vorschriften erwachsenden Rechte verstärkt, und zum anderen einen Faktor, der dazu beitragen kann, dass die Mitgliedstaaten diese Vorschriften sorgfältiger umsetzen. Die Verstöße der Mitgliedstaaten können somit zu Schadensersatzansprüchen führen, die sich in manchen Fällen erheblich auf deren öffentliche Finanzen auswirken können. Verstöße eines Mitgliedstaats gegen Unionsrecht können außerdem vor dem Gerichtshof geltend gemacht werden, der den Mitgliedstaat bei unterbliebener Durchführung eines Urteils, mit dem ein solcher Verstoß festgestellt worden ist, zur Zahlung eines Zwangsgelds und/oder eines Pauschalbetrags verurteilen kann. Wurden der Kommission Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie nicht mitgeteilt, so kann der Gerichtshof jedoch auf Vorschlag der Kommission einem Mitgliedstaat schon im ersten Vertragsverletzungsurteil eine finanzielle Sanktion auferlegen

Der Gerichtshof arbeitet auch mit den nationalen Gerichten zusammen, die für die Anwendung des Unionsrechts zuständig sind. Jedes nationale Gericht, das einen Rechtsstreit mit Bezug zum Unionsrecht zu entscheiden hat, kann - und muss u. U. - dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorlegen. Der Gerichtshof hat dann eine Bestimmung des Unionsrechts auszulegen oder deren Rechtmäßigkeit zu überprüfen.
Die Entwicklung seiner Rechtsprechung macht den Beitrag des Gerichtshofs zur Schaffung eines Rechtsraums für die Bürger deutlich, in dem die Rechte geschützt sind, die ihnen in verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens aus dem Unionsrecht erwachsen.

Von der Rechtsprechung entwickelte Grundsätze

Das Urteil Van Gend & Loos von 1963 ist Ausgangspunkt der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Grundsatz der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, der es den Unionsbürgern ermöglicht, sich vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf unionsrechtliche Vorschriften zu berufen.

Die Spedition Van Gend & Loos musste für die Einfuhr von Waren aus Deutschland in die Niederlande Zölle entrichten, die ihrer Meinung nach gegen die Bestimmung des EWG-Vertrags verstießen, wonach Mitgliedstaaten die in ihren gegenseitigen Handelsbeziehungen angewandten Zölle nicht erhöhen dürfen. Die Klage warf die Frage nach dem Konflikt zwischen nationalen Rechtsvorschriften und den Bestimmungen des EWG-Vertrags auf. Auf Ersuchen eines niederländischen Gerichts beantwortete der Gerichtshof die Frage, indem er die Lehre von der unmittelbaren Wirkung bestätigte und damit gewährleistete, dass die Spedition ihre Rechte aus dem Gemeinschaftsrecht unmittelbar vor dem nationalen Gericht geltend machen konnte.

1964 wurde mit dem Urteil Costa der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem innerstaatlichen Recht festgestellt. In dieser Rechtssache hatte ein italienisches Gericht den Gerichtshof gefragt, ob das italienische Gesetz über die Verstaatlichung des Bereichs der Erzeugung und Verteilung von elektrischer Energie mit einigen Bestimmungen des EWG-Vertrags vereinbar sei. Der Gerichtshof führte die Lehre vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts ein, wobei er sich auf die Besonderheit der Gemeinschaftsrechtsordnung berief, die in allen Mitgliedstaaten einheitlich angewandt werden müsse.

1991 entwickelte der Gerichtshof im Urteil Francovich u. a. ein weiteres grundlegendes Konzept, wonach ein Mitgliedstaat gegenüber dem Einzelnen für Schäden haftet, die diesem durch einen Verstoß dieses Staats gegen Gemeinschaftsrecht entstanden sind. Seitdem können Unionsbürger einen Staat, der gegen eine gemeinschaftsrechtliche Bestimmung verstößt, auf Schadensersatz verklagen.

Zwei italienische Bürger, denen ihre in Konkurs gefallenen Arbeitgeber Lohnzahlungen schuldeten, hatten sich mit ihren Klagen darauf berufen, dass der italienische Staat die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers nicht umgesetzt hatte. Auf Vorabentscheidungsersuchen eines italienischen Gerichts stellte der Gerichtshof fest, dass den Einzelnen mit der fraglichen Richtlinie Rechte gewährt werden sollten, die ihnen jedoch durch die Untätigkeit des Staates, der die Richtlinie nicht umgesetzt hatte, versagt worden waren, und ebnete so den Weg für eine Schadensersatzklage gegen den Staat selbst.

