Seit 1952 sorgt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) dafür, dass das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten beachtet und richtig angewandt wird. Im Lauf der Jahre hat er Urteile erlassen, die die europäische Integration gestärkt und den Bürgern, insbesondere jungen Menschen, immer weiter reichende Rechte zugesprochen haben. Auf den folgenden Seiten werden einige wichtige Urteile des Gerichtshofs nach Themen gegliedert dargestellt.
Da immer mehr Studierende einen Teil ihrer Studienzeit in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem eigenen verbringen, wurde der Gerichtshof mit zahlreichen Rechtsstreitigkeiten in diesem Bereich befasst. So musste er folgende Fragen behandeln: Liegt eine Diskriminierung vor, wenn der Zugang zu den Universitäten eines Mitgliedstaats für Studierende aus anderen Mitgliedstaaten beschränkt wird? Kann ein Mitgliedstaat Studierenden aus anderen Mitgliedstaaten bestimmte Beihilfen verweigern? Haben die Kinder von Grenzgängern Rechte in dem Mitgliedstaat, in dem ihre Eltern arbeiten?
2004 stellteder Gerichtshof fest, dass Belgien Abiturienten aus anderen Mitgliedstaaten (wie die Inhaber eines französischen Baccalauréat oder des deutschen Abiturs) diskriminierte, weil diese nicht unter den gleichen Bedingungen wie die belgischen Abiturienten Zugangzumbelgischen Hochschulunterrichthatten(Urteilvom 1. Juli 2004, Kommission/Belgien, C-65/03). Dieselbe Feststellung traf er ein Jahr später, im Jahr 2005, in Bezug auf Österreich (Urteil vom 7. Juli 2005, Kommission/Österreich, C-147/03).
Der Gerichtshof entschied 2010 ferner, dass ein Mitgliedstaat grundsätzlich nicht die Einschreibungen von Studierenden aus anderen Mitgliedstaaten für bestimmte medizinische Studiengänge beschränken kann, es sei denn, eine solche Beschränkung erweist sich aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit als gerechtfertigt. Insoweit muss der Mitgliedstaat mittels zuverlässiger und übereinstimmender Daten nachweisen, dass die Gefahr besteht, dass die Zahl der Absolventen, die in seinem Hoheitsgebiet für die Gewährleistung der Gesundheitsversorgung zur Verfügung steht, zurückgeht (Urteil vom 13. April 2010, Bressol u. a., C-73/08).
Ein Mitgliedstaat kann Studierenden, die in seinem Hoheitsgebiet wohnen und die Bedingungen erfüllen, um sich dort aufhalten zu dürfen, ein Studentendarlehen oder Stipendium nicht verweigern (Urteil vom 15. März 2005, Bidar, C-209/03). Er darf diese Darlehen oder Stipendien allerdings Studierenden vorbehalten, die nachweisen, dass sie sich bis zu einem gewissen Grad in seine Gesellschaft integriert haben, und die sich somit eine gewisse Zeit in seinem Hoheitsgebiet aufgehalten haben. 2008 entschied der Gerichtshof insoweit, dass das Erfordernis eines fünfjährigen Aufenthalts unionsrechtskonform ist (Urteil vom 18. November 2008, Förster, C-158/07).
2012 stellte der Gerichtshof fest, dass Österreich Studierende aus anderen Mitgliedstaaten diskriminierte, da nur Studierende, deren Eltern österreichische Familienbeihilfen bezogen, Fahrpreisermäßigungen erhalten konnten (Urteil vom 4. Oktober 2012, Kommission/Österreich, C-75/11).
2013 erklärte der Gerichtshof, dass ein Mitgliedstaat (in diesem Fall Luxemburg) Kindern von Grenzgängern nicht systematisch Stipendien verweigern kann, auch wenn sie nicht in seinem Hoheitsgebiet wohnen. Eine hinreichende Bindung zu diesem Staat besteht nämlich schon dann, wenn die Eltern (oder ein Elternteil) seit längerer Zeit in dem fraglichen Mitgliedstaat arbeiten (Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a., C-20/12).
Der Gerichtshof stellte außerdem fest, dass Kinder von Grenzgängern in den Niederlanden diskriminiert wurden, weil die Beihilfe für ein Auslandsstudium dort Studierenden vorbehalten war, die mindestens drei der sechs vorangegangenen Jahre in den Niederlanden gewohnt haben. Dieses Wohnsitzerfordernis hatte nach Ansicht des Gerichtshofs eine zu starke Ausschlusswirkung (Urteil vom 14. Juni 2012, Kommission/Niederlande, C-542/09).
In Zeiten von IT und Internet sind die Wahrung der Privatsphäre und der Schutz personenbezogener Daten äußerst sensible Themen. Der Gerichtshof hat auf diesem Gebiet insbesondere zwei Fragen beantwortet: Gibt es ein Recht auf Vergessenwerden in Suchmaschinen, und sind die personenbezogenen Daten der Unionsbürger in und über die Union hinaus ausreichend geschützt?