Der Gerichtshof im Leben des Unionsbürgers

Von den tausenden Urteilen des Gerichtshofes haben erkennbar die meisten, insbesondere alle in Vorabentscheidungssachen erlassenen Urteile, weit reichende Folgen für das tägliche Leben der Unionsbürger. Einige dieser Urteile zu den wichtigsten Bereichen des Gemeinschaftsrechts werden im Folgenden beispielhaft aufgeführt.

  • Freier Warenverkehr

Seit dem Urteil Cassis de Dijon, das 1979 zum Grundsatz des freien Warenverkehrs erlassen wurde, dürfen Händler jedes Erzeugnis aus einem anderen Land der Union in ihr Land einführen, sofern es dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden ist und seiner Einfuhr in das Verbrauchsland kein zwingender Grund, z. B. des Gesundheits- oder des Umweltschutzes, entgegensteht.

  • Freizügigkeit

In diesem Bereich wurden zahlreiche Urteile erlassen.
Im Urteil Kraus (1993) entschied der Gerichtshof, dass die Situation eines Gemeinschaftsangehörigen, der Inhaber eines in einem anderen als seinem Herkunftsmitgliedstaat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbenen akademischen Grades ist, der den Zugang zu einem Beruf oder die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit erleichtert, auch insofern dem Gemeinschaftsrecht unterliegt, als es um die Beziehungen des Betreffenden zu seinem Herkunftsmitgliedstaat geht. Daher darf ein Mitgliedstaat die Führung dieses Grades in seinem Hoheitsgebiet zwar von einer behördlichen Genehmigung abhängig machen; das Genehmigungsverfahren darf aber nur bezwecken, zu überprüfen, ob dieser Grad ordnungsgemäß verliehen worden ist.
Eines der bekanntesten Urteile in diesem Bereich ist das Urteil Bosman (1995), in dem der Gerichtshof auf Ersuchen eines belgischen Gerichts über die Vereinbarkeit von Regeln von Fußballverbänden mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer entschied. Er stellte fest, dass der Berufssport eine wirtschaftliche Tätigkeit ist, deren Ausübung nicht durch Regeln über den Transfer von Spielern oder die Begrenzung der Anzahl der Spieler, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, behindert werden darf. Die letztgenannte Erwägung wurde in späteren Urteilen auf Berufssportler ausgedehnt, die aus Drittländern stammen, die mit den Europäischen Gemeinschaften durch ein Assoziierungsabkommen (Urteil Deutscher Handballbund, 2003) oder ein Partnerschaftsabkommen (Urteil Simutenkov, 2005) verbunden sind.

  • Freier Dienstleistungsverkehr

Ein Urteil von 1989 über den freien Dienstleistungsverkehr betraf einen britischen Touristen, der in der Pariser Metro überfallen und schwer verletzt worden war. Auf Vorabentscheidungsersuchen eines französischen Gerichts entschied der Gerichtshof, dass der Betroffene als Tourist Empfänger von Dienstleistungen außerhalb seines Landes ist und daher vom gemeinschaftsrechtlichen Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit erfasst wird. Er hat infolgedessen Anspruch auf die gleiche Entschädigung wie ein französischer Staatsangehöriger (Urteil Cowan).
Auf Vorabentscheidungsersuchen luxemburgischer Gerichte entschied der Gerichtshof, dass nationale Rechtsvorschriften, die dazu führten, dass einem Versicherten die Erstattung von Kosten einer Zahnbehandlung versagt wurde, weil diese in einem anderen Mitgliedstaat erbracht worden war, eine unzulässige Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellen (Urteil Kohll, 1998) und dass die Ablehnung der Erstattung von Kosten im Zusammenhang mit dem Erwerb einer Brille im Ausland als eine unzulässige Behinderung des freien Warenverkehrs anzusehen ist (Urteil Decker, 1998).