2014 stellte der Gerichtshof fest, dass es bei Suchmaschinen ein „Recht auf Vergessenwerden" gibt. Eine Person, die möchte, dass ein Link zu Informationen über ihr Privatleben nach einer Suche mit ihrem Namen nicht mehr erscheint, kann vom Betreiber der Suchmaschine – und bei dessen Weigerung von der zuständigen Behörde – verlangen, diesen Link aus der Ergebnisliste zu entfernen. Der Gerichtshof wies jedoch darauf hin, dass das Recht der Öffentlichkeit auf Informationen einem Löschungsantrag entgegenstehen kann (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C-131/12).
Der Gerichtshof erklärte ferner 2015 die Entscheidung der Europäischen Kommission, mit der sie Facebook erlaubt hatte, personenbezogene Daten ihrer europäischen Nutzer in die USA zu übermitteln, insbesondere deshalb für nichtig, weil diese Entscheidung keinen angemessenen Schutz gegen den Zugang der amerikanischen Behörden zu den aus den Ländern der Union übermittelten Daten gewährleistete (Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C-362/14).
Drei Milliarden Passagiere benutzen jedes Jahr das Flugzeug. Der Gerichtshof hat sich mit ihren Rechten befasst und insbesondere eine immer wieder auftretende Frage beantwortet: In welchen Fällen und unter welchen Bedingungen muss eine Fluggesellschaft Fluggäste entschädigen?
2009 entschied der Gerichtshof, dass Fluggäste, deren Flug eine Verspätung von drei Stunden oder mehr hat, ebenso wie Fluggäste annullierter Flüge einen Ausgleichsanspruch haben, es sei denn, die Fluggesellschaft kann nachweisen, dass die Verspätung auf außergewöhnlichen Umständen beruht, die von ihr tatsächlich nicht zu beherrschen sind (Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon, C-402/07). Der Gerichtshof stellte sodann klar, dass die Kollision eines Treppenfahrzeugs mit einem Flugzeug sowie die meisten unvorhergesehenen technischen Probleme keine außergewöhnlichen Umstände sind und damit den Ausgleichsanspruch nicht ausschließen (Urteile vom 14. November 2014, Siewert u. a., C-394/14, und vom 17. September 2015, van der Lans, C-257/14).
Der Gerichtshof entschied 2014 außerdem, dass die tatsächliche Ankunftszeit des Fluges der Zeitpunkt ist, zu dem mindestens eine der Flugzeugtüren geöffnet wird. Denn erst wenn den Fluggästen das Verlassen des Flugzeugs gestattet ist, können sie sich wieder uneingeschränkt betätigen (Urteil vom 4. September 2014, Germanwings, C-452/13).
In welchem Umfang können Abbildungen auf der Verpackung eines Lebensmittels und Angaben zum niedrigen Salzgehalt eines Mineralwassers den Verbraucher irreführen? Dies sind zwei Fragen, die der Gerichtshof kürzlich in zwei von vielen Urteilen zum Verbraucherschutz beantwortet hat.
2015 wies der Gerichtshof darauf hin, dass die Verbraucher über korrekte, neutrale und objektive Informationen verfügen müssen. Lässt also die Verpackung eines Erzeugnisses den Eindruck entstehen, dass eine Zutat enthalten ist, die tatsächlich nicht enthalten ist, kann der Käufer in die Irre geführt werden, auch wenn das Verzeichnis der Zutaten richtig ist. Dies war bei einem Früchtetee der Fall, dessen Verpackung Abbildungen von Himbeeren und Vanilleblüten aufwies, obwohl der Tee keine natürliche Zutat dieser Früchte enthielt (Urteil vom 4. Juni 2015, Teekanne, C-195/14).
Ebenfalls im Jahr 2015 bestätigte der Gerichtshof, dass der auf der Verpackung von Mineralwasserflaschen angegebene Natriumgehalt der Gesamtmenge an Natrium in allen seinen Formen entsprechen muss (Tafelsalz und Natriumbicarbonat). Der Verbraucher könnte nämlich irregeführt werden, wenn ein Wasser als kochsalzarm dargestellt wird, obwohl es reich an Natriumbicarbonat ist (Urteil vom 17. Dezember 2015, Neptune Distribution, C-157/14).
Da das Unionsrecht viele verschiedene Sachgebiete erfasst, kommt es nicht selten vor, dass sich der Gerichtshof mit Fragen zu Gesellschaft und Gesundheit befassen muss. Insbesondere hatte der Gerichtshof diese beiden Fragen zu beantworten: Kann ein gleichgeschlechtlicher Lebenspartner eine Witwerrente beanspruchen, und können sich Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem eigenen ärztlich behandeln lassen?