  • Gleichbehandlung und soziale Rechte

Eine Bordstewardess hatte gegen ihren Arbeitgeber geklagt, weil sie hinsichtlich des Arbeitsentgelts gegenüber ihren männlichen Kollegen, die die gleiche Arbeit verrichteten, diskriminiert worden sei. Auf Vorabentscheidungsersuchen eines belgischen Gerichts entschied der Gerichtshof 1976, dass die Bestimmung des EWG-Vertrags, die den Grundsatz der Gleichheit des Arbeitsentgelts für weibliche und männliche Arbeitnehmer aufstellt, unmittelbare Wirkung hat (Urteil Defrenne).
Mit der Auslegung von gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen über die Gleichbehandlung von Mann und Frau trug der Gerichtshof zum Schutz der Frauen vor Kündigung im Zusammenhang mit der Mutterschaft bei. Weil sie wegen mit ihrer Schwangerschaft verbundener Schwierigkeiten nicht mehr arbeiten konnte, war eine Frau entlassen worden. 1998 erklärte der Gerichtshof diese Kündigung für mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar. Die Entlassung einer Frau während ihrer Schwangerschaft wegen Fehlzeiten, die durch eine mit der Schwangerschaft zusammenhängende Krankheit verursacht worden sind, stellt eine verbotene Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar (Urteil Brown).
Zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer muss diesen ein bezahlter Jahresurlaub zustehen. 1999 beanstandete die britische Gewerkschaft BECTU, dass die britische Regelung, die dieses Recht Arbeitnehmern mit kurzfristigen Arbeitsverträgen vorenthielt, nicht im Einklang mit einer Gemeinschaftsrichtlinie über die Arbeitszeitgestaltung stehe. Der Gerichtshof entschied (Urteil BECTU, 2001), dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ein allen Arbeitnehmern unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsendes soziales Recht ist, das keinem Arbeitnehmer vorenthalten werden darf.

  • Grundrechte

Mit der Feststellung, dass die Wahrung der Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, deren Einhaltung der Gerichtshof zu sichern hat, hat der Gerichtshof erheblich zur einer Erhöhung der Schutzstandards für diese Rechte beigetragen. Dabei lässt er sich von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und den völkerrechtlichen Verträgen über den Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte, leiten, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon kann er die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 anwenden und auslegen, die nach dem Vertrag von Lissabon den gleichen rechtlichen Rang wie die Verträge hat.
Im Anschluss an zahlreiche terroristische Anschläge gegen Polizisten wurde beschlossen, dass die Polizeikräfte in Nordirland Schusswaffen tragen sollen. Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit wurde den bei der Polizei beschäftigten Frauen jedoch (auf der Grundlage einer vom zuständigen Minister ausgestellten und gerichtlich nicht anfechtbaren Bescheinigung) das Tragen von Schusswaffen nicht gestattet. Daraufhin wurde keiner Frau mehr ein Vollzeit-Arbeitsvertrag bei der nordirischen Polizei angeboten. Auf Vorabentscheidungsersuchen eines Gerichts des Vereinigten Königreichs entschied der Gerichtshof, dass der Ausschluss jeglicher richterlichen Befugnis zur Kontrolle einer Bescheinigung einer nationalen Behörde dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes entgegensteht, auf den sich jeder, der sich durch eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts für beschwert hält, berufen kann (Urteil Johnston, 1986).

  • Unionsbürgerschaft

Die Unionsbürgerschaft, die nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union jedem Angehörigen eines Mitgliedstaats zusteht, umfasst nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Recht, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufzuhalten. Demnach hat auch ein minderjähriger Angehöriger eines Mitgliedstaats, der über eine Krankenversicherung und über ausreichende Existenzmittel verfügt, ein solches Aufenthaltsrecht. Der Gerichtshof entschied, dass es nach dem Gemeinschaftsrecht nicht erforderlich ist, dass der Minderjährige selbst über die notwendigen Existenzmittel verfügt und dass die Weigerung, seiner Mutter, die Angehörige eines Drittlands ist, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, dem Aufenthaltsrecht des Kindes jede praktische Wirkung nähme (Urteil Zhu und Chen, 2004).
Im selben Urteil stellte der Gerichtshof klar, dass ein Mitgliedstaat die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats selbst dann nicht beschränken darf, wenn der Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats bezweckt, einem Angehörigen eines Drittstaats ein Aufenthaltsrecht aufgrund des Gemeinschaftsrechts zu verschaffen.