Bereits 1998 erklärte der Gerichtshof, dass sich Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem eigenen ärztlich behandeln lassen und eine Erstattung nach den Tarifen ihres Versicherungsstaats (des Staates, in dem sie krankenversichert sind) erlangen können. Dem lag zugrunde, dass sich die luxemburgische Krankenkasse geweigert hatte, zwei Luxemburgern die Kosten für eine in Belgien gekaufte Brille bzw. eine zahnärztliche Behandlung in Deutschland zu erstatten (Urteile vom 28. April 1998 , Decker, C-120/95, und Kohll, C-158/96). Krankenhausbehandlungen in einem anderen Mitgliedstaat setzen zwar eine vorherige Genehmigung des Versicherungsstaats voraus, dürfen jedoch nicht willkürlich verweigert werden. Insbesondere kann sich eine Person in einem anderen Mitgliedstaat operieren lassen, wenn die Operation in ihrem eigenen Mitgliedstaat nicht innerhalb einer in Anbetracht ihres Gesundheitszustands angemessenen Frist durchgeführt werden könnte (Urteile vom 12. Juli 2001, Smits und Peerbooms, C-157/99, und vom 16. Mai 2006, Watts, C-372/04).
2008 entschied der Gerichtshof, dass die Weigerung, einem homosexuellen Lebenspartner eine Witwerrente zu gewähren, eine unmittelbare Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung begründet, da sich der überlebende Lebenspartner in einer Situation befindet, die mit der eines überlebenden Ehegatten vergleichbar ist. In diesem Fall hatte der deutsche Versorgungsträger einem Mann, dessen eingetragener Lebenspartner gestorben war, eine Witwerrente verweigert (Urteil vom 1. April 2008, Maruko, C-267/06).
Schon mehrfach hatte der Gerichtshof Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, die den Sport, insbesondere das Recht auf Informationen und die Zugänglichkeit der Übertragungen von Sportwettbewerben, betrafen.
Bereits 1995 stellte der Gerichtshof fest, dass Fußballer Arbeitnehmer sind, die sich damit nach Ablauf ihres Vertrags frei bei einem Verein ihrer Wahl verpflichten können, ohne dass von ihrem neuen Verein eine Entschädigung verlangt werden dürfte. Seit diesem Urteil können die Fußballvereine bei nationalen Meisterschaftsspielen Mannschaften aufstellen, bei denen kein Spieler die Staatsangehörigkeit des Landes besitzt, in dem die Meisterschaft stattfindet (Urteil vom 15. Dezember 1995, Bosman, C-415/93).
Der Gerichtshof bestätigte ferner 2013, dass die Mitgliedstaaten die freie Fernsehübertragung der Spiele der Fußballweltmeisterschaft und der EURO vorschreiben dürfen (Urteilvom 18. Juli 2013, UEFA und FIFA/Kommission, C-201/11 u. a.). Ebenfalls im Jahr 2013 entschied der Gerichtshof, dass die Behörden die Kosten für die Kurzberichterstattung über Fußballspiele beschränken dürfen, damit die Fernsehsender kurze Infoberichte zu geringeren Kosten erstellen können (Urteil vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C-283/11).
Der Gerichtshof hat häufig Gelegenheit, sich mit umweltschutzrechtlichen Fragen zu befassen, da die Union auf diesem Gebiet zahlreiche Rechtsakte erlassen hat. So hat er bereits über den Schutz vieler Tierarten (Vögel, Schildkröten, Hamster, Luchs usw.), die Abfall- und Abwasserbehandlung, die Einhaltung von Grenzwerten für Stickstoffoxid, die Regeln für den Handel mit Robbenerzeugnissen und über Treibhausgasemissionszertifikate entschieden.
Im Rahmen des Verfahrens wegen „doppelter Vertragsverletzung" (d. h., wenn ein Mitgliedstaat ein gegen ihn ergangenes erstes Urteil nicht durchgeführt hat) hat der Gerichtshof teilweise hohe Geldstrafen gegen Mitgliedstaaten verhängt, die seine Urteile zum Umweltschutz nicht durchgeführt hatten. So wurde der höchste Pauschalbetrag (40 Millionen Euro) 2014 gegen Italien wegen Verstoßes gegen die Rechtsvorschriften der Union über die Abfallbewirtschaftung verhängt (Urteil vom 2. Dezember 2014, Kommission/Italien, C-196/13). Das höchste Zwangsgeld (57,77 Millionen Euro pro Verzugsmonat) wurde 2005 gegen Frankreich verhängt, weil es die Befischung bestimmter Fischbestände nicht ordnungsgemäß kontrolliert hatte (Seehechte, die die von der Union vorgeschriebene Mindestgröße nicht erreichten, Urteil vom 12. Juli 2005, Kommission/Frankreich, C-304/02).